Betreuungsurlaub für Eltern gesundheitlich schwer beeinträchtigter Kinder

Eltern erhalten ab dem 1. Juli 2021 einen 14-wöchigen Betreuungsurlaub, wenn sie ihr gesundheitlich schwer beeinträchtigtes Kind betreuen und deswegen ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen müssen. Während des Betreuungsurlaubs wird eine über die Erwerbsersatz­ordnung (EO) finanzierte Betreuungsentschädigung ausbezahlt.
Andrea Künzli
  |  04. Juni 2021
    Recht und Politik
  • Erwerbsersatzordnung
  • Familie

Das Gesundheitswesen kann den zunehmenden Betreuungs- und Pflegebedarf nicht allein abdecken. Angehörige übernehmen hier unverzichtbare Aufgaben. Für sie ist es aber häufig sehr schwierig, Betreuungsaufgaben und Erwerbstätigkeit unter einen Hut zu bringen. Deshalb hat das Parlament die Bedingungen für betreuende und pflegende Angehörige mit konkreten Massnahmen verbessert. Sie sind in einem Mantelerlass zusammengefasst (AS 2020 4525). Während die Präzisierung und Erweiterung der Lohnfortzahlung bei kurzzeitigen Arbeitsabwesenheiten (Art. 329h OR), die Ausweitung der Betreuungsgutschriften (Art. 29septies Abs. 1 AHVG) sowie die Fortzahlung von Hilflosenentschädigung und Intensivpflegezuschlag bei Spitalaufenthalten (Art. 42bis Abs. 4 IVG) (Sauvain 2020, S. 53.) bereits seit Anfang 2021 in Kraft sind, wird der Urlaub für die Betreuung eines wegen Krankheit oder Unfall gesundheitlich schwer beeinträchtigten Kindes (Art. 329i OR) auf den 1. Juli 2021 umgesetzt.

Eckwerte Der Betreuungsurlaub dauert maximal 14 Wochen und ist innerhalb einer Rahmenfrist von 18 Monaten am Stück, tage- oder wochenweise zu beziehen. Betroffene Eltern können ihre Erwerbstätigkeit zur Betreuung ihres gesundheitlich schwer beeinträchtigten Kindes unterbrechen und haben in dieser Zeit Anspruch auf eine Betreuungsentschädigung. Gleichzeitig besteht ein Kündigungsschutz von sechs Monaten ab Anspruchsbeginn (Art. 336c Abs. 1 Bst. cter OR). Ausserdem dürfen die Ferien nicht gekürzt werden, wenn die Eltern den Betreuungsurlaub beziehen (Art. 362 Abs. 1 OR).

Anspruchsbedingungen Die Betreuungsentschädigung ist Eltern vorbehalten, deren minderjähriges Kind wegen der schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung einen erhöhten Bedarf an Betreuung hat. Um die Anspruchsbedingungen möglichst präzise zu fassen, hat der Gesetzgeber geregelt, was unter einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung zu verstehen ist, welche Abgrenzungen beim Erwerbsstatus der betroffenen Eltern allenfalls zu ziehen sind und wie das Eltern–Kind-Verhältnis zu bewerten ist.

Gesundheitliche Beeinträchtigung Eltern haben Anspruch auf den Betreuungsurlaub, wenn ihr Kind gesundheitlich schwer beeinträchtigt im Sinne von Artikel 16o Buchstabe a bis d Erwerbsersatzgesetz (EOG) ist. Das Gesetz enthält bewusst keine Definition der schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung. Vielmehr will es die gesamte Bandbreite schwerer gesundheitlicher Beeinträchtigungen umfassen. Das Kind ist gesundheitlich schwer beeinträchtigt, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:

  • Es ist eine einschneidende Veränderung seines körperlichen oder psychischen Zustandes eingetreten: Damit ist in erster Linie der Eintritt einer akuten Krankheitssituation gemeint. Aber auch die schleichende Verschlimmerung des Gesundheitszustandes, die ab einer bestimmten Intensität eine Betreuung erfordert, oder die akute Verschlechterung des Gesundheitszustandes bei einem chronisch kranken Kind.
  • Der Verlauf oder der Ausgang dieser Veränderung ist schwer vorhersehbar oder es ist mit einer bleibenden oder zunehmenden Beeinträchtigung oder dem Tod zu rechnen.
  • Es besteht ein erhöhter Bedarf an Betreuung durch die Eltern: Das Kind ist auf die enge Betreuung durch mindestens einen Elternteil angewiesen. Mit Betreuung ist auch Beistehen bei Besprechungen, Arzt- oder Spitalbesuchen gemeint und schliesst auch Phasen ein, in denen sich die Betreuung auf das Beistehen beschränkt, während die konkrete Pflege und Betreuung von Fachpersonen vorgenommen werden. Das Ausmass der Betreuung ist wesentlich von der Schwere und Art der gesundheitlichen Beeinträchtigung, vom Alter des Kindes und von der Familiensituation bestimmt. Schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen verlangen eine intensive Betreuung durch die Eltern. Die gesundheitliche Beeinträchtigung bedingt eine stationäre oder ambulante ärztliche Behandlung des Kindes über eine längere Dauer (mehrere Monate).
  • Mindestens ein Elternteil muss die Erwerbstätigkeit für die Betreuung des Kindes unterbrechen: Es ist keine Mindestanzahl an bestimmten Betreuungshandlungen oder Betreuungsstunden pro Tag erforderlich.

Erwerbsstatus Anspruch auf den Betreuungsurlaub haben neben Arbeitnehmenden oder Selbstständigerwerbenden unter bestimmten Bedingungen auch arbeitslose oder arbeitsunfähige Eltern.

Arbeitslose Eltern können den 14-wöchigen Betreuungsurlaub beanspruchen, wenn sie bis zu Beginn ihres Entschädigungsanspruchs, also bis zum Tag, für den sie eine Betreuungsentschädigung geltend machen, ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung (ALV) bezogen haben.

Arbeitsunfähige Eltern haben Anspruch auf die Entschädigung, wenn sie bis zu Beginn ihres Entschädigungsanspruchs, also bis zum Tag, für den sie eine Betreuungsentschädigung geltend machen, eine Entschädigung für Erwerbsausfall bei Krankheit oder Unfall einer Sozial- oder Privatversicherung oder Taggelder der Invalidenversicherung (IV) bezogen haben. Hat der arbeitsunfähige Elternteil den Anspruch auf Lohnfortzahlung bereits ausgeschöpft, besteht ein Anspruch auf die Betreuungsentschädigung, wenn der Elternteil noch in einem gültigen Arbeitsverhältnis steht.

Eltern–Kind-Verhältnis Anknüpfungspunkt für das Eltern–Kind-Verhältnis, das gegeben sein muss, um einen Anspruch auf Betreuungsurlaub zu begründen, bildet das Kindesverhältnis nach Artikel 252 ZGB. Der Zivilstand der Eltern ist folglich unerheblich.

Pflegeeltern haben Anspruch auf die Entschädigung, wenn sie das Pflegekind zu dauernder Pflege und Erziehung aufgenommen haben. Der Anspruch der Pflegeeltern erlischt, wenn das Pflegekind zu einem Elternteil zurückkehrt.

Ein Stiefelternteil hat Anspruch auf die Entschädigung, wenn kumulativ folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

  • Sie oder er führt mit dem Elternteil, unter dessen elterlicher Sorge und Obhut sich das Kind befindet, einen gemeinsamen Haushalt und steht ihm bei der Pflege und Erziehung des Kindes in angemessener Weise bei.
  • Ein Elternteil verzichtet auf seinen Anspruch, sofern das Kindesverhältnis zu beiden Elternteilen besteht.

Aufteilung unter den Eltern Die Eltern können den Betreuungsurlaub frei unter sich aufteilen. Wenn sie sich nicht einigen können, hat jeder Elternteil Anspruch auf sieben Wochen Betreuungsurlaub. Den Eltern steht es frei, den Urlaub gleichzeitig zu beziehen. Um die Interessen des Arbeitgebers so weit wie möglich zu wahren, ist dieser über die Aufteilung des Urlaubs und die vorgesehenen Bezugstage in Kenntnis zu setzen. Das Gleiche gilt, wenn sich Anpassungen der Modalitäten ergeben.

Rahmenfrist Die Rahmenfrist von 18 Monaten beginnt an dem Tag zu laufen, für den der erste Elternteil eine Betreuungsentschädigung bezieht. Sie ist an das Kind gebunden und verschiebt sich nicht, wenn ein Elternteil später als der erstbeziehende eine Betreuungsentschädigung beansprucht. Bei mehreren anspruchsbegründenden Kindern löst jedes einzelne eine Rahmenfrist aus. Erleidet das Kind einen Rückfall oder tritt ein neues Ereignis ein, beginnt eine neue Rahmenfrist.

Berechnung und Höhe Für die Berechnung der Betreuungsentschädigung ist das durchschnittliche Einkommen massgebend, das der jeweilige Elternteil unmittelbar vor dem Bezug der entsprechenden Urlaubstage erzielt hat. Die Entschädigung beläuft sich auf 80 Prozent dieses Einkommens, höchstens aber auf 196 Franken pro Tag. Indem zur Berechnung auf das durchschnittliche Einkommen unmittelbar vor Bezug des Urlaubs abgestellt wird, können Veränderungen im Einkommen berücksichtigt werden, die während der 18-monatigen Rahmenfrist auftreten. Die Einkommen der Eltern werden für die Berechnung der Entschädigung nicht addiert; die Auszahlung erfolgt gesondert.

Anmeldung und Durchführung Der Anspruch auf die Betreuungsentschädigung ist bei der zuständigen AHV-Ausgleichskasse geltend zu machen. Diese prüft die Anspruchsvoraussetzungen. Dabei ist sie an das ärztliche Attest, das die gesundheitliche Beeinträchtigung des Kindes bestätigt und Bestandteil der Anmeldung ist, gebunden. Sie muss also nicht prüfen, ob die medizinischen Voraussetzungen erfüllt sind. Mit der Beantragung der Betreuungsentschädigung bei der Ausgleichskasse, bestätigt der Arbeitgeber die Glaubwürdigkeit des Arztzeugnisses. Er kann zu gegebener Zeit ein neues verlangen.

Nach erfolgter Anmeldung reichen der Arbeitgeber oder die Durchführungsorgane der ALV bei der zuständigen Ausgleichskasse monatlich eine Bescheinigung über die bezogenen Urlaubstage ein. Gestützt auf diese Meldungen berechnet die AHV-Ausgleichskasse die Betreuungsentschädigung und prüft, wie viele Tage Betreuungsurlaub noch bezogen werden können. Diese Informationen teilt sie den Eltern und dem Arbeitgeber oder den zuständigen Durchführungsorganen der ALV mit.

Für beide Elternteile ist nur eine Ausgleichskasse zuständig. Die Zuständigkeit verbleibt bei der Ausgleichskasse, die vor Beginn des ersten Entschädigungsanspruchs die AHV-Beiträge erhoben hat. Das gilt auch nach einem Arbeitgeberwechsel eines oder beider Elternteile.

Der Betreuungsurlaub entlastet betroffene Eltern. Sie können sich um ihre kranken Kinder kümmern, ohne den Verlust der Arbeitsstelle oder eine empfindliche Erwerbseinbusse befürchten zu müssen. Die Lage betroffener Familien verbessert sich somit ab dem 1. Juli 2021 deutlich, auch wenn der Urlaub nicht in allen Fällen die ganze Zeit abdecken kann, die zur Betreuung notwendig wäre.

Rechtsanwältin MLaw, Leistungen AHV/EO/EL, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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