«Eingliederung vor Rente 2.0»

Fernanda Benz
  |  09. Juni 2022
    Recht und Politik
  • Invalidenversicherung

Seit 2008 stärkt die Invalidenversicherung (IV) das Ziel «Eingliederung vor Rente». Diese Stossrichtung verfolgt auch die Weiterentwicklung der IV, insbesondere mit Fokus auf Jugendliche und Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen.

Auf einen Blick

  • Die Weiterentwicklung der IV optimiert und ergänzt die bestehenden beruflichen Eingliederungsmassnahmen der IV.
  • Die Fallführung der IV-Stellen wird (noch) wichtiger, durchgehender und koordinierter – durch explizite Verankerung in der Verordnung.
  • Früherfassung, Vorbereitung und Orientierung am ersten Arbeitsmarkt optimieren die berufliche Eingliederung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit gesundheitlichen Einschränkungen.
  • Durch eine intensivere Beratung und Begleitung, flexibilisierte und zusätzliche Massnahmen werden Erwachsene mit psychischen Erkrankungen zielgerichteter unterstützt.

Seit 2008 richten Parlament und Bundesrat die Invalidenversicherung (IV) mit Gesetzesrevisionen verstärkt auf den Grundsatz «Eingliederung vor Rente» aus. Verschiedene Evaluationen zeigten messbare Wirkungen der Revisionen, identifizierten aber auch Lücken. Ersichtlich wurde ein Optimierungsbedarf vor allem bei den Eingliederungsbemühungen für junge Versicherte und für Personen mit psychischen Beeinträchtigungen sowie in der Zusammenarbeit der beteiligten Akteure (z.B. Schmidlin/Borer 2017, Baer et al. 2015, Guggisberg et al. 2015). Die Weiterentwicklung der IV (WEIV) wirkt diesen Lücken entgegen – durch die Verstärkung der Fallführung bzw. Beratung und Begleitung und eine optimierte Palette an Eingliederungsmassnahmen für Jugendliche und Erwachsene mit psychischen Erkrankungen.

Fallführung

Die Fallführung (Art. 41a IVV) ist der Rahmen, der alle Massnahmen und involvierten Akteure verbindet und koordiniert. Seit dem 1.1.2022 begleiten die IV-Stellen versicherte Personen durchgehend während des gesamten IV-Verfahrens, d.h. ab der Anmeldung bis maximal drei Jahre nach der (Wieder-)Eingliederung. Das bedeutet, dass die Fallführung in einigen Fällen bereits bei der Zusprache von medizinischen Massnahmen für Kinder mit Geburtsgebrechen beginnt. Unabhängig vom Zeitpunkt des Beginns orientiert sich die Fallführung durch die IV-Stellen immer am Prinzip des Case Managements. Die Koordination von Arbeitgebenden, Ärzten und Fachpersonen aus der Bildungslandschaft ist ein zentraler Aspekt. Ein weiterer Fokus der Fallführung liegt auf den Übergängen, z.B. von der Schule in die Berufsbildung oder von der Rente in die Eingliederung.

Um Jugendliche und Erwachsene mit psychischen Erkrankungen bei der beruflichen Eingliederung noch enger zu begleiten, führt die WEIV die Massnahme Beratung und Begleitung (Art. 14quater IVG) ein. Die IV-Stelle vertieft mit dieser Massnahme ihre Fallführung. Ist eine vorübergehend intensivere Begleitung zur Lösung einer spezifischen Frage nötig, kann die IV-Stelle diese Begleitung spezialisierten Leistungserbringern (z.B. Coaches für bestimmte Beeinträchtigungen etc.) in Auftrag geben. Mit Beratung und Begleitung wird die IV den besonderen Bedürfnissen von Jugendlichen oder Menschen mit psychischen Erkrankungen besser gerecht.

Schliesslich verfolgt die gesetzliche Verankerung der Eingliederungsorientierten Beratung (Art. 3a IVG) das Ziel, Arbeitgeber oder Fachpersonen aus der Bildung besser und einfacher über die IV und ihre Eingliederungsmöglichkeiten zu informieren. Wie eine aktuelle Befragung erneut aufzeigte, verfügen vor allem kleinere und mittlere Betriebe in der Schweiz immer noch über zu wenig Informationen und Kontakte zur IV (Buess/Vogel 2022). Die eingliederungsorientierte Beratung ist ohne Anmeldung bei der IV und fallunabhängig möglich und dient damit Informationszwecken.

Jugendliche und junge Erwachsene

Die Übergänge von der Schule zur Berufsausbildung und von der Ausbildung in den Arbeitsmarkt stellen junge Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen vor besondere Herausforderungen. Deshalb unterstützt die IV junge Menschen zwischen 13 und 25 Jahren, die ein Invaliditätsrisiko und keine bis wenig Erwerbserfahrung aufweisen, mit neuen Instrumenten.

Früherfassung und Frühintervention: Die Fachwelt ist sich einig, dass psychische Erkrankungen bei jungen Menschen so früh wie möglich erkannt und behandelt werden sollten. In vielen Kantonen existieren Koordinationsstellen, die junge Menschen unterstützen, die Probleme bei ihrem Berufseinstieg aufweisen. Diese Stellen können 13-25-Jährige mit Invaliditätsrisiko seit dem 1.1.2022 direkt der IV-Stelle melden – im Rahmen der Früherfassung (Art. 3abis IVG). Ziel: Die IV tritt früher in Kontakt mit den Betroffenen und kann die richtigen Schritte für eine erfolgreiche berufliche Eingliederung einleiten. Durch die neue Möglichkeit der Mitfinanzierung seitens IV (Art. 68bis IVG) verfügen diese kantonalen Stellen über mehr Personalressourcen für die Früherfassung. Ist eine Anmeldung an die IV erfolgt, soll diese rasch und unkompliziert Frühinterventionsmassnahmen (Art. 7d IVG) sprechen und damit Abbrüche von Ausbildungen oder von kantonalen Brückenangeboten verhindern. Während der obligatorischen Schulzeit unterstützen die IV-Stellen junge Menschen mit Invaliditätsrisiko mit einer spezialisierten Berufsberatung oder bei der Lehrstellensuche, für die Bildung selbst bleibt der Kanton zuständig.

Vorbereitungsmassnahmen: Zum Teil erfüllen junge Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen die Anforderungen für eine erstmalige berufliche Ausbildung noch nicht. Für sie stehen nach der obligatorischen Schulzeit je nach Bedarf Vorbereitungsmassnahmen zur Auswahl:

  • Mit Integrationsmassnahmen (Art. 14a IVG) wird versucht, die Persönlichkeit zu stabilisieren, die Präsenz- und Leistungsfähigkeit der jungen Menschen aufzubauen und letztere (wieder) an den Arbeitsalltag zu gewöhnen.
  • Mit vorbereitenden Massnahmen der Berufsberatung (Art. 15 IVG) probieren die Betroffenen konkrete Berufsrichtungen in der Praxis aus. Dabei lernen sie die Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes und der gewählten Berufsrichtung kennen.
  • Im Rahmen der spezialisierten kantonalen Brückenangeboten (Art. 68bis IVG) werden bestehende Brückenangebote des Kantons durch die Mitfinanzierung der IV für Jugendliche mit gesundheitlichen Einschränkungen zugänglicher.
  • Ist die Berufswahl getroffen, der Beginn der Ausbildung aber noch nicht möglich, werden die noch fehlenden Kompetenzen in der gezielten Vorbereitung (Art. 16 IVG)

Erstmalige berufliche Ausbildung: Im Zentrum aller Eingliederungsbemühungen für junge Menschen steht die erstmalige berufliche Ausbildung im ersten Arbeitsmarkt (Art. 16 IVG). Wann immer möglich, suchen IV-Stellen und Jugendliche einen Ausbildungsplatz in einem Betrieb des ersten Arbeitsmarktes und im Rahmen einer regulären Berufsbildung. Ist eine Ausbildung vorerst nur im geschützten Rahmen möglich, kann die IV-Stelle im Anschluss eine Ausbildung auf höherem Niveau im ersten Arbeitsmarkt zusprechen, sofern das nötige Potenzial vorhanden ist. Damit soll verhindert werden, dass Jugendliche nur dank intensiver Unterstützung eine Ausbildung auf zu hohem Niveau absolvieren.

Neu wird das Taggeld der IV zudem ab Ausbildungsbeginn, dem Arbeitgeber und – bei Ausbildungen nach Berufsbildungsgesetz – in Höhe des üblichen Ausbildungslohnes ausbezahlt. Dieser bezahlt damit den Ausbildungslohn. Dadurch werden die Jugendlichen ihren gesunden Kolleginnen und Kollegen gleichgestellt. Bei Ausbildungen zur Vorbereitung auf eine Hilfstätigkeit oder eine Tätigkeit im geschützten Rahmen (sogenannte praktische Ausbildungen) richtet die IV einen festgelegten Betrag aus. Diese Anreize sollen Betriebe darin unterstützen, (mehr) Jugendliche mit gesundheitlichen Einschränkungen auszubilden.

Erwachsene mit psychischen Erkrankungen

Psychische Erkrankungen sind die häufigste Ursache für eine IV-Rente. Die Anzahl der Personen, die wegen einer psychischen Erkrankung ihre Erwerbsfähigkeit verlieren, bleibt hoch. Die WEIV begegnet dieser Entwicklung mit verschiedenen Instrumenten.

Mit der bereits erläuterten eingliederungsorientierten Beratung wird für Personen mit psychischen Erkrankungen und für ihre Arbeitgeber der Zugang zu Informationen vereinfacht. Ferner können Arbeitgeber Mitarbeitende mit einer möglichen psychischen Erkrankung rascher via Früherfassung bei der IV-Stelle melden. Die bisherige Voraussetzung der 30-tägigen Arbeitsunfähigkeit fällt weg. Betriebe und versicherte Personen werden unterstützt, bevor es zu einem Ausscheiden aus der Arbeit kommt. Zudem begleiten die IV-Stellen versicherte Personen und ihre Arbeitgeber nach einer Anmeldung bei der IV im Rahmen der Fallführung und der Beratung und Begleitung enger, kontinuierlicher und langfristiger.

Integrationsmassnahmen (Art. 14a IVG) bauen die verbliebene Arbeitsfähigkeit wieder auf. Da psychische Erkrankungen auch zu einem späteren Zeitpunkt des Erwerbslebens wiederauftauchen können, lässt das revidierte Gesetz eine erneute Zusprache von Integrationsmassnahmen zu. Wie neue Studien bestätigen, ist die berufliche Eingliederung erfolgreicher, wenn ein Teil der Integrationsmassnahmen im ersten Arbeitsmarkt durchgeführt wird (Schmidlin et al. 2020). Deshalb werden Integrationsmassnahmen seit dem 1.1.2022 stärker am ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet, beispielsweise als Arbeitstraining.

Schliesslich wurden die beruflichen Eingliederungsmassnahmen der IV um den Personalverleih (Art. 18abis IVG) ergänzt. Die versicherte Person wird von einem Personalverleiher angestellt und arbeitet verleihweise in einem Einsatzbetrieb des erstens Arbeitsmarktes. Die IV entschädigt den Personalverleiher für dessen Leistungen wie z.B. die Suche und Vermittlung eines Einsatzplatzes oder die administrative Abwicklung und Betreuung des Einsatzes. Das ermöglicht dem Arbeitgeber, eine potenzielle Arbeitskraft ohne Verpflichtungen und administrativen Aufwand kennenzulernen. Die versicherte Person wiederum übt eine bezahlte Tätigkeit im ersten Arbeitsmarkt aus, erhöht ihre Chance für eine Anstellung und sammelt zusätzliche Berufserfahrungen.

Eingliederung vor Rente 2.0

Die Weiterentwicklung der IV optimiert die bereits bestehende Eingliederungstätigkeit der IV. Vor der Anmeldung bei der IV sind die eingliederungsorientierte Beratung und die Früherfassung Teil der Eingliederung 2.0. Nach der Anmeldung bei der IV sind dies die optimierten Eingliederungsmassnahmen und die Fallführung, inklusive Beratung und Begleitung. Die Eingliederungsmassnahmen umfassen Vorbereitung, Ausbildung und Vermittlung (vgl. Grafik). Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Nähe zur Eingliederung in die Arbeitswelt (horizontale Achse) und bezüglich der Anforderungen an die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person (vertikale Achse). Fallführung sowie Beratung und Begleitung stellen eine durchgängige Begleitung ab Anmeldung sicher.

Für eine erfolgreiche berufliche Eingliederung reicht jedoch eine Optimierung der Massnahmen der IV nicht aus. Es bedarf auch des Engagements von Unternehmen des ersten Arbeitsmarktes und der Mitarbeit der Ärztinnen und Ärzte beziehungsweise aller involvierten Akteure.

Literaturverzeichnis

Baer, Niklas; Altwicker-Hàmori, Szilvia; Juvalta, Sibylle; Frick, Ulrich; Rüesch, Peter (2015): Profile von jungen IV-Neurentenbeziehenden mit psychischen Krankheiten. Bern: BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 19/15.

Bolliger, Christian; Féraud, Marius (2015): Zusammenarbeit zwischen IV-Stelle und behandelndem Arzt: Formen, Instrumente und Einschätzungen der Akteure. Bern: BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 5/15.

Buess, Michael; Vogel, Raphael (2022): Arbeitgeberbefragung zur Wahrnehmung der IV und ihrer Instrumente. Bern: BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 3/22.

Guggisberg, Jürg; Bischof, Severin; Jäggi, Jolanda; Stocker, Désirée (2015): Evaluation der Eingliederung und der eingliederungsorientierten Rentenrevision der Invalidenversicherung. Bern: BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 18/15.

Schmidlin, Sabina; Bühlmann, Eva; Muharremi, Fitore; Kobelt, Emilienne (2020): Evaluation der Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung. Bern: BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 17/20.

Schmidlin, Sabina; Borer, Jonas (2017): Angebote am Übergang I für Jugendliche mit gesundheitlichen Einschränkungen. Bern: BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 9/17.

lic.rer.soc., Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Berufliche Integration, Geschäftsfeld IV, BSV
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