Gute Betreuung im Alter

Immer mehr Menschen erreichen ein hohes Alter und benötigen bei wachsender Hilfsbedürftigkeit zu Hause oder im Heim eine Betreuung. In der alterspolitischen Debatte erhält dieses Thema bisher noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit.
Carlo Knöpfel, Riccardo Pardini
  |  13. März 2019
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Pflege ohne Betreuung ist nicht denkbar, Betreuung ohne Pflege hingegen schon. Im Sozialrecht gibt es noch keine klaren Regelungen dafür, was unter guter Betreuung im Alter zu verstehen ist. Vielmehr ist es heute üblich, dass Betagte die benötigte Betreuung entweder von ihrem sozialen Umfeld beziehen oder die entsprechenden Dienstleistungen über die sogenannte Seniorenwirtschaft einkaufen. Die soziale Ungleichheit im Alter wird dabei ausgeblendet. Eine integrationsorientierte Alterspolitik und -arbeit könnte dazu beitragen, dass auch armutsbetroffene, vulnerable ältere Menschen in den Genuss einer guten Betreuungssituation kommen.

Altersbetreuung in der Schweiz In der Schweiz gibt es kein Gesetz, das die Versorgung von betreuungs- und pflegebedürftigen älteren Menschen umfassend und einheitlich regelt. Vielmehr sind die entsprechenden Bestimmungen und Zugangskriterien in den verschiedenen Sozialversicherungsgesetzen, in 26 kantonalen Gesetzen und Verordnungen sowie in kommunalen Weisungen verankert. Das führt zu grossen regionalen Unterschieden bei der Ausgestaltung und Nutzung der Versorgung Betagter. Gemeinsam ist diesen Bestimmungen, dass die Betreuung von Betagten darin nicht geregelt ist. Der Begriff «Betreuung» bleibt im sozialrechtlichen Kontext unscharf (Knöpfel et al. 2018, S. 51 f.).

Die Betagtenbetreuung nimmt in der Ausbildung und im Arbeitsalltag zwei Formen an. Zum einen ist sie Beziehungsarbeit, zum anderen sind es fachspezifische Aufgaben in Ergänzung zur Pflege oder als eigenständige Form der Unterstützung (Knöpfel et al. 2018, 136). Damit lässt sich eine implizite von einer expliziten Betreuung unterscheiden (Imhof et al. 2010, 8). Unter impliziter Betreuung ist die sorgende Haltung und unterstützende Handlung zu verstehen. Die Bedürfnisse der betreuten Person stehen im Mittelpunkt. Der Unterstützungsbedarf wird im Dialog ermittelt. Die explizite Betreuung umfasst hingegen Beschäftigungs- und Aktivierungsmassnahmen, die im Rahmen von Betreuungsprogrammen angeboten werden. Dabei steht der jeweilige Alltag, seine Gestaltung und Bewältigung im Mittelpunkt. Leben die Betagten zu Hause, geht es um Hilfestellungen beim Einkaufen, bei der Zubereitung der Mahlzeiten oder beim Verrichten körperlich anstrengender Arbeiten im Haushalt sowie um sozialpsychische Unterstützung (Fluder et al. 2012).

Die Betreuung älterer Menschen zu Hause und in stationären Einrichtungen beinhaltet eine Vielfalt von Aufgaben und ist daher als Begriff nur schwer zu fassen. Zudem lassen sich Betreuungsaufgaben nicht auf eine bestimmte und ökonomisierbare Zeitdauer festlegen. Die Taktung der Betreuung wird durch die Lebenssituation und die Bedürfnisse der Leistungsempfänger vorgegeben. Betreuung muss sich deshalb auf Unvorhersehbares und Ungeplantes einlassen (können).

Phasen guter Betreuung So lange wie möglich selbstständig zu Hause leben findet nicht nur bei der Mehrheit der älteren Bevölkerung Zuspruch. Ageing in place, zu Hause alt werden, ist eine alterspolitische Forderung, der die Akteure mit verschiedenen Massnahmen nachzukommen versuchen. Art. 112 Abs. 1 BV verpflichtet die Kantone, die sogenannte Hilfe zu Hause sicherzustellen. Damit soll einerseits der stationäre Aufenthalt älterer Personen vermieden oder zumindest verzögert werden. Andererseits soll die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung von Betreuungs- und Pflegebedürftigen gefördert, erhalten und unterstützt werden. Allerdings beschränkt sich die sozial- und gesundheitspolitische Unterstützung auf pflegerische Massnahmen. Professionelle Betreuungsleistungen, die für die Prävention von Pflegebedürftigkeit wichtig wäre, sind nicht vorgesehen. Für die Unterstützung zur Alltagsbewältigung ist das soziale Umfeld zuständig.

Betreuung durchläuft verschiedene Phasen, die sich nicht scharf voneinander abgrenzen lassen, sondern vielmehr durch fliessende Übergänge und eine wachsende Hilfsbedürftigkeit gekennzeichnet sind (vgl. Grafik g1). Die Fachwelt spricht daher häufig von fluid care oder Betreuungsmix.

Im Fragilisierungsprozess verlieren bestimmte Betreuungsformen an Bedeutung, andere gewinnen an Gewicht. In der ersten Phase, in der die älteren Menschen noch zu Hause leben, bedeutet Betreuung Unterstützung bei der Alltags- und Freizeitgestaltung. Selbstständigkeit, Autonomie und soziale Teilhabe sollen trotz Einschränkungen weiterhin möglich sein, die soziale Isolation soll verhindert werden. Häufig übernehmen die Lebenspartner, Familienangehörige, Nachbarn oder Freiwillige diese Betreuungsarbeit. Sie ist von impliziter, informeller, alltäglicher, präventiver Natur. In der zweiten Phase geht es um alltägliche Arbeiten, die nicht mehr selbst erledigt werden können, wie Einkaufen, Kochen, Putzen und Waschen oder die Begleitung bei privaten Verabredungen oder Arztbesuchen. Häufig werden diese Formen der Betreuung von angestellten Personen übernommen, selten auch von Freiwilligen, Nachbarn oder Familienangehörigen. Betreuung wird darum professioneller, expliziter, ambulanter.

In der dritten Phase der Fragilisierung wird Betreuung zur persönlichen Versorgungsleistung und hilft, lebensnotwendige Bedürfnisse zu decken, wie beispielsweise Essen und Trinken, Körperpflege und Anziehen, Termine einhalten und Ordnung bewahren. Sie nimmt einen ambulanten oder intermediären, professionellen Charakter an. Hier kommen bereits in vielen Fällen neben den Familienangehörigen Haushaltsdienstleister und die Spitex zum Einsatz. In der vierten Phase, in der das Leben zu Hause nicht mehr möglich ist, wird Betreuung im stationären Setting nötig. Es geht um Alltagsgestaltung sowie um agogische und aktivierende Angebote. Betreuung wird nun explizit, professionell und therapeutisch. In der fünften Phase ist Betreuung Teil der stationären Pflege und wird von Pflegefachpersonen erbracht. Aber auch den Angehörigen kommt eine wichtige Rolle zu. Einige Pflegeheime erwarten sogar explizit, dass diese zu Besuch kommen und etwas mit den Betagten unternehmen. In der sechsten Phase wird Betreuung seelsorgerisch und palliativ. Sie wird wieder informeller, es geht um Präsenz, Zuhören, Trost spenden, Begleitung in der letzten Lebensphase. Neben professionellen Fachkräften leisten auch Freiwillige Einsätze. Die entscheidende Rolle aber spielen in dieser Phase die Familienangehörigen.

Betreuung ist also eine Form der Unterstützung, die je nach Wohnsituation und gesundheitlicher Verfassung der betroffenen Betagten von unterschiedlichen Akteuren geleistet wird. Sie wird rund zur Hälfte von Lebenspartnern und Familienangehörigen übernommen. (Schweizerische Gesundheitsbefragung 2014, S. 82). Die Betreuung zu Hause wird durch Angebote von privaten Betreuungsunternehmen, Spitex-Diensten, Altersorganisationen und Care-Migrantinnen ergänzt. Da keine sozialstaatlichen Strukturen die Versorgung mit sozialpsychischer Unterstützung, persönlicher Zuwendung oder Assistenz bei der Alltagsbewältigung sicherstellen, müssen diese Leistungen von den Betroffenen selbst bezahlt werden. Ageing in place ist also eine Aufgabe des privaten Umfelds und stark von den finanziellen Ressourcen der betroffenen Person und deren Familie abhängig. Neben der gesundheitlichen Situation ist das Fehlen sozialer Netzwerke denn auch ausschlaggebender Faktor für einen Heim­eintritt (Höpflinger/Hugentobler 2005, S. 69).

In stationären Einrichtungen liegen die Betreuungsaufgaben in den Händen des Fachpersonals (Pflege- und Betreuungspersonal, Aktivierungstherapeutinnen etc.) oder von Freiwilligen. Diese Aufgaben werden über die Betreuungstaxe finanziert. Die Betreuungstaxe ist von den Betroffenen selber zu zahlen. Die Ergänzungsleistungen übernehmen einen begrenzten Teil, wenn dies nicht möglich ist. Bleibt ein ungedeckter Rest, ist diese von den Kantonen und Gemeinden zu übernehmen. Diese Betreuung umfasst Veranstaltungen und alltagsnahe Beschäftigungs- und Aktivierungsmassnahmen. Letztere sind in die Alltagsstrukturen der Institutionen eingebettet und zeitlich eng begrenzt. Betreuung wird dadurch formalisiert, in fachspezifische Aufgaben unterteilt und auf punktuell stattfindende Aktivierungen fixiert. Meistens sind die Angebote gruppenorientiert, was es dem Personal erschwert, auf die einzelnen Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner einzugehen (Tschan 2014, S. 37). Spontane Handlungen, wie ein Spaziergang, individuelle Gespräche bei einem Kaffee oder die einmalige Unterstützung beim Ausfüllen eines Formulars, rücken im getakteten Arbeitsalltag in den Hintergrund oder werden verunmöglicht. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Betreuung im Sinne von Beziehungs- und Alltagsarbeit durch den stark strukturierten Arbeitsalltag sowie durch die berufliche Spezialisierung des Betreuungs- und Pflegepersonals marginalisiert wird und keine Anerkennung findet (Knöpfel et al. 2018, S. 169). Für Bewohnerinnen und Bewohner mit genügend finanziellen und sozialen Ressourcen besteht die Möglichkeit, ihren Heimalltag bedürfnisorientierter zu gestalten. Interne als auch externe Beschäftigungs- und Aktivierungsangebote, Besuche von Familienangehörigen und Bekannten ermöglichen eine bessere Umsorgung. Schwieriger wird es für Bewohnerinnen und Bewohner mit geringen ökonomischen Ressourcen und einem schwachen sozialen Netzwerk.

Eine gute Betreuung im Alter ist daher letztlich eine Frage des Portemonnaies. Statt der informellen und professionellen Betreuungsarbeit mit Betagten die nötige Bedeutung beizumessen, überlässt die Politik die soziale und finanzielle Verantwortung den Betroffenen selbst und vermehrt auch den Kräften des freien Marktes. Das Unterstützungssystem für betagte Menschen in der Schweiz mündet deshalb immer stärker in eine Zweiklassenversorgung, in der sich gut situierte Betagte eine professionelle Betreuung leisten können, während finanziell schwächere darauf verzichten müssen. Dass die finanzielle Ungleichheit im Alter gross ist, zeigt eine Stichprobe des Bundesamts für Statistik (vgl. Grafik g2).

Unter dem Einfluss des sozialpolitischen Wertewandels hin zu einem neokonservativen Sozialstaat blieb der erleichterte und flächendeckende Zugang zu Betreuungsleistungen für vulnerable Bevölkerungsgruppen bisher aus (Knöpfel et al. 2018, S. 27). Die Zahl der hochbetagten Menschen in der Schweiz wird in den nächsten Jahren aber deutlich ansteigen. Zugleich nehmen die zeitlichen Ressourcen der Familien ab. Sie werden kleiner, die Angehörigen sind stärker im Erwerbsleben eingebunden und leben in grösserer räumlicher Distanz. Sowohl ambulante als auch stationäre Dienste stehen unter wirtschaftlichem Druck. Es fehlt die Zeit für Betreuungsaufgaben und die Beziehungsarbeit verliert immer mehr an Bedeutung. Die Betreuung im Alltag geht verloren – und damit eine wichtige Stütze für ein selbstbestimmtes Altern.

Um allen betagten Personen trotzdem die nötige Unterstützung im Alltag zu bieten, benötigt die Schweiz in Zukunft eine umfassend ausgerichtete Alterspolitik (Paul Schiller Stiftung 2018, S. 21–27). Darunter fallen neben der ambulanten und stationären Versorgung auch angepasste Wohnangebote, altersgerecht gestaltete Quartiere und Sozialräume, die Förderung der sozialen und kulturellen Teilhabe sowie der direkte Einbezug älterer Personen in alters­politische Entscheidungsprozesse. Die rechtliche Basis dazu ist die Verankerung eines Anrechts auf Betreuung als Teil der sozialen Grundversorgung in der Schweiz.

  • Literaturverzeichnis
  • Knöpfel, Carlo; Pardini, Riccardo; Heinzmann, Claudia (2018): Gute Betreuung im Alter in der Schweiz. Eine Bestandsaufnahme, Zürich: Seismo Verlag.
  • Gute Betreuung im Alter. Perspektiven für die Schweiz (Website 13.3.2019); [Zürich: Paul Schiller Stiftung].
  • Bundesamt für Statistik (2014): Schweizerische Gesundheitsbefragung: Gesundheitsstatistik 2014; [Neuenburg: Bundesamt für Statistik].
  • Tschan, Elvira (2014): Integrative aktivierende Alltagsgestaltung, Konzept und Anwendung, Bern: Hogrefe.
  • Fluder, Robert; Hahn, Sabine; Bennett, Jonathan; Riedel, Matthias; Schwarze, Thomas (2012): Ambulante Alterspflege und -betreuung. Zur Situation von pflege- und unterstützungsbedürftigen älteren Menschen zu Hause, Zürich: Seismo Verlag.
  • Imhof, Lorenz; Köppel, Ruth; Koppitz, Andrea (2010): Erfolgreiche Praktiken in der Betreuung. Benchlearning-Projekt 2010. Schlussbericht vom 27. Dezember 22010, Bern und Winterthur: Heim Benchmarking Schweiz (HeBeS) und Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), Departement Gesundheit, Institut für Pflege: www.orgavisit.ch > Publikationen.
  • Höpflinger, François; Hugentobler, Valérie (2005): Familiale, ambulante und stationäre Pflege im Alter, Perspektiven für die Schweiz, Bern: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium: www.obsan.admin.ch > Publikationen.
Dr. rer. pol., Prof. für Sozialpolitik und Sozialarbeit, Institut Sozialplanung, Organisatorischer Wandel und Stadtentwicklung, Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW).
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MA, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut Sozialplanung, Organisatorischer Wandel und Stadtentwicklung, Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW).
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