«Die IV gibt Menschen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung und ihren Familien eine Perspektive»

Die CHSS diskutierte mit Bundesrat Alain Berset, inwiefern wir als Gesellschaft das Inte­grationsversprechen eingelöst haben, das wir den Menschen mit Behinderung vor 60 Jahren mit der Inkraftsetzung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG) gaben: Wo ist es uns gelungen, ihnen die Teilhabe zu sichern, und wo gibt es noch Handlungsbedarf?
  |  04. September 2020
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CHSS: Herr Bundesrat, die Schweiz misst ihre Stärke am Wohl der Schwachen. Dazu hat sie nach dem Zweiten Weltkrieg eine tragfähige soziale Sicherung aufgebaut. Inwieweit trägt die IV dazu bei?

Bundesrat Alain Berset: Die Gründung der IV war das Versprechen der Gesellschaft an Menschen mit einer Behinderung: Wir lassen euch und eure Familien nicht allein. Das ist das Fundament, auf dem die IV heute noch steht. Und es ist bemerkenswert, dass es von Anfang an das primäre Ziel der IV war, Menschen mit einer Behinderung einen Platz im Erwerbsleben und in der Gesellschaft zu sichern.

Und wo stehen wir heute: Wird das Versprechen eingelöst?

Mit der Gesetzesrevision zur Weiterentwicklung der IV, die in der vergangenen Sommersession verabschiedet wurde, haben Bundesrat und Parlament einen wichtigen Schritt gemacht. Dank dieser Revision kann die IV ihre Integrationsarbeit weiter verstärken, insbesondere für junge Betroffene und für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen.

Welches ist Ihres Erachtens die grösste Errungenschaft der IV seit ihrer Gründung und weshalb?

Die IV gibt den Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und ihren Familien eine Perspektive. Die Betroffenen erhalten Unterstützung, damit sie am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Berufliche und soziale Integration gehen Hand in Hand. Die IV ist von allen für alle. Sie ist – wie die AHV – eine Volksversicherung. Alle tragen gemeinsam mit: die Arbeitgebenden, die Arbeitnehmenden und der Staat. So ist die IV auch politisch fest verankert.

Und trotzdem ist die IV auch immer wieder politisch massiv unter Druck geraten. Für die einen ist sie zu grosszügig. Stichwort: Scheininvalide. Für die anderen ist sie zu restriktiv.

Ja, die Vorstellungen darüber, in welche Richtung sich die IV entwickeln soll, lagen und liegen oft weit auseinander. In den 1990er-Jahren war der Angriffspunkt die finanzielle Entwicklung der IV, weil die psychischen Erkrankungen stark zugenommen hatten und die Zahl der IV-Renten stark angestiegen war. Die Antwort darauf war die verstärkte Ausrichtung der IV auf die Integration, vor allem mit der 5. IV-Revision. Darum ist die IV jetzt auf dem Weg zur Entschuldung und wir können von dieser Sanierungs- und Sparlogik wieder wegkommen. Heute sind qualitative Aspekte in den Vordergrund gerückt – beispielsweise die verbesserte Begleitung von Kindern und Jugendlichen sowie von psychisch Erkrankten oder die Aufsicht über die IV oder die Gutachtertätigkeit. Das sind zentrale Aspekte für eine gute und faire IV. Darum habe ich veranlasst, dass sie unter die Lupe genommen und – wenn nötig – verbessert werden. Die Debatte über die IV wird immer weitergehen und das ist auch gut so.

Die Schulden der IV gegenüber der AHV stehen immer noch bei mehr als zehn Milliarden Franken, zudem hat die Corona-Krise Spuren in den IV-Finanzen hinterlassen. Sind Sie sicher, dass die Sanierungs- und Sparlogik überwunden ist?

Tatsächlich wird die Corona-Krise bei allen Sozialversicherungen Spuren hinterlassen. Es handelt sich voraussichtlich um einen vorübergehenden Effekt, der uns nicht dazu verleiten sollte, die langfristige Optik aufzugeben. Mit einer Sozialversicherung kann und muss man nicht so umgehen wie mit einem Unternehmen am Markt. Ihre Leistungen und ihre Finanzierung müssen auf lange Sicht sichergestellt sein.

Das belastet aber die AHV, die selber auf jeden Franken angewiesen ist.

Die Schulden der IV sind für die AHV gegenwärtig verkraftbar. Sie werden zu einem marktgängigen Zins abgegolten. Und die Reform der AHV ist in jedem Fall notwendig – unabhängig davon, wann die IV ihre Schulden zurückzahlt. Wir müssen immer das Ganze im Auge haben, nicht nur die einzelne Versicherung. AHV und IV sind das Herzstück der 1. Säule. Sie sind eng miteinander verbunden. Wer zum Beispiel ein höheres AHV-Alter fordert, muss sich auch bewusst sein, dass dies Auswirkungen auf die IV hat. Ein Jahr später in Pension zu gehen, kostet die IV 250 Millionen Franken mehr pro Jahr.

Der wirtschaftliche und politische Druck wird auf die IV nach Corona kaum abnehmen.

Die Versicherten, die auf die Leistungen der IV angewiesen sind, können nichts dafür, dass die Pandemie auch die Schweiz getroffen hat. Der Staat hat die Wirtschaft in der Corona-Krise massiv unterstützt. Er hat den Unternehmen geholfen, den Arbeitnehmenden und den Selbständigerwerbenden, die direkt oder indirekt betroffen waren. Es wäre nicht fair, die Menschen mit einer Behinderung die Folgen der Krise ausbaden zu lassen. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass die Integrationsarbeit der IV wegen der Corona-Krise noch schwieriger werden dürfte. Die Corona-Krise hat den Arbeitsmarkt geschwächt.

Wo sehen Sie unter diesen Voraussetzungen noch Optimierungspotenzial?

Die IV hat ihre Hausaufgaben gemacht. Mit der Weiterentwicklung verbessern wir die medizinischen Massnahmen, die beruflichen Massnahmen, das Taggeld-Regime und das Rentensystem, also praktisch alle Leistungen der IV. Wir können die Betroffenen gezielter beraten und begleiten. Die richtigen Eingliederungsmassnahmen zum richtigen Zeitpunkt sind entscheidend – gerade für Jugendliche. Jetzt müssen wir das umsetzen und dann analysieren, wie gut das wirkt, bevor wir wieder mit neuen Massnahmen kommen.

Reicht das Commitment der Sozialpartner bei der Eingliederung oder müssten diese noch mehr machen?

Die Sozialpartner leisten gute Arbeit. An der nationalen Konferenz zur Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Behinderung 2017 waren sich alle Beteiligten einig, dass wir es nur gemeinsam schaffen. So ein klares Bekenntnis zur Zusammenarbeit hatten wir noch nie. Immer wieder höre ich Erfolgsgeschichten von KMU, die Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen eine Perspektive bieten. Das ist jetzt wegen der Corona-Krise besonders wichtig. Insbesondere für die jungen Leute, für die der Lehrstellenmarkt schwieriger geworden ist. Die Ausbildung der jungen Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen sollte, wenn immer möglich, im ersten Arbeitsmarkt erfolgen. Die Arbeitgebenden müssen diesen Jugendlichen eine Chance geben.

Die Pharmaindustrie hat die Entwicklung von Arzneimitteln zur Behandlung von seltenen Krankheiten als gewinnbringendes Geschäft entdeckt. Bei den Geburtsgebrechen übernimmt die IV die Kosten der medizinischen Massnahmen. Das kann gerade bei den seltenen Krankheiten schnell zu einem Fass ohne Boden werden.

Es ist gut, dass die Pharmaunternehmen Behandlungen für seltene Krankheiten anbieten. Problematisch sind allerdings gewisse Preisvorstellungen. Mit der Weiterentwicklung der IV wurde nun die Grundlage dafür geschaffen, diese Therapien nach den Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit zu beurteilen.

Seit 1995 ist die IV dezentral organisiert: 27 IV-Stellen, gegen hundert Ausgleichskassen, zehn Regionalärztliche Dienste und das BSV. Können wir uns den föderalen Aufbau angesichts des hohen Kostendrucks überhaupt noch leisten?

Für die Eingliederungsarbeit muss die IV nahe bei den Arbeitgebern und bei den Versicherten sein. Der Arbeitsmarkt in Bern ist nicht der gleiche wie jener in Genf oder in Uri – und schon gar nicht wie derjenige im Tessin.

In der Sommersession hat das Parlament mit den Überbrückungsleistungen (ÜL) ein neues Sozialwerk geschaffen. Wie sinnvoll war die Einführung noch einer Sozialleistung? Wäre es nicht nachhaltiger gewesen, analog zu den Massnahmen im IVG das Integrationsinstrumentarium der Sozialpartner und der RAV zu stärken?

Die Überbrückungsleistungen sind eine grosse Errungenschaft. Mit ihr verhelfen wir Menschen in einer sehr schwierigen Situation zu einem würdevollen Übergang vom Erwerbsleben in die Pensionierung. Die Überbrückungsleistungen stehen im Mittelpunkt des Interesses, weil für sie ein neues Gesetz erarbeitet werden musste, aber sie sind Teil eines Pakets von sieben Massnahmen, die darauf abzielen, das inländische Arbeitskräftepotenzial besser zu nutzen und die Integrationsarbeit zu verstärken. Das Paket enthält Massnahmen für Flüchtlinge, für vorläufig Aufgenommene und für ältere Arbeitnehmer, beispielsweise die Verlängerung der Integrationsvorlehre, die kostenlose Laufbahnberatung ab 40 Jahren, anrechenbare Bildungsleistungen oder ein Impulsprogramm zugunsten schwer vermittelbarer Stellensuchender. Neu gibt es auch arbeitsmarktliche Massnahmen für Ausgesteuerte über 50.

Als Gegenentwurf zum komplexen System der verschiedenen Versicherungen mit seinen Problemen bei der Zusammenarbeit wird häufig das bedingungslose Grundeinkommen genannt. Es hätte wohl auch die Überbrückung der Corona-Krise einfacher gemacht.

Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine spannende Idee, ist aber mit mehreren Problemen verbunden. Wer bezahlt es? Der Versuch in einer Deutschschweizer Gemeinde ist an dieser Frage gescheitert. Und die Corona-Krise hat gezeigt, dass wir mit dem bestehenden Instrumentarium sehr schnell und gezielt helfen können. Hinzu kommt die Frage der Integration: Was tut ein Grundeinkommen für die Integration? Unterstützt es junge Leute mit Beeinträchtigungen beim schwierigen Übergang von der Schule ins Erwerbsleben? Bezahlt es die Assistenzperson, damit jemand nicht im Heim leben muss?

Zum Schluss noch ein Blick in die Zukunft der IV: Was müsste passieren, damit es sie im Jahr 2050 gar nicht mehr braucht?

Eine Art IV wird es immer brauchen, trotz medizinischem und technischem Fortschritt. Die Inklusion ist eine ständige Aufgabe. Damit Menschen mit einer Behinderung am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, braucht es die individuelle Unterstützung der IV. Ebenso wichtig ist die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, so wie sie das Behindertengleichstellungsgesetz und die UNO-Behindertenrechtskonvention vorzeichnen. Hier geht es um gesellschaftliche Strukturen, zum Beispiel in der Arbeitswelt. Noch immer gibt es viele Hürden für Menschen mit einer Behinderung.

 

Das Interview, das schriftlich erfolge, führten Urs Manz, Geschäftsfeld IV und Suzanne Schär, Kommunikation, BSV.

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