Der Brexit darf nicht zum Verlust von Rechten führen, die während der EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs bestanden. Die Schweiz und das Vereinigte Königreich nahmen rasch Verhandlungen auf, um diese Rechte zu sichern – in Abstimmung mit den gleichzeitig stattfindenden (und chaotischen) Verhandlungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich.
Auf einen Blick
- Um die Rechte zu sichern, die sich ihre Bürgerinnen und Bürger während der EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs und unter dem FZA erworben hatten, schlossen die Schweiz und das Vereinigte Königreich ein Abkommen ab.
- Das Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger schützt die Rechte jener Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, der Schweiz und der EU, die sich vor dem 1. Januar 2021 sozialversicherungsrechtlich in einer grenzüberschreitenden Situation mit dem Vereinigten Königreich und der Schweiz befanden.
- Im Bereich der sozialen Sicherheit lehnt sich das Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger im Wesentlichen an die Bestimmungen des Austrittsabkommens an, welches das Vereinigte Königreich mit der EU abgeschlossen hat.
- Um beim Schutz der erworbenen Rechte den multilateralen Aspekt zwischen dem Vereinigten Königreich, der Schweiz und der EU zu erhalten, haben die drei Parteien ihre Beziehungen mittels Triangulation koordiniert.
Wenn ein Staat ein völkerrechtliches Abkommen kündigt, sollen die darauf gestützten Ansprüche gemäss dem Grundsatz der erworbenen Rechte weiter gewährleistet sein. Mit dem Brexit treten alle zwischen der Schweiz und der EU abgeschlossenen Abkommen für das Vereinigte Königreich ausser Kraft. Dazu gehört auch das Freizügigkeitsabkommen (FZA, SR 0.142.112.681), das u. a. die Koordinierung der Sozialversicherungen regelt. Artikel 23 FZA sieht vor, dass die erworbenen Ansprüche unberührt bleiben und dass die Vertragsparteien eine Regelung für die Anwartschaften treffen. Auf dieser Grundlage haben die Schweiz und das Vereinigte Königreich am 25. Februar 2019 das Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger (SR 0.142.113.672) abgeschlossen, das ab dem 1. Januar 2021 vorläufig angewendet wurde und am 1. März 2021 in Kraft trat.
Grundzüge des Abkommens
Das Abkommen zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich lehnt sich an das Austrittsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich (ABl. 2020 L 29/7) an. Insbesondere im Bereich der sozialen Sicherheit (Teil 3 des Abkommens) sind die Bestimmungen im Wesentlichen identisch. So wird gewährleistet, dass Schweizer Staatsangehörige gegenüber denjenigen der EU-Staaten nicht benachteiligt werden. Zudem wird die Kontinuität und Einheitlichkeit der im europäischen Raum geltenden Regeln garantiert.
Damit die im Rahmen des FZA erworbenen Rechte der Versicherten auch nach dem Brexit gewahrt sind, werden die im FZA vorgesehenen Koordinierungsregeln (Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009) im Abkommen beibehalten.
Betroffene Personen und anwendbare Regeln
Das Abkommen soll diejenigen Personen schützen, die dem FZA unterstellt waren. Es gilt für Staatsangehörige der Schweiz, des Vereinigten Königreichs und der EU, die sich vor dem 1. Januar 2021 (ab diesem Stichtag wendet das Vereinigte Königreich das FZA nicht mehr an) sozialversicherungsrechtlich in einer grenzüberschreitenden Situation mit dem Vereinigten Königreich und der Schweiz befanden.
Dabei sind je nach Situation am 31. Dezember 2020 zwei Personenkategorien zu unterscheiden:
- Personen, die sich am Stichtag in einer grenzüberschreitenden Situation befanden (Art. 25), z. B. von ihrem Unternehmen zwischen dem 1. Oktober 2020 und dem 30. März 2021 in das Vereinigte Königreich entsandte schweizerische Arbeitskräfte:
Für diese Personen gelten weiterhin alle Bestimmungen der Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009, solange die grenzüberschreitende Situation nicht unterbrochen wird (Art. 26). Sie können also alle Leistungen wahrnehmen, die von den Verordnungen abgedeckt sind. Der Begriff grenzüberschreitende Situation wird unten näher beschrieben.
- Personen, die sich am 31. Dezember 2020 nicht in einer grenzüberschreitenden Situation befanden, aber von gewissen Rechten nach dem FZA profitierten (Art. 26a):
Auf diese Personen sind die Koordinierungsverordnungen nicht vollständig anwendbar, sondern nur die Bestimmungen über die zu schützenden spezifischen Rechte. Es handelt sich hauptsächlich um Personen, die vor dem 1. Januar 2021 in einem und/oder im andern Staat versichert waren. Die Rechte, die sich aus diesen Versicherungszeiten ableiten, bleiben insbesondere für die Erlangung einer künftigen Rente geschützt.
Beispiel: Eine Person mit schweizerischer Staatsangehörigkeit, die zwischen 1995 und 2003 britische Sozialversicherungsbeiträge geleistet hat, könnte in der Schweiz gegebenenfalls eine britische Invalidenrente beziehen.
Die folgenden weiteren Sonderfälle sind durch Artikel 26a geschützt:
Zugang zu Krankenpflegeleistungen für Personen, die in einem Staat krankenversichert sind und am Stichtag des Wegfalls des FZA im anderen Staat eine Behandlung benötigen (z. B. Ferienreisende, die sich am 31. Dezember 2020 in einem der beiden Staaten aufhalten), und die Weiterführung von Familienleistungen für ein Kind, das im andern Staat wohnt.
In seiner Botschaft vom 6. Dezember 2019 hält der Bundesrat die Bestimmungen des Abkommens detailliert fest (Bundesrat 2019).
Grenzüberschreitende Situation
Ausschlaggebend ist, ob eine Person sich am 31. Dezember 2020 in einer grenzüberschreitenden Situation befand, denn davon hängt ab, ob die Koordinierungsverordnungen ganz oder nur teilweise anwendbar bleiben. Es handelt sich um Situationen, in denen aufgrund der Staatsangehörigkeit, der Tätigkeit oder des Wohnorts der Person ein Bezug zu beiden Staaten besteht. Diese Fälle sind in Artikel 25 aufgeführt.
- Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger (SR 0.142.113.672): Art. 25 Persönlicher Geltungsbereich
- Unbeschadet der Teile zwei und vier gilt dieser Teil für die folgenden Personen:
a) Schweizer Staatsangehörige, die unmittelbar vor dem festgelegten Stichtag den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs unterliegen, sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebene;
b) Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs, die unmittelbar vor dem festgelegten Stichtag den Rechtsvorschriften der Schweiz unterliegen, sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebene;
c) Schweizer Staatsangehörige, die ihren Wohnsitz im Vereinigten Königreich haben und unmittelbar vor dem festgelegten Stichtag den schweizerischen Rechtsvorschriften unterliegen, sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebene;
d) Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs, die ihren Wohnsitz in der Schweiz haben und unmittelbar vor dem festgelegten Stichtag den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs unterliegen, sowie ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen;
e) Personen, die nicht unter die Buchstaben a) bis d) fallen:
i) Schweizer Staatsangehörige, die unmittelbar vor dem festgelegten Stichtag eine Tätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Vereinigten Königreich ausüben und die aufgrund von Titel II der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates den Rechtsvorschriften der Schweiz unterliegen, sowie ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen, oder
ii) Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs, die unmittelbar vor dem festgelegten Stichtag in einem oder mehreren Mitgliedstaaten eine Tätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger ausüben und aufgrund von Titel II der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs unterliegen, sowie ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen;
f) Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnsitz in der Schweiz oder im Vereinigten Königreich, die sich in einer der in den Buchstaben a) bis e) beschriebenen Situationen befinden, sowie ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.
2. Die in Absatz 1 genannten Personen sind so lange vom Geltungsbereich erfasst, wie sie sich ununterbrochen in einer der in diesem Absatz genannten Situationen befinden, die gleichzeitig einen Bezug zur Schweiz und zum Vereinigten Königreich haben.
3. Dieser Teil gilt auch für Personen, die nicht oder nicht mehr unter Absatz 1 Buchstaben a) bis e) dieses Artikels, aber unter Artikel 10 dieses Abkommens fallen, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.
4. Die in Absatz 3 genannten Personen sind so lange vom Geltungsbereich erfasst, wie sie nach Artikel 12 dieses Abkommens weiterhin ein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmestaat oder nach Artikel 20 dieses Abkommens ein Recht auf Arbeit in ihrem Arbeitsland haben.
5. Bezieht sich dieser Artikel auf Familienangehörige und Hinterbliebene, so fallen diese Personen nur insoweit unter diesen Teil, als sie in dieser Eigenschaft Rechte und Pflichten aus der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ableiten.
Grenzüberschreitende Situationen sind nicht zeitlich befristet, d. h. sie können mehrere Jahre dauern. In diesem Fall bleibt der gleiche Staat für die Versicherung der Person, für die weiterhin die Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 gelten, zuständig.
Beispiel: Eine Person mit Schweizer Staatsangehörigkeit, die am 31. Dezember 2020 dauerhaft im Vereinigten Königreich erwerbstätig war und dies weiter ist, verbleibt in einer grenzüberschreitenden Situation.
Änderungen innerhalb dieser Situation, die den grenzüberschreitenden Charakter nicht unterbrechen, berühren die anwendbaren Regeln nicht.
Beispiele: Eine Person, die ununterbrochen im gleichen Staat arbeitet, jedoch den Arbeitgeber wechselt, bleibt den EU-Koordinierungsverordnungen unterstellt; ein von einem Staat entsandter Arbeitnehmer, der nach dem Ablauf der Entsendedauer weiterhin im anderen Staat arbeitet, verbleibt in einer grenzüberschreitenden Situation, sogar, wenn er sich im Beschäftigungsstaat versichern lässt.
Sobald die grenzüberschreitende Situation endet, ist die Person nicht mehr allen Bestimmungen der EU-Verordnungen unterstellt. Ihre Rechte aufgrund der Versicherungszeiten, die sie während der grenzüberschreitenden Situation zurückgelegt hat, bleiben hingegen geschützt. Falls diese Person sich später in einer neuen grenzüberschreitenden Situation befindet, sind die Bestimmungen des neuen Abkommens auf diese neue Situation anwendbar.
Gesamtkoordinierung: Einbezug der EU
Das FZA koordiniert die Systeme der sozialen Sicherheit aller Vertragsparteien und garantiert die Ansprüche aller betroffenen Staatsangehörigen. Um beim Schutz der erworbenen Rechte den multilateralen Aspekt zwischen dem Vereinigten Königreich, der Schweiz und der EU zu erhalten, haben die drei Parteien ihre Beziehungen mittels Triangulation koordiniert. Entsprechend integrierten erstens die EU und das Vereinigte Königreich die Schweizer Staatsangehörigen in ihr Austrittsabkommen, zweitens zogen die Schweiz und das Vereinigte Königreich die EU-Staatsangehörigen in das Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger mit ein (Art. 26b) und drittens schlossen die Schweiz und die EU ein spezifisches Abkommen zum Schutz der britischen Staatsangehörigen ab (vgl. Beschluss Nr. 1/2020 des Gemischten Ausschusses FZA, AS 2021 12).
Beispiel: Ein britischer Grenzgänger, der am 31. Dezember 2020 in Frankreich wohnt und in der Schweiz arbeitet, hat Anspruch auf alle Leistungen gemäss den EU-Koordinierungsverordnungen, solange er weiterhin in der Schweiz erwerbstätig ist, insbesondere auf Arbeitslosenentschädigung und Familienzulagen, aufgrund des Beschlusses Nr. 1/2020 des Gemischten Ausschusses FZA.
Anwendungsbeispiele
- Eine vor dem 1. Januar 2021 aus der Schweiz in das Vereinigte Königreich entsandte Person, die in der Schweiz versichert bleibt, behält während der Entsendedauer und auch während einer Verlängerung sämtliche Ansprüche gemäss FZA. Wenn diese Person in die Schweiz zurückkehrt, unterliegt sie nicht mehr den Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 und profitiert nicht von erworbenen Rechten gemäss dem Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, weil sie ja keine Versicherungszeiten im Vereinigten Königreich aufweist. Eine künftige neue Entsendung unterliegt dem neuen Abkommen zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich.
- Ein britischer Rentner, der nur eine britische Rente bezieht und seit 2010 in der Schweiz seinen Ruhestand verbringt, hat weiterhin Anspruch auf die Leistungen gemäss den EU-Verordnungen, solange er in der Schweiz wohnt. So hat er Anspruch auf allfällige schweizerische Ergänzungsleistungen ohne Karenzfrist und bleibt im britischen System krankenversichert.
- Eine deutsche Staatsangehörige, die am 31. Dezember 2020 in der Schweiz arbeitete und für ein im Vereinigten Königreich wohnhaftes Kind Familienzulagen bezog, bezieht diese Leistungen weiterhin.
- Ein britischer Staatsangehöriger, der früher in der Schweiz gearbeitet hatte und vor dem 1. Januar 2021 ins Vereinigte Königreich zurückkehrte, kann im Invaliditätsfall, und falls die diesbezüglichen Voraussetzungen erfüllt sind, vom Export einer schweizerischen Rente profitieren.
Schlussfolgerung
Das Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger bezieht sich nur auf Personen, die vor dem 1. Januar 2021 von der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich Gebrauch machten. Faktisch sind davon zahlreiche Personen betroffen: Das AHV-Versichertenregister umfasst über 200 000 britische Staatsangehörige. Auch wenn die Anzahl der grenzüberschreitenden Situationen und deren Schutz mit der Zeit abnimmt, werden die erworbenen Rechte, die Anspruch auf eine künftige Rente verleihen, noch während langer Zeit bestehen bleiben.
Deshalb ist systematisch zu prüfen, ob eine Person vor dem 1. Januar 2021 Versicherungszeiten zurückgelegt hat, um die für die Leistungsgewährung anwendbaren Rechtsvorschriften zu bestimmen. Dies gilt besonders für die Invalidenrenten, die gemäss dem neuen Abkommen nicht mehr exportiert werden.