Auf einen Blick
- Im Gasthof Liebefeld bei Bern gehört die Integration von Menschen mit psychisch bedingten Leistungseinschränkungen zur Unternehmensphilosophie.
- Die Gastronomie, in der die Mitarbeitenden eng zusammenarbeiten, eignet sich für die berufliche Integration.
- Bei der Eingliederung kann die Invalidenversicherung Arbeitgebende und versicherte Personen mit verschiedenen Massnahmen unterstützen.
Es ist kurz nach 14 Uhr im Landhaus Liebefeld. Die meisten Gäste haben gegessen, die Gasträume sind aber noch gut besucht. Unzählige Stimmen verweben sich zu einem Klangteppich. Kulinarische Qualität verbindet sich mit rustikal gediegenem Ambiente.
Gastronomie kann hektisch sein. Die Gäste wollen schnell und in bester Qualität bedient und verköstigt werden. Auf den ersten Blick kein idealer Arbeitsplatz für einen Menschen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung. Dass der erste Blick täuschen kann, zeigt ein Gespräch mit den Lernenden Milan M. und Cyrill R. sowie mit Geschäftsführer Tom Christen.
Milan M. absolviert eine Lehre als Koch im Landhaus Liebefeld. Er wird von der Invalidenversicherung (IV) unterstützt. Ein Jobcoach hat ihn bei der Bewerbung begleitet und den Arbeitgeber über dessen gesundheitliche Einschränkungen ins Bild gesetzt.
Cyrill R. ist im letzten Lehrjahr zum Restaurationsfachmann EFZ. Nach einer schwierigen Jugend und Jahren mit kleineren Gelegenheitsjobs hat er sich aus eigenem Antrieb und ohne Unterstützung Dritter beim Landhaus Liebefeld beworben.
Aus Sicht von Christen eignet sich die Gastronomie für die berufliche Integration: «Die Mitarbeitenden sind viele Stunden gemeinsam unterwegs und arbeiten eng zusammen. Hier erfahren sie, dass sie gebraucht werden und man sich auf sie verlässt. So wächst das Team zu einer zweiten Familie zusammen.» Wenn das Vertrauen und die Unterstützung aller da seien, hülfen und trügen die Mitarbeitenden diejenigen mit, die sich in einer schwierigen Lebensphase befänden, sagt Christen. Wichtig sei, sich auf die neuen Kolleginnen und Kollegen einzulassen, sich zu integrieren und wieder einen Rhythmus zu finden. Die enge Zusammenarbeit helfe dabei, fügt Cyrill R. hinzu.
Das Gastgewerbe leidet unter einem grossen Fachkräftemangel. Fachkräfte zu finden und im Betrieb zu halten, ist seit Längerem eine grosse Herausforderung. Das Landhaus Liebefeld hat seinen eigenen Weg gefunden, um dieser Herausforderung zu begegnen. Seit 2009 gehört die Integration von Menschen mit psychisch bedingten Leistungseinschränkungen zur Unternehmensphilosophie des Landhauses Liebefeld – dafür wurde es im Jahr 2022 mit dem «Berner Sozialstern» der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern ausgezeichnet. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Ausbildung von Lernenden. Auch Lernende mit neurodiversen, psychisch oder psychosozial bedingten Leistungseinschränkungen werden ausgebildet. Mit einem sicheren und strukturierten Arbeitsumfeld, viel Vertrauen und Engagement gewinnt und bindet der Betriebsleiter so wertvolle Mitarbeitende.
Soziale Nachhaltigkeit gehört zur DNA
Im Landhaus Liebefeld arbeiten zurzeit 62 Personen. 11 von ihnen sind Lernende, und 3 Personen haben eine psychisch bedingte Leistungseinschränkung.
Für Christen war der Fachkräftemangel nicht die primäre Motivation dafür, Menschen in einer schwierigen Phase eine Chance zu geben. Sie auf ihrem Weg zu begleiten, sei langfristig nicht nur profitabler, sondern schenke auch grosse Erfüllung. Und das soziale Engagement zahlt sich für das Unternehmen aus: Es stärkt das Vertrauen der Mitarbeitenden und ermöglicht langfristige Partnerschaften. Als Resultat ist die Mitarbeitendenfluktuation im Landhaus sehr gering.
Was braucht es konkret, damit Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder aus schwierigen Verhältnissen integriert werden können? Wichtig seien eine enge Begleitung, Mitgefühl, Flexibilität, viel Nachsicht und Geduld, aber auch eine gewisse Strenge, sagt Christen. Grundvoraussetzung sei in jedem Fall der Wille des Einzelnen, seine Probleme in den Griff zu bekommen, seinen Weg zu finden. Der Mitarbeitende müsse aber auch spüren, dass man an ihn glaube und ihn nicht einfach fallen lasse. «Das erfordert viel Nachsicht, denn starre Regeln werden gebrochen», so Christen.
Milan M. betont: «Es war mein grosser Wunsch, in einem richtigen À-la-carte-Betrieb zu arbeiten.» Dieser Wunsch sei ausschlaggebend gewesen. Gemäss Milan M. braucht es zudem eine Ansprechperson, die auch während der Arbeit da ist.
Cyrill R. ergänzt: «Am Anfang war ich noch in meinem alten Muster gefangen: alles verdrängen und wegschieben.» Dank Tom Christen habe er gelernt, über sich nachzudenken. «Besonders geholfen hat mir, dass Tom an mich geglaubt und mich nicht wegen wiederholter Unzuverlässigkeit entlassen hat.»

Christen legt grossen Wert auf eine ganzheitliche Sichtweise. Beispielsweise hindern finanzielle Schwierigkeiten die betroffene Person daran, sich auf die Lehre zu konzentrieren. Gemeinsam mit dem Arbeitgebenden einen Plan zu erarbeiten, wie die Schulden schrittweise abgebaut werden können, ist Teil der Unterstützung und hilft, Existenzängste abzubauen.
Das bestätigt auch Cyrill R.: «Meine Schulden waren eine grosse Belastung für mich. Erst als mir das Landhaus Liebefeld unter die Arme griff und die Schuldenlast von mir abfiel, konnte ich mich endlich auf die Lehre konzentrieren.»
Das Team als Erfolgsfaktor
Für eine erfolgreiche Eingliederung ist die Unterstützung des Teams unabdingbar: Für das Team sei das nicht immer leicht zu verstehen, sagt Christen. Denn wir leben in einer Leistungsgesellschaft: «Wer keine Leistung bringt, ist raus.» Dass es jeden treffen könne, sei es durch einen Schicksalsschlag oder eine Krankheit, sei vielen nicht bewusst. Wenn das Team die Situation des Betroffenen, der Betroffenen kenne, könne es auch Verständnis entwickeln. «Deshalb sind Sensibilisierung und transparente Kommunikation so wichtig», erklärt der Geschäftsführer.
Nicht zu unterschätzen sei auch das Vertrauen in die Entscheidungen und das Handeln des Chefs. Und es brauche auf jeden Fall Erfolge. Wenn sich Erfolge einstellen, erfüllt dies das Team auch mit Stolz. «Schliesslich hat es einen wichtigen Beitrag zum Erfolg geleistet», fügt Tom Christen an.
Auch für Milan M. ist das Team ausschlaggebend: «Das Team kennt meine Fähigkeiten sowie Schwierigkeiten und gibt mir immer wieder die Motivation weiterzugehen.»
Die IV kann Unterstützung bieten
Wird die Belastung bei einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter zu gross, werden im Landhaus Arbeitsabläufe, Organisation, Kommunikation und Stellenprozente flexibel angepasst. Im Fall von Milan M. übernimmt die IV den Ausbildungslohn in Form eines Taggelds und stellt ihm einen Jobcoach zur Seite. Die IV bietet auch nach einer erfolgreichen Eingliederung während dreier Jahre Beratung und Begleitung an. Bei Problemen können sich der Arbeitgebende oder die betroffene Person jederzeit melden (siehe auch Kasten).
Bei vielen Betriebsleitenden im Gastgewerbe bestehe eine Hemmschwelle gegenüber der IV, sagt Christen. Sie wüssten oft nicht, welche Möglichkeiten es gebe, etwa die stufenweise Eingliederung, die finanzielle Abfederung oder das Coaching. Zudem sei Arbeitgebenden oft nicht klar, welche Organisation im konkreten Fall Hilfe leisten könne. Ein einfacher Zugang zur IV sowie eine pragmatische und bedürfnisorientierte Unterstützung seien für die Gastronomen entscheidend.
Und was würde Christen anderen Arbeitgebenden raten? «Soziales Engagement lohnt sich», sagt Christen. «Versuche den Betrieb so zu führen, dass du selbst gern dort arbeiten möchtest.» Viele Mitarbeitende seien ins Landhaus gekommen, weil sie die Philosophie, die Atmosphäre und das Erlebnis toll gefunden und gedacht hätten: «Hier würde ich gern arbeiten.»
Massnahmen der IV für Arbeitgeber
Arbeitgeber können von folgenden Massnahmen der Invalidenversicherung (IV) profitieren:
Eingliederungsorientierte Beratung: Niederschwellige Beratung für Arbeitgeber, Informationen über den Auftrag und die Leistungen der IV, über den Umgang mit Erkrankungen am Arbeitsplatz, über die Meldung zur Früherfassung oder die Anmeldung von gefährdeten Personen.
Beratung und Begleitung durch die IV-Stelle: Dauerhafte und kontinuierliche Beratung und Begleitung der versicherten Person und ihres Arbeitgebers.
Arbeitsplatzanpassungen und Arbeitsplatzerhalt: Anpassungen des Arbeitsplatzes (etwa ergonomische Anpassungen), Jobcoaching oder Prüfung einer betriebsinternen Umplatzierung.
Arbeitsversuch: Die versicherte Person erprobt im ersten Arbeitsmarkt ihre tatsächliche Leistungsfähigkeit. Während dieser Zeit bezahlt die IV ein Taggeld, sofern die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Der Arbeitgeber bezahlt während dieser Zeit keinen Lohn.
Einarbeitungszuschuss: Mit diesem von der IV befristet geleisteten Zuschuss erhalten Arbeitgeber einen finanziellen Anreiz zur Anstellung von behinderten Personen.
Entschädigung für Beitragserhöhungen: Entschädigung für die krankheitsbedingten Mehrkosten bezogen auf die Erhöhungen der Beiträge an die berufliche Vorsorge und der Krankentaggeldprämien.
Erstmalige berufliche Ausbildung für junge Versicherte: Wird eine junge versicherte Person in der erstmaligen beruflichen Ausbildung von der IV unterstützt, übernimmt die IV den Ausbildungslohn in Form eines Taggelds.