Im Dezember 2015 hat der Bundesrat die geplante Modernisierung der Aufsicht über die AHV, IV, EL, EO und die Familienzulagen in der Landwirtschaft in ihren Eckwerten verabschiedet und das EDI beauftragt, bis Ende 2016 die Vernehmlassungsvorlage auszuarbeiten. Das Reformvorhaben basiert auf den Arbeitsergebnissen zweier Projekte. Zum einen hat das EDI im Auftrag des Bundesrats im Projekt «Cartographie des Systèmes d’Informations des assurances sociales» (CARTOSI) eine Kartografie der Informationssysteme in seinem Aufsichtsbereich erstellt, Standardisierungsmöglichkeiten ausgelotet und den allfälligen gesetzgeberischen Handlungsbedarf analysiert. Zum anderen hat das BSV im Auftrag des EDI im Projekt «Modernisierung der Aufsicht» die Aufsicht der ihm unterstellten Sozialversicherungen überprüft. In die Projektarbeiten flossen auch die Empfehlungen der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) zur Verbesserung der fachlichen und finanziellen Aufsicht über die AHV 1 und die IV 2 ein.
Verbesserung der Governance in der 1. Säule AHV, IV und EL stehen derzeit je in einem wichtigen Reformprozess, dessen Erfolg im Wesentlichen vom Vertrauen abhängt, das die Versicherten, Leistungsbeziehenden und Arbeitgebenden in die Sozialversicherungen haben. Um dieses zu bestärken, sind Vorkehrungen zur Festigung der Governance notwendig. Corporate Governance umfasst viele unterschiedliche Grundsätze, denen sowohl mit obligatorischen als auch mit freiwilligen Massnahmen entsprochen werden kann. Es geht dabei insbesondere um die Einhaltung von Gesetzen und Regelwerken (Compliance), die Beachtung anerkannter Standards und die Entwicklung und Befolgung eigener Unternehmensleitlinien. Ein weiterer Aspekt der Corporate Governance ist die Ausgestaltung und Implementierung von Leitungs- und Kontrollstrukturen. 3
Der Bundesrat schlägt vor, konkrete Massnahmen in folgenden Bereichen auszuarbeiten:
- Aufgaben, Kompetenzen, Verantwortlichkeiten: Die Aufgaben der verschiedenen Akteure respektive Organe sind zu präzisieren und klar zuzuweisen. So gilt es, die unübertragbaren und unentziehbaren Aufgaben der Durchführungsstellen zu definieren, die nicht an Dritte ausgelagert werden können. Den Besonderheiten bei der Führung in Personalunion (z. B. Führung mehrerer Ausgleichskassen oder Führung verschiedener Organisationen unter einem Dach) ist ebenfalls Rechnung zu tragen.
- Entflechtung von Aufsicht und Durchführung: Es ist zu prüfen, ob die heutigen Strukturen, Organisationsformen und Rollen bzw. Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten mit den Governance-Grundsätzen vereinbar sind. Bei den kantonalen Ausgleichskassen und IV-Stellen gilt die Vorschrift, dass sie die Rechtsform einer öffentlich-rechtlichen Anstalt mit eigener Rechtspersönlichkeit haben müssen. Diese Unabhängigkeit bietet Gewähr, dass einerseits der Bund Aufsicht und Steuerung der 1. Säule optimal wahrnehmen kann, und dass andererseits die Durchführungsaufgaben unabhängig und im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen bewerkstelligt werden können. Vor diesem governancekonformen Hintergrund sowie angesichts der Empfehlungen der EFK ist auszuloten, ob und inwieweit Durchführungsaufgaben (z. B. der Bereich Regress AHV/IV des BSV oder die der ZAS angegliederte IV-Stelle für Versicherte im Ausland) aus der Bundesverwaltung ausgelagert werden sollen. Zudem ist auch zu prüfen, welche rechtlichen Grundlagen geschaffen werden müssen, damit die kantonalen Sozialversicherungsanstalten dem Erfordernis der Unabhängigkeit von den Kantonen genügen.
Stärkung der Corporate Governance in der 1. Säule.
- Transparenz: Um eine effektive Aufsicht wahrnehmen zu können, bedarf es Mindestanforderungen an die Buchführung und Rechnungslegung, die Berichterstattung (z. B. Geschäftsbericht der Durchführungsstellen) und die eingesetzten Instrumente (z. B. eine Kosten- und Leistungsrechnung). Die Weisungen sind entsprechend anzupassen. Bei den Verwaltungskosten muss Transparenz hergestellt und sichergestellt werden, dass bei der Durchführung von übertragenen Aufgaben keine Quersubventionierungen stattfinden können.
- Unabhängigkeit, Integrität und Loyalität der Gewährsträger: Die Gewähr für einwandfreie Geschäftsführung und treuhänderische Sorgfalt der verantwortlichen Personen (Integrität) ist sicherzustellen, und Interessenkonflikte sind zu vermeiden. Die Anforderungen an die Gewährsträger (Aufsichtsorgane Kanton, Kassenvorstand, Direktor, Geschäftsleitung, interne und externe Revision) sowie an die Gewährsprüfung (fachliche Anforderungen) sind zu definieren. Zudem sollen klarere Anforderungen an die Unabhängigkeit, Integrität und Loyalität der Organe gestellt werden.
- Offenlegungspflichten: Es ist festzulegen, welche Sachverhalte, die im öffentlichen Interesse sind, wie z. B. Interessenbindungen oder die Entschädigungen des obersten Organs oder der Geschäftsleitung, durch die externen Revisionsstellen zu prüfen und entsprechend offenzulegen sind.
- Informationsaustausch: Es können verschiedene Aufsichtsbehörden für Durchführungsstellen, die unter einem Dach verschiedene Versicherungen anbieten, zuständig sein. Für den Informationsaustausch zwischen den involvierten Aufsichtsbehörden (z. B. kantonale Aufsichtsbehörden) sind rechtliche Grundlagen zu schaffen.
Einführung einer risiko- und wirkungsorientierten Aufsicht Damit die Aufsicht über die Sozialversicherungen der 1. Säule vorausschauend und risikoorientiert wahrgenommen werden kann, ist ein Paradigmenwechsel von einer kontrollierenden, reaktiven hin zu einer risiko- und wirkungsorientierten Aufsicht zu vollziehen. Dazu schlägt der Bundesrat die Einführung eines neuen Aufsichtsmodells vor, wie es sich bei der IV im Zuge der 5. IVG-Revision bereits bewährt hat.
- Individuell zugeschnittene risiko- und wirkungsorientierte Aufsicht: Ein solches Aufsichtsmodell mit verschiedenen Regelkreisen muss individuell auf die einzelnen Sozialversicherungen zugeschnitten werden. AHV und IV verfolgen z.B. unterschiedliche Ziele und setzen diese mit unterschiedlichen Instrumenten und Mitteln um. Ihre Wirkung kann daher nicht nach den gleichen Kriterien beurteilt werden. Bei der AHV gelten z. B. im Bereich des Rentenalters klare und eindeutige Vorgaben, welche keine Interpretation zulassen. Hingegen besteht in der IV, z. B. bei der Zusprache von Eingliederungsmassnahmen, ein gewisser Ermessensspielraum. Derartige Unterschiede müssen bei der konkreten Ausgestaltung des Aufsichtsmodells berücksichtigt werden.
- Ziele, Aufgaben und Vorgaben als Basis: Am Anfang jedes Regelkreises stehen Ziele, Aufgaben und Vorgaben, welche für die betreffenden Sozialversicherungen definiert werden. Die Umsetzung dieser Vorgaben und Ziele wird periodisch mit den Durchführungsstellen vereinbart, anschliessend überprüft und beobachtet. Daraus können Erkenntnisse und allfällige Korrekturmassnahmen sowohl auf Ebene Durchführung als auch auf strategischer Ebene abgeleitet und angeordnet werden. Diese Rückkoppelung zwischen den gewonnenen Erkenntnissen und den übergeordneten Vorgaben soll ein einwandfreies Funktionieren und die stete Weiterentwicklung der Sozialversicherungen unterstützen und fördern.
- Neue Aufsichtsinstrumente: Zur Durchsetzung des neuen risiko- und wirkungsorientierten Aufsichtsmodells werden verschiedene Aufsichtsinstrumente benötigt, wie ein Risikomanagement, eine Wirkungsmessung, ein Qualitätsmanagementsystem (QMS) oder ein Internes Kontrollsystem (IKS). Der Katalog von Instrumenten, der sich bereits bei der Neuausrichtung der Aufsicht über die IV bewährt hat, kann dabei als Orientierungshilfe dienen. Die inhaltliche Ausgestaltung der Instrumente soll sich indessen nach den speziellen Gegebenheiten des jeweiligen Sozialversicherungszweigs richten. Zudem ist zu definieren, welche konkreten Aufsichtsinstrumente (z. B. IT-Audits) entwickelt werden müssen, um der Informationssicherheit in der 1. Säule besser Rechnung zu tragen.
- Verhältnismässige repressive Aufsichtsinstrumente: Da der bisherige Repressionskatalog nicht verhältnismässig ist, sind in der 1. Säule neue repressive Aufsichtsinstrumente notwendig. Zwar kann das EDI beispielsweise bei schweren Verfehlungen beim Kanton oder dem Gründerverband die Absetzung des Kassenleiters beantragen. Die Aufsichtsbehörden sind indessen heute nicht befugt, mildere Massnahmen zu treffen und dabei etwa den gesetzeswidrigen Entscheid eines Kassenvorstands aufzuheben oder eine Busse anzuordnen.
Von der reaktiven zur wirkungsorientierten Aufsicht
Governance-Grundsätze für die Informationssysteme Der Bundesrat schlägt vor, Governance-Grundsätze spezifisch für die Schaffung und den Unterhalt von Informationssystemen der 1. Säule festzulegen. Diese lassen sich zu einem grossen Teil auf der Grundlage der geltenden gesetzlichen Bestimmungen umsetzen:
- Aufbau einer IT-Strategie und Unternehmensarchitektur: Aufsicht und Durchführungsstellen sollen eine gemeinsame und übergeordnete IT-Strategie erarbeiten und eine übergreifende Unternehmensarchitektur zur Weiterentwicklung der Systeme erstellen.
- Definition neuer Rechnungslegungsnormen: Anhand eines standardisierten Leistungskatalogs sollen Kosten- und Leistungsrechnungsmodelle definiert werden, mit dem Ziel, Transparenz herzustellen und Benchmarks beim Finanzierungsbedarf zu etablieren.
- Verbesserung der Zusammenarbeit: Durch eine Überprüfung der Gremienlandschaft und durch die Definition von klaren Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten sollen die Abläufe vereinfacht werden. Dadurch soll die Kommunikation und die Planbarkeit von Projekten und damit die Handlungssicherheit für alle Akteure verbessert werden.
Die geltende Aufsichtsorganisation in der 2. Säule bewährt sich.
Folgende Massnahmen benötigen dagegen eine neue gesetzliche Grundlage:
- Der Erlass von Informationssystem-Standards: Es sollen Rahmenbedingungen für Informationssystem-Standards festgelegt werden, und die Unterstellung unter das öffentliche Beschaffungsrecht muss geklärt werden.
- Regelung der Finanzierung der Informationssystem-Standards: Die Finanzierung von Entwicklungen und des Betriebs von Informationssystem-Standards soll geregelt werden (z. B. ausschliessliche Finanzierung durch die Ausgleichsfonds AHV, IV und EO oder teilweise Finanzierung durch die Ausgleichsfonds mit Beteiligung der involvierten Durchführungsstellen).
Gezielte Optimierung der Aufsicht auch in der 2. Säule Die Aufsicht über die Vorsorgeeinrichtungen in der beruflichen Vorsorge (BVG) wurde 2012 mit der Strukturreform neu ausgestaltet. Die seither geltende Aufsichtsorganisation hat sich in der Praxis bewährt, kann in Einzelbereichen aber optimiert werden. Im Zusammenhang mit der angestrebten Stärkung der Governance in der 1. Säule will der Bundesrat auch zwei Massnahmen für die 2. Säule in das Vernehmlassungsprojekt aufnehmen: Zum einen soll die Unabhängigkeit der kantonalen Aufsichtsbehörden sichergestellt werden, indem kantonale Regierungsmitglieder nicht mehr in den Aufsichtsgremien Einsitz nehmen dürfen. Zum anderen sollen die Aufgaben des Experten und der Revisionsstelle der Vorsorgeeinrichtung präzisiert und voneinander abgegrenzt werden.
- Fussnoten
- 1. Eidgenössische Finanzkontrolle, Fachliche und finanzielle Aufsicht über die AHV. Beurteilung der Aufsicht im System AHV (PA 14260), [Bern, April 2015]: www.efk.admin.ch > Publikationen > Weitere Prüfberichte > Bericht bzw. Zusammenfassung.
- 2. Eidgenössische Finanzkontrolle, Fachliche, administrative und finanzielle Aufsicht über die IV-Stellen (PA 142619), [Bern, September 2015]: www.efk.admin.ch > Publikationen > Weitere Prüfberichte > Bericht bzw. Zusammenfassung.
- 3. 2006 hat der Bundesrat im Corporate-Governance-Bericht Leitsätze zur Steuerung von Unternehmen im Besitz des Bundes verabschiedet und diese 2009 ergänzt: Bericht des Bundesrates zur Auslagerung und Steuerung von Bundesaufgaben vom 13. September 2006 (BRG 06.072, BBl 2006 8233 ff.) und Zusatzbericht des Bundesrates zum Corporate-Governance-Bericht vom 25. März 2009 (BRG 09.037, BBl 2009 2659 ff.).