Armutsbetroffene wollen gehört werden, nicht als Bittsteller und Objekte gesellschaftspolitischer Paradigmen, sondern als Persönlichkeiten, die sich eingehend und reflektiert mit ihrer persönlichen Lage und der gesellschaftlichen Stellung auseinandersetzen und die ihre Erwartungen an die Sozialpolitik pragmatisch und lösungsorientiert formulieren.
Die persönlichen Geschichten der Armut sind komplex. Sie erzählen von ungleichen Chancen, von familiären Belastungen, von eingeschränkter körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit, aber auch von persönlichen Entscheidungen oder von Schicksalsschlägen. Niemand wählt seine Geschichte von Armut aus freien Stücken, genauso wenig wie niemand ein wirtschaftlich unabhängiges oder erfolgreiches Leben nur allein seinem Willen und seiner Arbeitsbereitschaft verdankt. Gewiss sind Wille und Arbeitsbereitschaft wichtige Voraussetzungen, um ein wirtschaftlich unabhängiges Leben zu führen. Aber sie allein reichen nicht. Genauso wie die persönlichen Voraussetzungen spielen auch die Familie, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen und die politische Landschaft eine Rolle.
Armut definiert sich nicht nur aus persönlicher, sondern ebenso aus gesellschaftlicher Perspektive. Wie gehen die leistungsfähigeren Akteure mit Schwäche, Krankheit und Ungenügen um; wie wird die Frage nach der Schicksalshaftigkeit beantwortet? Wird Armut als das Resultat persönlicher Schwäche, mangelnder Leistungsbereitschaft und der Summe falscher Entscheidungen angesehen? Oder wird anerkannt, dass die eigene Stärke und der eigene Erfolg nicht nur selbstverantwortet sind, sondern auch mit ungleichen Chancen und dem Glück, im richtigen Moment nicht am falschen Ort gewesen zu sein, zu tun haben?
«Armut bedeutet Geringschätzung, Vorverurteilung und Stigmatisierung». (Elisabeth Gillard)
Von diesen Zusammenhängen zeugen die Geschichten dreier Armutsbetroffer, die anlässlich der Schlusskonferenz des Nationalen Programms gegen Armut Anfang September 2018 bereit waren, über ihr Leben zu erzählen. Sie schildern, wie sie Armut erfahren, was sie von den Behörden erwarten, wo sie Unterstützung finden und welchen Nutzen sie sich vom Programm und der Abschlusskonferenz erhoff(t)en.
Bedürftigkeit als Stigma Obschon Armut materielle Entbehrung und Verzicht bedeutet, die durchaus auch als einschneidend empfunden werden, wiegt damit die Existenz am Rand der Gesellschaft schwerer. Wenn Gaby Feldhaus sich als erstes dafür entschuldigt, dass Armut in der Schweiz existenziell weniger bedrohlich ist als in anderen Weltregionen, verweist sie weniger auf ihr persönliches Erleben von Armut, sondern vielmehr auf eine gesellschaftliche Bereitwilligkeit, diese zu relativieren. Die Geschichte der St. Gallerin zeugt von einer materiell wohlsituierten Gesellschaft, die sich damit schwertut, die soziale Ausgrenzung derjenigen, denen die Mittel fehlen, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, als Form der sozialen Diskriminierung anzuerkennen. Vom Stigma der Armut sprechen auch die Freiburgerin Elisabeth Gillard und der Basler Markus Christen. Auch sie erzählen von einem Leben am Rand der Gesellschaft, von fehlender Teilhabe, von Ausgrenzung und Isolation, verursacht durch materielle Entbehrung und geprägt vom alltäglichen Kampf, die Rechnungen eines materiell aufs Nötigste beschränkten Lebens zu bezahlen.
Markus Christen schildert eindrücklich, wie Isolation und fehlende gesellschaftliche Anerkennung das Selbstbewusstsein untergraben und zu psychischer Belastung und Krankheit führen können. Ein Thema, das sich auch durch die Geschichte von Gaby Feldhaus zieht. Alle betonen, wie wichtig das private Umfeld, die wenigen verbleibenden gesellschaftlichen Kontakte und die über NGO organisierte Hilfe zu Selbsthilfe sind, um nicht völlig aus der Bahn geworfen zu werden. Mit ihrer praktischen, bedürfnisorientierten und weitgehend bedingungslosen Hilfe geben ihnen insbesondere die NGO Halt, Struktur und Verbindlichkeit, ohne dabei die Schuldfrage zu stellen oder zu stigmatisieren.
Halt finden Markus Christen, der nach einem durch Schlafapnoe verursachten Autounfall, in den sechzehn Personen involviert waren, keinen Anschluss mehr in seinem Beruf als Chauffeur fand und via RAV und Aussteuerung in der Sozialhilfe landete, fand in einer Mitarbeiterin des Vereins Surprise in Basel eine Mentorin. Diese vermochte den von Depressionen und Selbstzweifeln gequälten Menschen in mehreren Anläufen von einem Engagement bei Surprise zu überzeugen. Sie verstand es auch, Christens Selbstvertrauen in kleinen, an seine jeweilige Leistungsfähigkeit angepassten Schritten soweit aufzubauen, dass er sich das Engagement bei Surprise schliesslich zutraute. Seit 2013 nun leitet er für Surprise soziale Stadtrundgänge durch Basel. Ein Engagement, das ihn so erfüllt, dass er es auch nach seiner baldigen Pensionierung weiterführen will.
Gaby Feldhaus und Elisabeth Gillard finden Halt in den regionalen Selbsthilfegruppen von ATD Vierte Welt, einer 1957 gegründeten internationalen NGO, die sich seit 1967 im Dialog mit sozial Benachteiligten auch in der Deutsch- und Westschweiz für die Anerkennung der Menschenwürde und die Bekämpfung von Armut einsetzt. Obschon ATD Vierte Welt für Elisabeth Gillard wichtig ist, um sich regelmässig mit anderen Betroffenen auszutauschen, konkrete Probleme zu diskutieren und Lösungen zu finden, hat sie als Sprecherin von ATD Vierte Welt nicht nur sich selbst im Blick, sondern sie will sich auch für andere Betroffene einsetzen, die sich selbst nicht äussern und wehren können. Sie zeigt die Stärke und den Willen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten nicht nur ihr Leben zu gestalten, sondern sich auch für die noch Schwächeren einzusetzen. Eine reife Leistung für eine nicht vom Schicksal verwöhnte Frau, deren Familie so arm war, dass sie mit neun Jahren in eine andere Familie platziert wurde, um sieben Jahre lang deren Kinder zu hüten und Tag und Nacht für alle erdenklichen Arbeiten zur Verfügung zu stehen.
Auch für Gaby Feldhaus spielt ATD Vierte Welt eine wichtige Rolle und auch sie, deren Bedürfnisse als Kind systematisch übergangen wurden, kämpft jeden Tag um Normalität. Zusammen mit ihrem Mann, der trotz seiner durch eine Kinderlähmung verursachten gesundheitlichen Spätfolgen lange im ersten Arbeitsmarkt tätig war, hat sie es geschafft, drei Kinder grosszuziehen, die alle erfolgreich im Berufsleben stehen. Feldhaus betont, wie wichtig in diesem Zusammenhang die Chancengerechtigkeit gerade in Bildungsfragen wäre, die ihren Kindern leider nicht immer zuteilwurde. Nichtsdestotrotz findet sich in diesem Teil ihrer Geschichte ein Hinweis auf die zentrale Bedeutung eines qualitativ hochstehenden, für alle Kinder gleichermassen zugänglichen Bildungssystems. Denn eine fachlich und menschlich überzeugende Bildung ist eine Schlüsselgrösse, um der Vererbung von Armut entgegenzuhalten und eine stabile und tragfähige Gesellschaft sicherzustellen.
«Statt Menschen zu begleiten, hat die Sozialhilfe oft nur die Mittel, Fälle abzuwickeln». (Markus Christen)
Alle drei Interviewpartner betonen, nicht nur im Umfeld der NGO Halt zu finden. Kraft und Stütze erhalten sie auch in ihren Familien und Partnerschaften. Folglich kann die Familie paradoxerweise die Armut weitergeben, aber auch eine Rolle spielen, davon loszukommen: So kann Armut vererbt werden, aber mit Hilfe der Familie auch ertragen und idealerweise gar überwunden werden, weil sie Geborgenheit und Akzeptanz, Empathie und Anerkennung, aber auch Werte, Stärke und Sinnhaftigkeit vermittelt.
Letztlich geht es darum, im näheren und weiteren Umfeld auf belastbare und tragfähige, dem Leben zugewandte Strukturen zu treffen, die bereit und fähig sind, sich möglichst bedingungslos auch für andere zu investieren.
Erwartungen an die Behörden Bei aller Anerkennung und viel Verständnis für das Regelwerk staatlicher Unterstützung weisen die drei Armutsbetroffenen auf ein Autoritätsgefälle zwischen Sozialhilfestelle und Antragssteller hin, das sie als äusserst unangenehm empfanden. Die Umgangsformen der Behörden wurden als unpersönlich und teilweise als respektlos erlebt. Das bereits angeschlagene Selbstwertgefühl wurde dadurch weiter untergraben und das Gefühl, versagt zu haben, verstärkt. Um mehr Verständnis für die schwierige Situation von Sozialhilfebezügern zu entwickeln, würde Gaby Feldhaus angehende Angestellte einer Sozialhilfebehörde dazu verpflichten, eine Sozialzeit zu absolvieren, während der die Behördenvertreter direkt mit Armutsbetroffenen und Kranken arbeiten müssten.
Gleichzeitig zeugen die Erwartungen der drei Interviewpartner an die Behörden von viel Systemwissen und grosser Abstraktionsfähigkeit. Ihre Forderungen sind konkret und weisen auf Verbesserungspotenzial hin, ohne das Rad neu erfinden zu wollen. Während sie den Nutzen von Kriterien zur Bemessung der staatlichen Unterstützung vorbehaltlos anerkennen, wünschen sie sich trotzdem ein Fallmanagement, das sich mehr am konkreten Einzelfall und den individuellen Bedürfnissen orientiert als die Fallabwicklung, wie sie sie erlebt haben.
Um ihren Zweck als vorübergehende Unterstützung zu erfüllen, müsste die Sozialhilfe laut Markus Christen als partnerschaftliches Projekt geführt werden, mit klar formulierten, erreichbaren und zeitlich definierten Zielsetzungen. Um Rückfälle zu vermeiden, wären diejenigen, die es aus der Sozialhilfe geschafft haben, mindestens ein bis zwei Jahre weiterzubegleiten. Dadurch liessen sich Wiederanmeldungen vermeiden, die – weil sie die bisherigen Geschichten und Akten nicht berücksichtigten – in der Summe teurer seien als ein sorgfältiges und nachhaltiges Fallmanagement.
Als weiteres Hindernis, das sich ehemaligen Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern in den Weg stellen kann, erwähnt Christen die Rückforderung ausbezahlter Sozialhilfe, sobald die Betroffenen finanziell wieder auf eigenen Beinen stehen. Dieses Vorgehen, das in den meisten Gemeinden üblich ist, aber unterschiedlich streng gehandhabt wird, bewirke, dass die ehemaligen Bezügerinnen und Bezüger wieder auf das Existenzminimum zurückfielen und wirke dadurch demotivierend und destabilisierend. Damit erhöhe sich die Gefahr, erneut in der Sozialhilfe zu landen, oder es vermindere sich die Motivation, sich überhaupt daraus herauszukämpfen.
Elisabeth Gillard betont, dass die Arbeitslosenversicherung Langzeitarbeitslose länger und intensiver betreuen müsste, statt sie auszusteuern und ohne berufliche Perspektive in die Sozialhilfe zu entsorgen. Zudem sei es eine Aufgabe des Staats, die nötigen Voraussetzungen zu schaffen, damit auch niedrig qualifizierte Menschen, die keine Ausbildung abgeschlossen haben, einen Lohn erhielten, der es ihnen erlaubt, ein bescheidenes Leben in Anstand und Würde zu bestreiten.
Erwartungen an die Konferenz Mit ihrer Teilnahme an der Schlusskonferenz wollten die drei Armutsbetroffenen ein Zeichen setzen. Es war ihnen wichtig, der Armut ein Gesicht und eine Stimme zu geben und zu zeigen, dass Armut auch in der Schweiz Verzicht und materielle Entbehrung bedeutet und mit dem Verlust des Selbstwerts, sozialer Ausgrenzung, Krankheit und Perspektivlosigkeit einhergeht.
«Armut frisst sich in die Persönlichkeit, in die Familie; und es ist wichtig, dass die Gesellschaft erfährt, wie einschneidend und prägend Armut für die Einzelne ist.» (Gaby Feldhaus)
Gross war das Unverständnis über den Entscheid des Bundesrats, das Programm gegen Armut nach fünf Jahren nur noch reduziert als Plattform weiterzuführen. Während die beiden Frauen darauf beharrten, dass Teilhabe, Chancengleichheit (v. a. in Bezug auf Bildung) und Verbindlichkeit auch weiterhin gesellschaftlich und politisch einzufordern seien, waren Markus Christens Erwartungen der Ernüchterung und Enttäuschung gewichen. Befürchtet er doch nun, dass die konkreten Veränderungen in der Sozial- und Arbeitslosenhilfe, die er sich erhofft hatte, in weite Ferne rücken.