Florian Steinbacher, im Jahr 2023 haben knapp 56 000 Personen an beruflichen Eingliederungsmassnahmen der IV teilgenommen. Die Anzahl der Personen hat sich seit 2008 fast verdreifacht. Wie beurteilen Sie das?
Das ist so gewollt. Der Fokus auf die Eingliederung wurde in den letzten 15 Jahren stetig verstärkt. Es gilt das Prinzip «Eingliederung vor Rente». Es wurden in den letzten Jahren auch mehr niederschwellige Massnahmen eingeführt. Nach dem Motto: Lieber einmal zu früh als zu spät intervenieren. Eine Rente zu vermeiden, ist ein Vorteil für alle, für die Person, für den Arbeitgeber, für die Versicherung und für die Gesellschaft. Natürlich gibt es auch Faktoren wie beispielsweise die Konjunktur oder eine Pandemie, die die Zahl der Personen in der beruflichen Eingliederung erhöhen können. Diese Faktoren sind von der IV nicht beeinflussbar.
«Lieber einmal zu früh als zu spät intervenieren»
Rund 60 Prozent der Personen, die eine berufliche Eingliederung der IV abgeschlossen haben, hatten eine Anstellung oder waren wieder erwerbsfähig. Ist das ein Erfolg?
Das sind positive Zahlen, ja, denn hinter diesen Zahlen stehen Menschen. Diese haben dank der IV ihren Job behalten können oder wurden so weit befähigt, dass sie wieder einen Job ausüben können.
Jede Eingliederung ist also ein Erfolg?
Ja. Die IV versucht die optimale Lösung für jede einzelne Person zu finden, um allen ein möglichst eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Es ist der Auftrag der IV, dass Menschen mit gesundheitlichen Problemen ihre Stelle möglichst behalten oder sich wieder auf dem Arbeitsmarkt bewerben können. Ich möchte aber betonen: Wenn die Eingliederung nicht möglich ist, wird eine Rente geprüft. Wichtig ist, dass der Rentenentscheid gründlich abgeklärt und sorgfältig gefällt wird. Und dass zuerst alles versucht wird, damit eine Person erwerbsfähig bleibt oder wieder erwerbsfähig wird. Ziel ist also nicht, möglichst wenige Renten zuzusprechen, sondern das Eingliederungspotenzial der Versicherten möglichst gut auszuschöpfen.
Reicht denn die Erwerbsfähigkeit als Ziel der IV? Müsste die Aufgabe der IV nicht sein, dass die Menschen nach der Eingliederung auch wirklich wieder eine Stelle haben?
Es ist die Aufgabe der IV, gezielt die Erwerbsfähigkeit zu erhalten oder zu verbessern. Dabei ist es wichtig, dass die Eingliederungsmassnahmen auf den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet sind. Die IV unterstützt die Menschen auch für eine gewisse Zeit bei der Suche nach einer Arbeitsstelle im ersten Arbeitsmarkt.
Was braucht es, damit eine berufliche Eingliederung erfolgreich ist?
Es braucht die Zusammenarbeit aller Akteure – also der betroffenen Person, des Arbeitgebers, des Arztes und des Umfelds sowie der Fachpersonen in den IV-Stellen. Eine frühe Intervention ist wichtig. Je länger man wartet, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Eingliederung gelingt. Da greifen die Frühinterventionsmassnahmen der IV gut – insbesondere, wenn noch ein Arbeitgeber vorhanden ist.
«Damit eine berufliche Eingliederung erfolgreich ist, braucht es die Zusammenarbeit aller Akteure»
Wie zeigt sich das?
Nach einer Frühintervention sind im Folgejahr 72 Prozent ohne Rente erwerbstätig, nach Integrationsmassnahmen sind es 33 Prozent. Im ersten Fall ist die gesundheitliche Situation meist besser, und es ist häufig noch ein Arbeitgeber vorhanden. Deshalb ist auch das Engagement der Arbeitgeber so wichtig. Bei Integrationsmassnahmen dagegen geht es darum, die Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit einer Person aufzubauen.
Wie nachhaltig sind die Eingliederungsmassnahmen?
Es ist schwierig, dazu Aussagen zu machen. Von den Personen, die 2021 einen beruflichen Eingliederungsprozess abgeschlossen haben, konnte ein Jahr später mehr als die Hälfte ein Einkommen erzielen. Wir wissen aber auch, dass der Anteil versicherter Personen mit einer IV-Rente in den vier Jahren nach Abschluss einer Eingliederung ansteigt. Ein Grund kann zum Beispiel sein, dass sich der Gesundheitszustand einer Person wieder verschlechtert. Dann ist es so, dass die IV für die Rentenprüfung medizinische Unterlagen und Abklärungen benötigt, die teilweise lange dauern.
Weshalb?
Um einen definitiven Entscheid treffen zu können, muss sich zuerst die gesundheitliche Situation stabilisieren. Das kann je nach Krankheit dauern. Grundsätzlich gilt eine gesetzliche Frist von einem Jahr, bevor eine bleibende Invalidität bestätigt werden kann. Und dann haben wir viel zu wenige Gutachterinnen und Gutachter, insbesondere in Spezialdisziplinen. Dadurch müssen Personen leider nicht selten lange auf einen Termin warten, bevor es überhaupt zu einer Begutachtung kommt.
Weiss man etwas über den Drehtüreffekt, also wie viele Menschen von einer Sozialversicherung zur nächsten weitergereicht werden?
Das ist eine kleine Minderheit. Die allermeisten Personen beziehen Leistungen aus einer einzigen Sozialversicherung.
Kürzlich haben der Bund und der Schweizerische Arbeitgeberverband eine Zusammenarbeitsvereinbarung abgeschlossen, um die berufliche Eingliederung zu fördern. Weshalb?
Weil davon alle profitieren können, die betroffenen Personen, die Unternehmen und die IV. Die Weiterentwicklung der IV ermöglicht seit 2022 solche Vereinbarungen. Der Bund unterstützt den Dachverband darin, branchenspezifische Massnahmen für seine Mitglieder auszuarbeiten. Wichtig ist auch, dass die Eingliederungsmassnahmen der IV gut bekannt sind, weil wir ja eben möglichst früh ansetzen wollen, wenn eine Person ihre Stelle noch nicht verloren hat. Dadurch kann auch die IV einen Beitrag zur Bekämpfung des Arbeitskräftemangels leisten.
Eingliederungsmassnahmen der IV
Beratung und Begleitung: Im Rahmen der Fallführung berät und begleitet die IV-Stelle die versicherte Person und gegebenenfalls ihren Arbeitgeber. In Einzelfällen und unter bestimmten Voraussetzungen kann diese Beratung und Begleitung durch eine Coachingleistung ergänzt werden. (Art. 14quater IVG)
Frühinterventionsmassnahmen: Anpassungen des Arbeitsplatzes, Ausbildungskurse, Arbeitsvermittlung, Berufsberatung, sozial-berufliche Rehabilitationsmassnahmen, Beschäftigungsmassnahmen, Beratung und Begleitung. (Art. 7d IVG)
Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung. (Art. 14a IVG)
Berufliche Massnahmen: Berufsberatung, erstmalige berufliche Ausbildung, Umschulung, Arbeitsvermittlung, Arbeitsversuch, Personalverleih, Einarbeitungszuschuss, Entschädigung für Beitragserhöhungen und Kapitalhilfe. (Art. 15 – Art. 18d IVG)
Siehe auch: Zahl der beruflichen Eingliederungen durch die IV nimmt weiter zu