Auf einen Blick
- Das Nationale Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang» (NFP 76) hat sich mit den Mechanismen und Wirkungen des schweizerischen Sozialwesens befasst.
- Für Menschen in Armut, mit Behinderungen oder psychischen Krankheiten, für Asylsuchende oder für Minderjährige ist die Rechtssicherheit im Sozialwesen oft nicht gegeben.
- Rechte und Mitwirkung der Betroffenen sind zu stärken.
Das Sozialwesen der Schweiz gleicht einem Flickenteppich. Neben den kommunalen Sozialdiensten und den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) sind Jugendgerichte, IV-Stellen, Behindertenämter, Schuldienste, Erziehungs- und andere Beratungsstellen sowie medizinische oder psychiatrische Einrichtungen involviert. Hinzu kommen private, parastaatliche oder kirchlich getragene Akteure. Diese Heterogenität stellt nicht nur für die Steuerung durch Politik und Behörden, sondern auch für die Menschen eine Herausforderung dar, die sich in den Organisationen des Sozialwesens bewegen.
Für die Betroffenen – für Menschen in Armut, mit Behinderungen oder psychischen Krankheiten, für Asylsuchende und besonders für Minderjährige – sind in diesen komplexen Strukturen Transparenz und Rechtssicherheit oft nicht gegeben. Dies ist einer der Befunde des Nationalen Forschungsprogramms «Fürsorge und Zwang» (NFP 76), das Gegenwart und Vergangenheit des schweizerischen Sozialwesens erforscht hat (siehe Kasten). Sich ohne zusätzliche Orientierung und gut verständliche Informationen zurechtzufinden, ist für Betroffene meist schwierig.
Die NFP-76-Studien empfehlen den Behörden deshalb, den Zugang zu den relevanten Informationen zu vereinfachen. Dazu gehören die verbesserte Aufklärung über Rechte und Pflichten sowie der Abbau administrativer und sprachlicher Barrieren.
Nationales Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang»
Das vom Bundesrat in Auftrag gegebene Nationale Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang» (NFP 76) hat von 2018 bis 2023 die Merkmale, Mechanismen und Wirkungen des schweizerischen Sozialwesens in Gegenwart und jüngerer Vergangenheit erforscht. Es ist Teil der politischen und wissenschaftlichen Aufarbeitung der Vergangenheit, die in den 2000er- Jahren auf Druck Betroffener einsetzte. 29 Projekte haben die Ursachen für integritätsverletzende und die Bedingungen für integritätsschützende Praktiken identifiziert.
Wissensvorsprung der Behörde
Wenn Behörden und vulnerable Personen aufeinandertreffen, entsteht eine Situation, die durch Asymmetrie gekennzeichnet ist: Die Behörde weiss mehr und ist daher mit mehr Macht ausgestattet, und oft anerkennt sie das Wissen der Betroffenen nicht oder interessiert sich kaum dafür. Die der Behörde gegenüberstehende Person hingegen befindet sich in einer Position der Schwäche, selbst wenn sie über formelle Rechte verfügt.
Das Ideal der Zusammenarbeit auf Augenhöhe wird immer wieder beschworen, doch Behörden lassen sich in ihrer Arbeit oft von der «Fiktion der Horizontalität» leiten. Den Betroffenen wird der falsche Eindruck vermittelt, ihre Zusammenarbeit sei freiwillig, dabei müssen sie sich gut darstellen, Schwächen gestehen, der von den Fachleuten empfohlenen Intervention zustimmen und, wie es heisst, Verantwortung wahrnehmen. Selbstbestimmtes Handeln ist unter solchen Umständen kaum möglich. Fachpersonen sollten daher für potenziell stigmatisierende Wirkungen sozialer Zuschreibungen sowie psychologischer und medizinischer Diagnosen sensibilisiert werden.
Früher eingreifen
Überdurchschnittlich betroffen von Massnahmen des Kindes- und Erwachsenenschutzes sind Menschen in schwierigen Verhältnissen. Oft überlagern sich dabei wirtschaftliche Prekarität, gesundheitliche Probleme, häusliche Gewalt und Migrationserfahrungen. Sozialdienste tendieren bei Kindswohlgefährdungen dazu, die Not einer Familie, die von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Schulden belastet wird, auf das Versagen der Eltern zurückzuführen oder eine «ungeordnete» Haushaltführung als Zeichen mangelnder Erziehungs- und Selbstkompetenz zu werten – so lautet eine weitere Erkenntnis des NFP 76.
Kindesschutzbehörden räumen dem Vermeiden von Konflikten mit den Eltern oft ein zu hohes Gewicht ein. Sie greifen eher zu spät ein, womit die Interessen der Kinder zweitrangig werden. Ein Grund dafür ist die normative Überhöhung der Familie, die als Ort des Schutzes und der Geborgenheit begriffen wird. Demnach sollten Kinder in der Herkunftsfamilie oder zumindest bei der Mutter aufwachsen, auch wenn die Verhältnisse integritätsverletzend sind und Eltern mit Suchtproblemen oder mit psychischen Schwierigkeiten ihre Kinder gefährden.
Jedes Verständnis von Sozialhilfe ist unausweichlich von gesellschaftlichen und biografischen Erfahrungen geprägt. Die Reflexion der eigenen Normen und Wertvorstellungen ist die Voraussetzung für eine Praxis, die konstruktiv mit der Spannung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung umgeht. Fachpersonen sollten deshalb vermehrt über ihre Haltung nachdenken und diese weiterentwickeln können, wie das NFP-76 zeigt. Sie sollen in der Aus- und Weiterbildung dafür sensibilisiert werden. Hierfür brauchen sie im beruflichen Alltag zeitliche und finanzielle Ressourcen.
Harmonisierung auf Bundesebene
Der Flickenteppich des Sozialwesens widerspiegelt sich in den rechtlichen Normen, die den Umgang mit unterstützungs- und schutzbedürftigen Personen prägen. Das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht von 2013 stellt zwar den vorläufigen Abschluss einer längeren Reform dar, doch diese ist trotz vieler Fortschritte nicht abgeschlossen. Die kantonale Zuständigkeit für das Verfahren und die Behördenorganisation erschweren eine gleichmässige Praxis und führen zu Rechtsungleichheiten, besonders was die Mitwirkungsmöglichkeiten der Betroffenen angeht. Normkonflikte, Diskrepanzen zwischen Recht und Praxis sowie der ungleiche Zugang zu Unterstützung werden weiter verstärkt durch Schnittstellen zur Sozial- und zur Behindertenhilfe, die ebenfalls unter kantonaler Hoheit stehen.
Die Verfahren im Kindes- und Erwachsenenschutz sollten deshalb auf Bundesebene harmonisiert werden, wobei die rechtsgleiche Umsetzung und die Mitwirkung der betroffenen Personen gestärkt werden müssen.
Kindesschutz prioritär behandeln
Schliesslich zeigt das NFP 76: Die Betreuung und Unterbringung von Kindern und Jugendlichen beruht auf einem Finanzierungsmix, an dem je nach Bereich Bund, Kantone und Gemeinden beteiligt sind. Offenbar hängt die Zahl der Fremdplatzierungen davon ab, welche Ebene darüber entscheidet. Bestimmen Gemeinden, die auch für die Sozialhilfe zuständig sind, statt kantonale Verwaltungsbehörden oder Gerichte, werden weniger Platzierungen angeordnet. Finanzielle Anreize spielen somit eine wichtige, wenn auch schwer durchschaubare Rolle.
Die Regeln der Finanzierung sollten deshalb so auszugestalten sein, dass genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, Fehlanreize vermieden werden und Transparenz für alle Beteiligten gewährleistet wird. Die Betroffenen müssen in ihrer Selbstbestimmung gefördert werden – und hilfreich sind niederschwellige Unterstützungsformen.
Insbesondere Jugendliche, die ohne ihre Eltern oder erwachsene Begleitpersonen in die Schweiz geflüchtet sind und in Kollektivunterkünften oder bei Pflegeeltern leben, werden oft fremdbestimmt. Ihre Betreuung ist aufgrund ungeklärter Zuständigkeiten zwischen Asylrecht und Kindesschutz und des Spardrucks, unter dem die Behörden stehen, mangelhaft. So beeinträchtigen Sachzwänge das Kindeswohl und schränken die Partizipation ein.
Der Kindesschutz ist deshalb gegenüber der Asylpolitik ins Zentrum zu stellen. Herkunft, biografische Erfahrungen und Anliegen der Betroffenen sollen im Kindesschutz – aber auch im Erwachsenenschutz – stärker als bisher berücksichtigt werden.
Die Arbeiten des NFP 76 verstehen sich als Anregung für Politik und Praxis, um die Chancengerechtigkeit und die institutionellen Voraussetzungen zu verbessern. Wichtig ist, dass in diesem Prozess die betroffenen und vulnerablen Menschen mit einbezogen werden.