Herr Germann, wie sind Sie als Historiker zum Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) gekommen?
Ich bin Quereinsteiger, wobei man ja Gleichstellungsarbeit als Tätigkeit nirgends erlernen oder studieren kann. Ich habe eine klassische Karriere als Historiker eingeschlagen und 15 Jahre im Bundesarchiv gearbeitet. Das Thema der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen hat mich immer interessiert, auch aus eigener Betroffenheit. Ich lebe seit Geburt mit einer Hörbehinderung und bin in einem hörenden Umfeld aufgewachsen. Ich hatte dann die Möglichkeit, die Leitung der Fachstelle Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen der Stadt Bern zu übernehmen. So bin ich «on the job» ins Thema reingekommen. Vor fünf Jahren habe ich schliesslich zum EBGB gewechselt.
Weshalb dieser Wechsel?
Es hat mich gereizt, bei gesamtschweizerischen Projekten und Geschäften mitzuarbeiten und die Behindertenpolitik des Bundes mitzugestalten. Ich habe beim EBGB zu verschiedenen Themen Dossiers betreut, etwa zur Anerkennung der Gebärdensprache oder zur Inklusion in der Arbeitswelt. Nun freue ich mich, als Nachfolger von Andreas Rieder das EBGB zu leiten.
Welche Themen haben Sie als Historiker behandelt?
Meine Doktorarbeit habe ich zur Psychiatriegeschichte geschrieben. Das ist ein Thema, das mich noch heute beschäftigt: Es hat einen Bezug zu Behinderung und zum gesellschaftlichen Umgang mit Personen, die mit psychischen Behinderungen leben oder gesellschaftlich marginalisiert werden. Dann habe ich zur Geschichte des Strafvollzugs geforscht und zur Thematik der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Ich habe am Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission «Administrative Versorgung» mitgearbeitet. Auch am Nationalen Forschungsprogramm 76 «Fürsorge und Zwang» konnte ich mitwirken.
Das klingt spannend. Weshalb sind Sie aus der Geschichtswissenschaft ausgestiegen?
Ich hatte in meinem Arbeitsleben bis vor Kurzem immer zwei Standbeine – eines in der Verwaltung und eines in der Forschung. Ich fand das Pendeln zwischen zwei Welten immer spannend. Meine Forschungsarbeiten werde ich nun aber abschliessen, und ich werde mich auf die Leitung des EBGB konzentrieren.
Das EBGB setzt sich als Fachstelle des Bundes für die volle, selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben ein. Wie weit sind wir mit dieser Teilhabe?
Wir haben in den letzten 20 Jahren zwar wichtige Fortschritte erzielt, aber nach wie vor besteht Handlungsbedarf. Das hat vor drei Jahren auch der Ausschuss der UNO zur Behindertenrechtskonvention festgestellt. Die konkrete Umsetzung ist oft langwierig, gerade in der Schweiz, wo die Zuständigkeiten zwischen Bund und Kantonen verteilt sind. Es ist wichtig, dass wir kontinuierlich Fortschritte machen. Gleichstellungsarbeit ist eine Daueraufgabe. Gesellschaftliche und technologische Entwicklungen wie die Digitalisierung sorgen für neue Herausforderungen. Es ist unsere Aufgabe, sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen nicht vergessen oder benachteiligt werden.
Einen weiteren Schritt soll die Inklusionsinitiative bringen. Der Bundesrat hat Ende Juni einen indirekten Gegenvorschlag dazu verabschiedet. Weshalb?
Der Gegenvorschlag hat zum Ziel, einen programmatischen Rahmen zur Förderung der Inklusion zu schaffen und Bund und Kantonen eine gemeinsame Richtung vorzugeben. Konkret heisst das: Der indirekte Gegenvorschlag besteht aus einem Inklusionsrahmengesetz, das Ziele und Grundsätze beinhaltet, die sich an der UNO-Behindertenrechtskonvention orientieren. Im Bereich Wohnen soll es konkretere Vorgaben geben, damit Menschen mit Behinderungen ihren Wohnort und ihre Wohnform frei wählen können. Der zweite Teil der Vorlage umfasst eine Teilrevision des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG).
Weshalb ist für den Bundesrat ein Gegenvorschlag besser als die Initiative?
Der Bundesrat unterstützt prinzipiell das Anliegen der Initiative. Aber sie geht nicht weiter als das, was bereits heute in der Bundesverfassung verankert ist. Der Bundesrat will einen indirekten Gegenvorschlag, um die Entwicklung in einzelnen Bereichen schneller anstossen zu können. Das betrifft auch die IV. So sollen Menschen mit Behinderungen einen besseren Zugang zu technisch modernen Hilfsmitteln haben, und der Zugang zum Assistenzbeitrag soll für Personen mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit verbessert werden. Ebenfalls soll eine Rechtsgrundlage für Pilotversuche zur Förderung des selbstbestimmen Wohnens geschaffen werden.
Wie bei der Inklusionsinitiative steht beim EBGB die Inklusion im Zentrum. In der IV geht es zentral um berufliche Integration. Was ist der Unterschied zwischen Inklusion und Integration?
Gemäss gängiger Auffassung bedeutet Integration, dass Menschen mit Behinderungen in eine nicht behinderte Gesellschaft «eingepasst werden». Dabei wird die Anpassung des Einzelnen unterstützt – etwa mit Hilfsmitteln oder Assistenz. Massgebend bleiben aber die Erwartungen der Gesellschaft. Das aktuelle Verständnis von Inklusion geht dagegen von einer Gesellschaft aus, die für alle zugänglich ist und die die unterschiedlichen Voraussetzungen aller Menschen respektiert und anerkennt. Die Gesellschaft soll sich den Bedürfnissen der Individuen anpassen – und nicht umgekehrt.
Ergänzen sich die beiden Konzepte, oder sind sie auch ein Widerspruch?
Es braucht beide Konzepte. Das Konzept der Inklusion setzt auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene an. Dazu gehören der Abbau von Hindernissen, die Sensibilisierung und der konsequente Einbezug von Menschen mit Behinderungen. Ein inklusives Arbeitsumfeld etwa bietet Rahmenbedingungen, die es Menschen mit Behinderungen erlaubt zu arbeiten: hindernisfrei zugängliche Räumlichkeiten oder die Möglichkeit, Teilzeit zu arbeiten. Es ist aber davon auszugehen, dass es auch in einer inklusiveren Gesellschaft weiterhin in vielen Bereichen spezifische Unterstützungsmassnahmen und den Ausgleich von Nachteilen brauchen wird, um die Integration in bestehende Strukturen zu ermöglichen. Die Massnahmen der IV können in solchen Fällen zusätzlich auf der individuellen Ebene unterstützen.
«Das Konzept der Inklusion setzt auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene an»
Das zweite wichtige gesetzliche Vorhaben im Bereich der Behindertengleichstellung ist die Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes. Als Erstes wird der Nationalrat darüber befinden. Was schlägt der Bundesrat vor?
Die Vorlage des Bundesrats hat drei Stossrichtungen. Erstens sollen Benachteiligungen im Bereich der Arbeit abgebaut werden. Zweitens will der Bundesrat den Zugang zu öffentlich zugänglichen Dienstleistungen verbessern: Arbeitgebende und Dienstleistungserbringende sollen verpflichtet werden, den Zugang für Menschen mit Behinderungen zu verbessern, indem sie bei Bedarf angemessene Vorkehrungen treffen. Dies mit dem Ziel, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt am Arbeitsleben teilnehmen und Dienstleistungen in Anspruch nehmen können. Der dritte Punkt ist die Anerkennung und die Förderung der schweizerischen Gebärdensprachen.
Was heisst das konkret?
Im Bereich der Arbeit geht es vor allem um organisatorische Anpassungen im konkreten Fall – etwa um die Ermöglichung flexibler Arbeitszeiten, um Anpassungen des Stellenprofils oder des Arbeitspensums. Bei den Dienstleistungen geht es insbesondere um die Verpflichtung, digitale Dienstleistungen im Rahmen der Verhältnismässigkeit barrierefrei anzubieten.
Das EBGB hat vor 20 Jahren mit einer Person angefangen, aktuell sind es zwölf Personen. Was sind die Hauptaufgaben?
Im Zentrum stehen zum einen die Beratung und die Sensibilisierung der Bundesverwaltung in Bezug auf Anliegen und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen, die Vernetzung von Bund, Kantonen und Organisationen sowie die Umsetzung von gleichstellungspolitischen Massnahmen. Zum anderen unterstützen wir schweizweit Projekte aus unterschiedlichen Bereichen der Gleichstellung mit einem Betrag von 2,5 Millionen Franken pro Jahr. So können wir die Gleichstellungsarbeit auch auf der Umsetzungsebene fördern.
Wie hat sich diese Arbeit in den letzten Jahren verändert?
Mit den aktuellen Gesetzesvorlagen und der zunehmenden Zahl von parlamentarischen Vorstössen in unserem Themenbereich hat sich die Arbeit des EBGB in den letzten zwei Jahren verändert. Die gesetzgeberischen Aufgaben nehmen uns derzeit sehr stark in Anspruch. Zudem kommen immer wieder neue Themen auf, etwa Fragen im Zusammenhang mit dem Europäischen Rechtsakt der Barrierefreiheit (EAA). Auch solche Entwicklungen im Ausland beeinflussen vermehrt unsere Arbeit.
Urs Germann
Urs Germann leitet seit dem 1. Mai 2025 das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB). Der 52-jährige promovierte Historiker war seit 2020 als wissenschaftlicher Mitarbeiter bereits beim EBGB tätig und arbeitete als assoziierter Forscher an der Universität Bern mit Schwerpunkt Psychiatriegeschichte sowie als Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Nordwestwschweiz. Er trat die Nachfolge von Andreas Rieder an, der das Amt des Vizedirektors des Bundesamts für Justiz übernommen hat. Das EBGB setzt sich als Fachstelle des Bundes für die volle, selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben ein. Organisatorisch ist das EBGB im Generalsekretariat des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) angesiedelt. (Foto: Lukas Lehmann / GS-EDI)