Krankenversicherung: Jüngste Anpassungen im Risikoausgleich zeigen Wirkung

Um Anreize zur Risikoselektion für Krankenversicherer zu reduzieren, werden in der obligatorischen Krankenpflegversicherung seit 2020 sogenannte pharmazeutische Kostengruppen berücksichtigt. Die Verfeinerung des Risikoausgleichs hat sich bewährt, wie eine Studie zeigt.
Fabrice Perler
  |  22. Februar 2024
    Forschung und Statistik
  • Krankenversicherung
Ambulant behandelte Krankheiten wie Diabetes können zu hohen Kosten in der Grundversicherung führen. (Alamy)

Auf einen Blick

  • Eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit untersucht, wie sich die 2020 eingeführten pharmazeutischen Kostengruppen auf den Risikoausgleich ausgewirkt haben.

  • Dank der Massnahme sind die Anreize für Versicherer gesunken, möglichst viele gesunde Menschen zu versichern.

  • Die mittleren Prämien der Krankenversicherer haben sich angeglichen.

In der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) dürfen Versicherer keine Gewinne erzielen und können nur eine einheitliche Prämie verlangen, die sich lediglich nach Region und Altersgruppe (Kinder, junge Erwachsene, Erwachsene) unterscheidet. Diese Einheitsprämie ist somit unabhängig von den zu erwartenden Gesundheitskosten aufgrund des Alters, Geschlechts oder allfälliger Vorerkrankungen. Krankenversicherer haben daher einen Anreiz, möglichst gesunde und damit kostengünstige Versicherte zu gewinnen, beziehungsweise eine sogenannte Risikoselektion zu betreiben.

Um diese Risikoselektion zu reduzieren, wurde ab Mitte der Neunzigerjahre ein Risikoausgleich geschaffen. Dieser hat zum Ziel, den zu erwartenden Leistungsbedarf der einzelnen Versicherten auf Grund geeigneter Indikatoren vorauszuberechnen und einen finanziellen Ausgleich zwischen Krankenversicherern mit unterschiedlicher Struktur der Versichertenbestände zu schaffen. Versicherer mit vielen «schlechten» Risiken erhalten Ausgleichszahlungen von Versicherern mit vielen «guten» Risiken und umgekehrt. Im Jahr 2022 summierten sich diese Ausgleichszahlungen auf rund 1,8 Milliarden Franken.

Die Berechnung des Risikoausgleichs wurde seit seiner Einführung im Jahr 1993 kontinuierlich verfeinert. So werden inzwischen nebst Alter und Geschlecht auch Aufenthalte in Spitälern und Pflegeheimen berücksichtigt. Im Jahr 2020 wurde der Risikoausgleich schliesslich um sogenannte pharmazeutische Kostengruppen (PCG) erweitert (vgl. dazu Schmid-Appert 2020). Ziel ist es, das Morbiditätsrisiko für chronische Erkrankungen im ambulanten Bereich abzubilden.

Pharmazeutische Kostengruppen umfassen Gruppen von Arzneimitteln, die zur Behandlung bestimmter, oft chronischer Krankheiten wie Diabetes, Asthma oder Multiple Sklerose eingesetzt werden. Diese ambulant behandelten Krankheiten führen zu hohen Kosten in der Grundversicherung.

Evaluation der pharmazeutischen Kostengruppen

Wie haben sich die pharmazeutischen Kostengruppen auf den Risikoausgleich zwischen den Versicherern ausgewirkt? Im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) haben die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und die Universität Luzern einen Schlussbericht zur Wirkungsanalyse erstellt (Bürgin et al. 2024a; Executive Summary: Bürgin et al. 2024b).

Die Studie basiert insbesondere auf den verfügbaren anonymisierten Individualdaten zum Risikoausgleich und zur obligatorischen Krankenpflegeversicherung. Zudem wurden weitere Analysen mit öffentlich verfügbaren Daten zu den Prämien und der OKP-Statistik erstellt sowie eine Umfrage bei den Versicherern durchgeführt.

Das Evaluationsteam kommt zum Schluss, dass der finanzielle Ausgleich zwischen Versicherern, die eine unterschiedliche Versichertenstruktur aufweisen, mit der Einführung der pharmazeutischen Kostengruppen verbessert werden konnte. Einerseits kann der erwartete Leistungsbedarf pro versicherte Person besser vorhergesagt werden als im ursprünglichen Risikoausgleich vor 2020. Andererseits kann mehrheitlich die vorgesehene Zielgruppe der chronisch Erkrankten erfasst und somit besser kompensiert werden. Der neue komplexere Risikoausgleich führt aber zu mehr Aufwand bei allen beteiligten Akteuren und zu mehr Unsicherheit bei der Planung der Ausgleichszahlungen bei den Versicherern.

Gemäss der Studie haben die pharmazeutischen Kostengruppen die Anreize zur Risikoselektion reduziert. Im Vergleich zu früher ist es für Krankenversicherer weniger attraktiv, junge und gesunde Versicherte zu gewinnen. Somit wird der Risikoausgleich in dieser Hinsicht gestärkt.

Allerdings besteht das Risiko, dass dieser neue Morbiditätsindikator seinerseits neue Möglichkeiten zur Risikoselektion eröffnet. Ein Beispiel: Für Versicherte aus der pharmazeutischen Kostengruppe «Nierenerkrankung» erhalten die Versicherer viel Geld aus dem Risikoausgleich. Versicherer könnten somit interessiert sein, möglichst viele Personen aus dieser Kostengruppe zu versichern. Da gesamtschweizerisch nur sehr wenige Personen in diese spezifische Kostengruppe eingeteilt werden, ist die Gefahr einer Risikoselektion in der Praxis jedoch klein.

Prämien gleichen sich an

Ein funktionierender Risikoausgleich sollte – zumindest zum Teil – im Verlaufe der Zeit zu einer Angleichung der Prämien zwischen den Krankenversicherern führen. Denn die Leistungskosten inklusive Risikoausgleich sollten sich pro versicherte Person annähern. Wie haben sich also die pharmazeutischen Kostengruppen auf die Prämien ausgewirkt?

Ab 2020 haben sich die durchschnittlichen Prämieneinnahmen der Versicherer (mittlere Prämien) tatsächlich angeglichen (siehe Grafik). Die grösste Veränderung fand 2020 statt und in geringerem Ausmass auch 2021. Dabei gilt festzuhalten, dass allenfalls weitere Faktoren, die in der Studie nicht untersucht wurden, zur Angleichung der Prämien geführt haben könnten.

Mittlere Prämie pro Krankenversicherer in Franken (2017–2021)

Die Streuung der schweizweiten mittleren Prämie pro Versicherer von 2017 bis 2021 ist mittels Boxplots dargestellt. Die Box gibt den Bereich an, in dem die mittleren 50 Prozent aller Werte liegen. Der durchgehende Strich und die Zahl innerhalb der Box stellen den Median dar. Durch die Antennen ober- und unterhalb der Box werden die Werte am Rande der Verteilung dargestellt. Die Enden entsprechen dem jeweiligen kleinsten respektive höchsten Wert (Minimum bzw. Maximum). Ab 2020 nimmt die Streuung ab: Einerseits verkleinert sich der Bereich der mittleren 50 Prozent aller Werte (weniger hohe Boxen) und andererseits werden die Antennen (also Abstand zwischen Minimum und Maximum) kürzer.

Studie empfiehlt: Berechnung und Durchführung optimieren

Gemäss dem Evaluationsteam hat die Wirkungsanalyse deutlich gezeigt, dass durch die Aufnahme der pharmazeutischen Kostengruppen in den Risikoausgleich zahlreiche Verbesserungen erzielt worden sind. Nichtsdestotrotz hat die Autorenschaft auch einige Aspekte identifiziert, bei denen Anpassungsbedarf besteht und Empfehlungen formuliert. Unter anderem schlagen die Autorinnen und Autoren vor, die Berechnungsweise des Risikoausgleichs und den Durchführungsprozess zu optimieren. Zudem empfehlen sie, weitere Analysen vorzunehmen.

Im Anschluss an die Wirkungsanalyse hat das BAG eine Stellungnahme verfasst (BAG, 2024). Die Verbesserungen des Risikoausgleichs, die mit der Einführung der pharmazeutischen Kostengruppen erzielt wurden, sind aus Sicht des BAG erfreulich. Aufgrund der mehrheitlich positiven Resultate hinsichtlich der Wirksamkeit der pharmazeutischen Kostengruppen plant das BAG kurzfristig keine grösseren Anpassungen am Risikoausgleich. Es sollen aber weitere Analysen gemacht werden, in welchen insbesondere die medizinische Validität der pharmazeutischen Kostengruppen untersucht werden.

Einzelne Empfehlungen hat das BAG in der Zwischenzeit bereits umgesetzt. Zum Beispiel ist die Statistik zum Risikoausgleich ausgeweitet worden, um eine bessere Datengrundlage für Risikoausgleichs-Schätzungen der Versicherer zu schaffen. Weiter wurde eine Fachgruppe Risikoausgleich, vertreten durch das BAG, die Versicherer, deren Verbände und der Gemeinsamen Einrichtung KVG, ins Leben gerufen. In dieser Gruppe werden unter anderem aktuelle Themen zum Risikoausgleich und mögliche Verbesserungen besprochen. Zudem beantwortet die Fachgruppe auch praktische Fragen zur jährlichen Durchführung des Risikoausgleichs. Ein erstes Treffen ist im Frühling 2024 geplant.

Literaturverzeichnis

BAG (2024). Stellungnahme zur Wirkungsanalyse zum Risikoausgleich mit pharmazeutischen Kostengruppen (PCG), 22. Februar.

Bürgin, Reto; Stucki, Michael; Vetsch-Tzogiou, Christina; Kauer, Lukas; Kohler, Andreas; Drewek, Anna; Thommen, Christoph; Dettling, Marcel; und Wieser, Simon (2024a). Wirkungsanalyse zum Risikoausgleich mit pharmazeutischen Kostengruppen (PCG). Schlussbericht im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG), 4. Januar.

Bürgin, Reto; Stucki, Michael; Vetsch-Tzogiou, Christina; Kauer, Lukas; Kohler, Andreas; Drewek, Anna; Thommen, Christoph; Dettling, Marcel; und Wieser, Simon (2024b). Wirkungsanalyse zum Risikoausgleich mit pharmazeutischen Kostengruppen (PCG). Executive Summary im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG), 4. Januar.

Schmid-Appert, Monika (2020). Gezielte Entlastung von Krankenkassen mit kostenintensiven Versicherten. Soziale Sicherheit CHSS. 5. Juni.

Stv. Sektionsleiter, Prämien und Solvenzaufsicht, Bundesamt für Gesundheit (BAG)
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