Nationales Programm gegen Armut – Zwischenstand und Ausblick

Mangelnde Bildung, Langzeitarbeitslosigkeit, Verschuldung oder auch ­unvorhergesehene ­Lebensereignisse können den Weg in die Armut begründen. Am nachhaltigsten ­vorbeugen und bekämpfen lässt sie sich über Bildung sowie soziale und berufliche Integra­tion. 2014 lancierte der Bundesrat ein entsprechendes Programm.
Gabriela Felder
  |  03. Juni 2016
  • Armut
  • Gesellschaft

In den vergangenen Jahren waren rund acht Prozent der ständigen schweizerischen Wohnbevölkerung von Einkommensarmut betroffen, weitere 16 Prozent davon bedroht. Besonders gefährdete Gruppen sind Kinder aus benachteiligten, bildungsfernen Familien, Alleinerziehende sowie Personen ohne nachobligatorische Bildung. Aber auch Langzeitarbeitslosigkeit, Scheidung oder Verschuldung können am Anfang eines Weges in die Armut stehen. Armut bedeutet nicht nur ein Mangel an materiellen Grundbedürfnissen (Kleider, Nahrungsmittel etc.), sondern auch soziale Ausgrenzung. Die verschiedenen sozialen, arbeitsmarktlichen und individuellen Ursachen erfordern eine passgenaue und zielgerichtete Ausgestaltung der Leistungen. Aus Studien ist bekannt, dass Bildung sowie soziale und berufliche Integration Armut am nachhaltigsten vorbeugen oder bekämpfen. Besonders wichtig sind präventive Massnahmen ab der frühen Kindheit. Denn in den ersten Lebensjahren werden entscheidende Weichen für das weitere Leben gestellt und es kann noch stark auf die Entwicklung eingewirkt werden. Aufwachsen in einem anregenden Lebensumfeld wirkt sich positiv auf den weiteren Lebensverlauf und das Armuts­risiko aus.

Nationales Programm – gemeinsam gegen Armut  Armut hat vielfältige Ursachen. Deshalb muss sie in unterschiedlichen Politikfeldern und auf allen staatlichen Ebenen bekämpft werden. In einem föderal strukturierten Aufgabengebiet, wie der Armutsprävention und -bekämpfung, ist es unabdingbar, dass die verschiedenen Akteure ihre Entscheidungen und ihre Aktivitäten aufeinander abstimmen. Aus diesem Grund lancierte der Bundesrat 2014 das Nationale Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut, das er partnerschaftlich mit Kantonen, Städten, Gemeinden, Organisationen der Zivilgesellschaft sowie weiteren Bundesstellen umsetzt. Bis 2018 stellt der Bund hierfür insgesamt neun Millionen Franken zur Verfügung. Hauptzielsetzung des Programms ist die Weiterentwicklung von Präventions- und Bekämpfungsmassnahmen, indem neue Grundlagen und Instrumente geschaffen, aber auch innovative Ansätze erprobt werden. Wichtig ist auch die Förderung der Zusammenarbeit und des fachlichen Austauschs aller an der Armutsprävention und -bekämpfung Beteiligter.

Vier Handlungsfelder  Im Vorfeld des Programms haben die Entscheidungs- und Aufgabenträger der Armutsbekämpfung und -prävention gemeinsam Forschungslücken sowie den Handlungsbedarf identifiziert und diese vier Handlungsfeldern zugeordnet. Neben dem Schwerpunkt Bildungschancen greift das Programm Fragen der sozialen und beruflichen Integration auf, beschäftigt sich – mit Fokus auf die Familienarmut, die Wohnsituation und das Informations- und Beratungsangebot – mit den allgemeinen Lebensbedingungen Betroffener und prüft die Möglichkeiten eines landesumspannenden Monitorings.

Bildungschancen im Zentrum  Zentrales Interesse des Programms liegt in der Stärkung von Bildungschancen der sozial benachteiligten, bildungsfernen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen. Neben den entsprechenden wissenschaftlichen Studien und der Erarbeitung eines Praxisleitfadens werden rund 30 Modell- und Pilotprojekte unterstützt, die sich der frühen Förderung sozial benachteiligter Kinder verschrieben haben oder Betroffene am Übergang in die Schule, bei der Berufswahl und beim Berufseinstieg begleiten, Lehrabbrüche verhindern oder die berufliche Grundbildung für Erwachsene ohne abgeschlossene Berufsbildung unterstützen.

Frühe Förderung  In den letzten Jahren hat die frühe Förderung einiges an Dynamik gewonnen. Trotz des Engagements einer Vielzahl von Akteuren wie Mütter- und Väterberatungsstellen, Kindertagesstätten, Spielgruppen, Pädiatern, Verbänden und Stiftungen besteht Weiterentwicklungsbedarf bei der Qualitätssicherung der Angebote und dem Zugang dazu, der sich für benachteiligte Familien als besonders schwierig erweist. Genau da setzt das Programm mit seinem spezifischen Fokus auf die Bedürfnisse armutsgefährdeter oder -betroffener Familien an. Es fördert nicht nur Projekte, welche die Qualität des Angebots analysieren, sondern auch solche, die darüber nachdenken, wie sich Zugangshürden abbauen oder die Eltern zur Zusammenarbeit gewinnen lassen. Beispielsweise erscheint im Sommer 2016 ein Praxisleitfaden, der Kindertagesstätten, Spielgruppen, Tagesfamilien, aber auch familienaufsuchenden Programmen Kriterien guter Praxis in die Hand gibt und alle Interessierten darin anleitet, wie sich ein Angebot zur Stärkung sozial benachteiligter Kinder und ihrer Familien überprüfen oder wirkungsorientiert weiterentwickeln lässt.

Berufseinstieg, Berufswahl und Nachhol­bildung  Personen ohne Berufsabschluss in prekären Beschäftigungsverhältnissen sind überproportional von Armut betroffen. Zentraler Ansatzpunkt der Prävention ist deshalb die Unterstützung benachteiligter Jugendlicher und ihrer Eltern bereits während der Berufswahl, der Berufsausbildung oder des Einstiegs in den Beruf. Auch die Nachholbildung geringqualifizierter Erwachsener steht im Fokus des Programms.

Eine Vielzahl von Akteuren bietet rund um die Berufswahl und -ausbildung bereits eine grosse Auswahl an spezifischen Lösungen an. Demzufolge kann das Programm hier seine Mittel darauf konzentrieren, Lücken zu schliessen und Impulse für Felder mit hohem Entwicklungsbedarf zu geben. So unterstützt es verschiedene Modell- und Pilotprojekte, welche Jugendlichen beim Erlangen einer Berufsausbildung zur Seite stehen, sie vor einem Lehrabbruch bewahren oder Personen ohne nachobligatorische Berufsbildung eine Chance bieten, sich beruflich weiterzuentwickeln. Um sozial benachteiligte Eltern zu befähigen, ihre Kinder im Prozess der Berufswahl zielgerichtet zu begleiten, wurde ein entsprechender Leitfaden erstellt.

Soziale und berufliche Integration  Sozial und beruflich integriert zu sein, bedeutet, aktiv im Arbeitsmarkt zu stehen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Das System der sozialen Sicherheit zielt darauf ab, die Bevölkerung gegen existenzgefährdende Risiken abzusichern und ein Existenzminimum zu gewährleisten. Dabei unterstützen die Sozialhilfe, die Arbeitslosen- und die Invalidenversicherung die soziale und berufliche Integration nicht nur monetär, sondern vielmehr auch mit flankierenden Massnahmen. Ebenso stehen Akteure aus dem Berufs-, Bildungs-, Migrations- oder Gesundheitswesen gefährdeten Menschen bei der Suche nach beruflicher und sozialer Stabilität bei. Bisherige Untersuchungen und Erfahrungen zeigen, dass die Unterstützung und Stärkung der Ressourcen insbesondere Erwerbsloser deren Chancen auf eine neue Arbeitsstelle erhöhen und einen wichtigen Beitrag an ihre soziale Integration leisten. Die Arbeitsintegration ist deshalb ein wichtiges Wirkungsfeld der Armutsprävention, das in der Schweiz sehr heterogen organisiert ist. Eine wichtige Rolle spielen dabei v. a. Unternehmen der sozialen und beruflichen Integration (USBI), auch bekannt als Sozialfirmen. Bislang war über ihre Wirkung wenig bekannt. Zur Schliessung dieser Forschungslücke analysierte das Programm rund 300 Sozialfirmen und identifizierte erste Faktoren, die entscheidend sind, um die Arbeitseinsätze möglichst integrationsorientiert und -versprechend zu planen und zu gestalten.

Allgemeine Lebensbedingungen

Wohnen  Armutsbetroffene und gefährdete Menschen haben nicht nur Mühe, geeignete Wohnungen zu finden, sondern auch, diese zu halten. Aufgrund des knapper werdenden Wohnraums in urbanen Gebieten werden die Frage von günstigem Wohnraum und neue Ansätze der Wohnversorgung insbesondere in Städten vermehrt öffentlich diskutiert. Sozialhilfestatistiken bestätigen, dass Wohnkosten für einkommensschwache Haushalte eine grosse Belastung sind und meist den grössten Teil des Budgets in Anspruch nehmen. Oft zwingen sie die armutsbetroffenen Haushalte dazu, sich bei anderen Grundbedürfnissen wie Ernährung und Kleidung einzuschränken. Benachteiligte Menschen sind zur erfolgreichen Vermittlung und Sicherung ihrer Wohnungen nicht nur auf monetäre Unterstützung, wie Wohnzuschüsse und Übernahme von Mietzinsgarantien, sondern auch auf weitere Hilfestellungen wie Beratung zum Umgang mit Nachbarschaftskonflikten angewiesen.

Im Rahmen des Programms konnten bisher zwei Studien zum Wohnen abgeschlossen werden. Die erste identifiziert zwei mögliche Handlungsansätze für die nachhaltige Stabilisierung der Wohnversorgung armutsgefährdeter und -betroffener Haushalte. Zum einen wäre mit einer adäquaten Objekt- und Subjekthilfe die Belastung durch Mietzinskosten zu senken. Zum anderen wären die Bestrebungen zu intensivieren, die Gefahr eines Verlusts einer bereits bewohnten Wohnung durch eine geeignete soziale Begleitung zu minimieren. Die zweite Studie untersuchte das landesweite Angebot an nicht monetären Leistungen zur Verbesserung der Wohnversorgung und empfiehlt diesbezüglich erstens eine niederschwellige Beratung und Unterstützung bei der Wohnungssuche sowie mehr Wohnvermittlungsstellen und Massnahmen, die Betroffene vor einer Kündigung der Wohnung bewahren. Zweitens sei es ratsam, Menschen mit Mehrfachproblematiken in eigenen oder durch die betreuende Organisation angemieteten Liegenschaften intensiv zu begleiten und zu betreuen.

Familienarmut  Oftmals leiden Kinder am meisten unter Armut. Nicht nur sind ihre Bildungschancen wesentlich unterdurchschnittlich, sondern ihr Armutsrisiko ist auch deutlich höher als dasjenige der Erwachsenen. Folglich ist die Prävention und Bekämpfung von Familienarmut eine der zentralen sozialpolitischen Aufgaben. In der Schweiz wohnhafte Familien finden unterschiedliche Rahmenbedingungen und Unterstützungsangebote vor. Wie gut die Leistungen auf das vielschichtige Bedürfnis der betroffenen Familien ausgerichtet sind, ist nicht bekannt.

Bei der Familienpolitik handelt es sich um eine politische Querschnittsaufgabe, die von der Sozial- über die Gesundheits- bis zur Bildungspolitik reicht und viele Schnittstellen aufweist. Die Verantwortung für die entsprechenden Leistungen wie Beratungsangebote, Prämienverbilligungen oder subventionierte Kinderbetreuung liegt hauptsächlich bei den Gemeinden und Kantonen. Das Nationale Programm gegen Armut nimmt sich deshalb gezielt einer Lücke im Bereich Grundlagen an und analysiert kommunale Strategien, Massnahmen und Leistungen zur Prävention und -bekämpfung von Familienarmut.

Informationen für armutsbetroffene Menschen  Brauchbare Informationen zum Angebot an Beratungsstellen und Unterstützungsleistungen, die zur Bewältigung einer schwierigen Lebenslage beitragen können, sind für die Betroffenen oft ein wichtiger erster Anhaltspunkt zur eigenständigen Verbesserung ihrer Situation. Aufgrund der ausgeprägten Governance-Struktur in der Zusammenarbeit einer Vielzahl von privaten und öffentlichen Akteuren, ist es schwierig, sich eine Übersicht zu verschaffen. Die jeweiligen Anbieter bilden ihre Dienstleistungen in der Regel online und schriftlich ab. Doch erreichen diese wichtigen Informationen benachteiligte Menschen oftmals nur unzureichend. Deshalb gehört es zu den Aufgaben des Programms, Wege aufzuzeigen, wie die Informationen besser an die Adressaten gelangen. Dazu werden in einem ersten Schritt bestehende Online-Informationsplattformen und niederschwellig zugängliche Informationsstellen analysiert.

Schweizweites Monitoring über Armut?  Sowohl auf Bundes- als auch auf kantonaler Ebene werden Daten erfasst, die Aufschluss über die Verbreitung von Armut und Armutsgefährdung geben. Allerdings fehlen bislang belastbare Zeitreihen, Messungen oder Indikatoren, die einem landesweiten und stringenten Armutsmonitoring gerecht würden. Deshalb prüft das Programm Möglichkeiten eines umfassenderen Monitorings. In einem ersten Schritt werden hierzu die bestehenden Armuts- und Sozialberichterstattungen des Bundesamts für Statistik und der Kantone inhaltlich und konzeptionell erschlossen. Nach Kenntnisnahme des Forschungsberichts, wird der Bundesrat über die allfällige Einführung eines Monitorings entscheiden.

Zwischenbilanz  Die Programmstrukturen sind aufgebaut, die Arbeitsschwerpunkte bestimmt und die Zusammenarbeitsformen und Abläufe definiert. In allen vier Handlungsfeldern wurden Forschungsvorhaben konzipiert und in Auftrag gegeben. Die Website steht: Als dreisprachige Informationsplattform www.gegenarmut.ch / www.contre-la-pauvrete.ch / www.contro-la-poverta.ch dokumentiert sie umfassend und zeitnah alle Tätigkeiten und Ergebnisse des Programms. Auch die verschiedenen Forschungsberichte und Praxisleitfäden sowie die Informationen zu den unterstützten Pilot- und Modellprojekten sind dort greifbar. Regelmässige Fachtagungen und Konferenzen dienen dem Wissenstransfer und der Vernetzung, die in einem fragmentierten Handlungsfeld wie der Armutsbekämpfung und -prävention zentral sind. Gemäss bisherigen Rückmeldungen aus der Praxis ist es dem Programm bisher gut gelungen, die erhofften neuen Impulse für die Armutsprävention und -bekämpfung zu setzen.

Ausblick  Eine umfassende Zwischenbilanz des Programms erfolgt am 22. November 2016 im Rahmen der Nationalen Konferenz gegen Armut, an der erfolgsversprechende Ansätze und neue Erkenntnisse präsentiert und diskutiert werden. Im Anschluss an die Konferenz sollen Erkenntnisse vertieft, Good-Practice-Ansätze identifiziert, das gesammelte Wissen für die Praxis aufbereitet und der Austausch unter den Akteuren weitergepflegt werden. Bis zum Ende des Programms 2018 sollen die gesammelten Ergebnisse zusammengestellt, dem Bundesrat unterbreitet und ebenfalls anlässlich einer nationalen Konferenz präsentiert und reflektiert werden.

Ergebnisse und Veranstaltungen des Nationalen Programms gegen Armut:

Forschungspublikationen und Praxisleitfaden: www.gegenarmut.ch > Studien.

Veranstaltungen: www.gegenarmut.ch > Veranstaltungen.

Pilot- und Modellprojekte Bildungschancen: www. gegenarmut.ch > Projekte.

Lic. rer. soc., wissenschaftliche Mitarbeiterin, Bereich Alter, Generationen und Gesellschaft, 
FGG, BSV.
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