Um die Koordinierung der Sozialversicherungen zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich längerfristig sicherzustellen, haben die beiden Staaten nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU im Eiltempo ein neues Sozialversicherungsabkommen ausgehandelt. Dies ist Teil der Mind-the-Gap-Strategie des Bundesrates.
Auf einen Blick
- Im Rahmen des Brexit einigten sich das Vereinigte Königreich (UK) und die EU ebenso in letzter Minute auf ein Handels- und Koordinationsabkommen, das auch ihre Sozialversicherungen koordiniert.
- Das UK machte eine neue Koordination der Sozialversicherungen mit der Schweiz von der Vereinbarung mit der EU abhängig.
- Mit seiner Mind-the-Gap-Strategie versuchte der Bundesrat, die Rechte und Pflichten, die zwischen dem UK und der Schweiz unter dem FZA bestanden hatten, möglichst zu erhalten.
- Unterschiede zum EU-Recht und von Vereinbarungen, die unter dem FZA galten, wurden v.a. bei den Invalidenleistungen, den BVG-Guthaben, den Familienleistungen, der ALV, gewissen Bedarfsleistungen und beim Zugang zur freiwilligen AHV beschlossen.
- Das neue Sozialversicherungsabkommen, das die Schweiz und das UK seit dem 1. November 2021 provisorisch anwenden, ist eine Mischung zwischen der Koordinierung der Sozialversicherungen, wie sie die beiden Staaten unter dem FZA kannten, sowie den entsprechenden bilateralen Abkommen, welche die Schweiz mit Staaten ausserhalb der EU/EFTA abgeschlossen hat.
Im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) koordiniert die Schweiz ihre Sozialversicherungen im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens Schweiz–EU (FZA, SR 0.142.112.681). Das FZA gilt für das Vereinigte Königreich (UK) aufgrund des Brexit seit dem 31. Dezember 2020 nicht mehr. Das bilaterale Sozialversicherungsabkommen von 1968 (SR 0.831.109367.1), welches durch das Inkrafttreten des FZA suspendiert worden war, fand damit wieder Anwendung. Da das Abkommen von 1968 kein gleichwertiger Ersatz war, weil es nur die Rentenversicherung regelte und nie aktualisiert wurde, mussten die beiden Staaten rasch ein neues Abkommen aushandeln.
Die EU und das UK einigten sich im letzten Augenblick auf ein Handels- und Kooperationsabkommen (ABl. 2021 L 149/10), welches auch die Sozialversicherungen koordiniert und seit dem 1. Januar 2021 anwendbar ist. Da das UK die neue Regelung mit der Schweiz von der Vereinbarung mit der EU abhängig machte, konnten die Verhandlungen für ein neues Sozialversicherungsabkommen erst Anfang 2021 aufgenommen werden.
Im Rahmen seiner Mind-the-Gap-Strategie hatte der Bundesrat festgelegt, dass die unter dem FZA bestehenden Rechte und Pflichten zwischen der Schweiz und dem UK so weit als möglich bestehen bleiben sollten. Das Ergebnis ist ein umfangreiches Abkommen nach dem Muster des EU-Koordinationsrechts zwischen der EU und dem UK mit einem abgespeckten Geltungsbereich und zugeschnitten auf die bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Staaten.
Nach der Unterzeichnung des Abkommens im September 2021 durch den Vorsteher des eidgenössischen Departements des Innern, Bundesrat Alain Berset, in London, wird es seit dem 1. November 2021 provisorisch angewendet. Damit können negative Auswirkungen der Koordinierungslücke für Versicherte, Unternehmen und Durchführungsstellen zeitlich begrenzt werden. Definitiv Inkrafttreten wird das Abkommen, sobald die Parlamente
Weitgehende Rezeption des Abkommens EU–UK
Das neue Abkommen orientiert sich am Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem UK, welches viele Bestimmungen des EU-Rechts zur Koordinierung der sozialen Sicherheit (Verordnung (EG) Nr. 883/2004, SR 0.831.109.268.1) enthält. Zahlreiche Formulierungen sind deshalb identisch mit den Bestimmungen des FZA. In Anlehnung an die europäische Verordnung (EG) Nr. 987/2009 (SR 0.831.109.268.11) enthält das Abkommen in Anhang 1 auch sehr detaillierte Durchführungsbestimmungen. Diese bewusste Rezeption gewährleistet eine gewisse Kontinuität bezüglich der Vorschriften des FZA und eine Homogenität des anwendbaren Koordinationsrechts in Europa.
Bilaterale Koordinierung sowie Anwendung auf EU-Staatsangehörige
Im Unterschied zum FZA enthält das Abkommen nur bilaterale Bestimmungen, welche ausschliesslich die Sozialversicherungssysteme der Schweiz und des UK koordinieren. Die Bestimmungen des Abkommens gelten für die Schweiz einerseits und für das UK sowie Gibraltar andererseits. Für die Inseln Man, Jersey, Guernsey, Alderney, Herm und Jethou ist weiterhin das Sozialversicherungsabkommen von 1968 anwendbar.
Für ein bilaterales Sozialversicherungsabkommen der Schweiz ungewöhnlich ist die Tatsache, dass es nicht nur für Staatsangehörige der Vertragsstaaten, sondern auch für EU-Staatsangehörige gilt. Diese Ausdehnung des persönlichen Geltungsbereichs rechtfertigt sich in der Notwendigkeit, die Beziehungen zu einem ehemaligen EU-Mitgliedstaat neu zu regeln, dessen vormalig erwirkten Rechte und eingegangenen Verpflichtungen mit dem Brexit nicht einfach verfallen. Schweizer Staatsangehörige sind im übrigen auch in das Abkommen zwischen dem UK und der EU einbezogen. Damit gelten für die EU-Staaten sowie die Schweiz und das UK grundsätzlich gleichlautende Bestimmungen. Das UK wendet das Abkommen sogar, mit einer Ausnahme, unilateral auf Staatsangehörige von Drittstaaten an. Die Schweiz hingegen berücksichtigt Drittstaatsangehörige nur bei der Festlegung des anwendbaren Rechts.
Beispiel 1: Da Drittstaatsangehörige für die Versicherungsunterstellung ebenfalls vom Abkommen erfasst sind, kann ein Nordmazedonier, welcher in der Schweiz arbeitet, ins UK entsandt werden.
Bespiel 2: Die Schweiz bezieht Drittstaatsangehörige nicht in den Anwendungsbereich des neuen Sozialversicherungsabkommens mit ein (ausser für die Festlegung des anwendbaren Rechts). Ein südafrikanischer Staatsbürger, welcher im UK krankenversichert ist, kann deshalb nicht über die europäische Krankenversicherungskarte Leistungen bei einem Schweizer Leistungserbringer beziehen.
Beispiel 3: Eine deutsche Staatsangehörige, welche in der Schweiz krankenversichert ist, aber im UK wohnt, fällt in den persönlichen Anwendungsbereich des neuen Abkommens. Sie kann sich im UK für die Leistungsaushilfe registrieren lassen.
Bekannte Koordinierung, schlankerer Geltungsbereich
Das neue Sozialversicherungsabkommen enthält dieselben Koordinierungsgrundsätze wie das FZA (Gleichbehandlung; Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften; Zusammenrechnung der Versicherungszeiten, Leistungsexport, Amtshilfe und Zusammenarbeit der Behörden und Träger). Wobei sein Geltungsbereich weniger Leistungen als das FZA, aber mehr als die bilateralen Verträge mit Staaten ausserhalb der EU/EFTA umfasst. Das neue Abkommen koordiniert seitens der Schweiz neben der AHV/IV auch die KV, UV und in beschränktem Ausmass die ALV.
Im Bereich der Kranken- und Unfallversicherung ist wie im FZA die Leistungsaushilfe vorgesehen. Damit können Personen, die im anderen Staat wohnen oder sich dort aufhalten, bei einem Unfall oder einer Krankheit vor Ort Leistungen beziehen, welche dem dortigen Leistungserbringer im Anschluss durch ihre Krankenkasse oder den Unfallversicherer direkt erstattet werden.
Beispiel: Schweizer Touristen, die während ihrer Ferien im UK ins Spital müssen, können dort die europäische Krankenversicherungskarte (aufgedruckt auf der Rückseite der von der Krankenkasse ausgestellten Versicherungskarte) vorweisen. Sie werden behandelt, wie wenn sie im UK versichert wären und müssen keinen Kostenvorschuss leisten. Die Kosten werden der Schweizer Krankenkasse durch den britischen Sozialversicherungsträger in Rechnung gestellt.
Vorgesehen ist auch der elektronische Datenaustausch zur Durchführung des Abkommens analog zum EESSI-System (Electronic Exchange of Social Security Information), das für die Schweiz im Rahmen des FZA massgeblich ist. Einzelheiten werden durch den Gemischten Verwaltungsausschuss festgelegt.
Massgebliche Abweichungen vom EU-Recht
Die Schweiz war bereit, die Abweichungen vom EU-Koordinationsrecht zu übernehmen, die das UK und die EU in ihrem Vertrag vereinbart hatten. Umgekehrt akzeptierte das UK auch von der Schweiz gewünschte Abweichungen vom EU-Koordinationsrecht. Unterschiede zum EU-Recht und von bestimmten Vereinbarungen, die bislang unter dem FZA galten, wurden insbesondere bei den Invalidenleistungen, den BVG-Guthaben, den Familienleistungen, der ALV, gewissen Bedarfsleistungen und beim Zugang zur freiwilligen AHV beschlossen.
Invalidenleistungen und BVG-Guthaben
Eine wichtige, vom UK verlangte Abweichung vom EU-Koordinationsrecht ist der Nichtexport von Invaliditätsleistungen. Dieser wird sich jedoch erst mittelfristig und nur bei bestimmten Konstellationen auswirken, da die bestehenden Rechte durch das Abkommen zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger (SR 0.142.113.672) geschützt sind. Der Export von Schweizer Invaliditätsleistungen an Schweizer und EU-/EFTA-Staatsangehörige ist nach Schweizer Recht bzw. aufgrund des FZA und des EFTA-Übereinkommens hingegen weiterhin garantiert.
Im Unterschied zum FZA ist die berufliche Vorsorge im neuen Abkommen von der Koordinierung ausgeschlossen. Während das FZA die Barauszahlung von Guthaben aus dem obligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge bei einem definitiven Wegzug in einen EU- oder EFTA-Mitgliedstaat einschränkt, können die Austrittsleistungen im Verhältnis zum UK wieder uneingeschränkt ausbezahlt werden.
Kinderzulagen und Arbeitslosengelder
Ebenfalls vom Geltungsbereich ausgenommen sind die Familienleistungen. Massgeblich ist nationales Recht. Folglich werden Zulagen grundsätzlich nicht für Kinder mit Wohnsitz im anderen Staat gezahlt.
Beispiel: Ein in der Schweiz tätiger UK-Staatsbürger hat keinen Anspruch auf Schweizer Kinder- und Ausbildungszulagen für seine im UK wohnhaften Kinder.
Bei der Arbeitslosenversicherung sieht das Abkommen im Unterschied zum FZA weder den Export noch die Erstattung von Leistungen vor.
Ergänzungsleistungen, Hilflosenentschädigungen und Überbrückungsleistungen
Während das FZA sie nur vom Export ausnimmt, sind besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, wie die Ergänzungsleistungen zur AHV oder IV, und Langzeitpflegeleistungen, wie die Hilflosenentschädigungen, vom Abkommen gar nicht erfasst. Für den Zugang zu diesen Leistungen ist damit nur innerstaatliches Recht anwendbar. Dasselbe gilt für Vorruhestandsleistungen: Für die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen und die Berechnung von schweizerischen Überbrückungsleistungen gilt für alle britischen Staatsangehörigen deshalb nur schweizerisches Recht.
Zugang zur freiwilligen AHV/IV
Im Unterschied zum FZA ist der Zugang zur freiwilligen AHV/IV im neu ausgehandelten Abkommen von der Gleichbehandlung ausgenommen, weshalb britische Staatsangehörige dieser Versicherung nicht mehr beitreten können. Da das UK nicht mehr der EU angehört, können Schweizer und EU-Bürger, die seit dem Wegfall des FZA ins UK auswandern, der freiwilligen AHV/IV beitreten, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie unmittelbar vorher während mindestens fünf aufeinanderfolgenden Jahren obligatorisch in der schweizerischen AHV/IV versichert waren.
Vorrang des Abkommens über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger
Das neue Sozialversicherungsabkommen enthält einen Vorbehalt zugunsten des Abkommens über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Fällt eine Person unter dieses Abkommen, sind die Bestimmungen des europäischen Koordinationsrechts und nicht das Sozialversicherungsabkommen anwendbar (vgl. Fréchelin, Kati [2021]. Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger: Schutz der im Rahmen des FZA erworbenen Rechte. Soziale Sicherheit CHSS).
Beispiel: Ein UK-Staatsangehöriger erkrankt am 1. Dezember 2021 und erfüllt danach die Voraussetzungen für eine IV-Rente. Er hat von 2014 bis 2020 Versicherungszeiten in der Schweiz erworben. Aufgrund der im Anwendungsbereich des FZA zurückgelegten Versicherungszeiten ist nicht das bilaterale Sozialversicherungsabkommen auf seine Rentenansprüche anwendbar, sondern das Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Entsprechend kann die IV-Rente auch ins UK exportiert werden.
Zusammenfassung
Das neue Sozialversicherungsabkommen zwischen der Schweiz und dem UK ist eine Mischung zwischen der Koordinierung der Sozialversicherungen im FZA und in den entsprechenden bilateralen Abkommen, die die Schweiz mit Staaten ausserhalb der EU/EFTA abgeschlossen hat. Die Schweiz betritt damit kein Neuland. Und auch die anderen involvierten Akteure kennen die vorgesehenen Regelungen bereits. Die Anwendung des neuen Abkommens sollte deshalb keine Probleme bieten. Es stellt vielmehr eine Erleichterung, eine Rückkehr zur Normalisierung der Beziehungen mit dem UK in Aussicht.