Ende Januar 2021 lud die EKFF im Namen ihrer Präsidentin Anja Wyden Guelpa zu einer Online-Fachtagung über die Elternzeit. Über 90 Experten nutzten die Gelegenheit, mithilfe verschiedener Fachinputs die politischen, sozialwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekte der Elternzeit kritisch zu reflektieren.
Familienpolitik in der Schweiz Stéphane Rossini, Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV), eröffnete die Tagung mit einer Einbettung der Elternzeit in die schweizerische Familienpolitik. Er wies dabei auf die verbreitete Haltung in der Gesellschaft hin, dem Bund die führende Rolle in der Familienpolitik zuzuschreiben. Diese stehe wiederum in einem gewissen Widerspruch zur subsidiären, also unterstützenden Funktion, die ihm staatsrechtlich eigentlich zukomme.
In der Schweiz seien alle drei föderalen Ebenen an der Gestaltung der Familienpolitik beteiligt. Nebst der öffentlichen Hand, übernehmen auch private Organisationen wesentliche Aufgaben, um Familien zu unterstützen. Erschwerend komme hinzu, dass es sich bei der Familienpolitik um eine Querschnittsaufgabe handle, die die Politikbereiche der Sozial-, Steuer-, Gesundheits-, Gleichstellungs-, Migrations-, Wohnbau- und Bildungspolitik tangiere.
Nachdem die Einführung der Mutterschaftsversicherung 50 und der Vaterschaftsurlaub 15 Jahre benötigt hätten, so schloss Stéphane Rossini mit der hoffnungsvollen, aber nicht ganz ernst zu nehmenden Einschätzung, brauche es in dieser Kadenz wohl nur noch fünf Jahre bis zur Elternzeit.
Elternzeit im nahen Ausland Um für die Schweiz ein adäquates Modell der Elternzeit entwickeln zu können, lohnt sich durchaus ein Blick ins Ausland. Isabel Valarino, Mitarbeiterin in der Bildungsforschung des Kantons Genf und Mitglied des International Network on Leave Policy and Research, beleuchtete in ihrem Input die Beispiele Islands und Schwedens. So würden dort zwar über 80 Prozent der Väter Elternzeit beziehen, sie nutzen jedoch durchschnittlich nur rund 30 Prozent der zur Verfügung stehenden Zeit. Damit auch Schweizer Väter Elternzeit beziehen, sei es daher wichtig, dass der Erwerbsersatz möglichst nahe beim regulären Lohn liege. Zudem müsste ein grosser Teil der Elternzeit gleichermassen für Mutter und Vater reserviert sein und teilzeitlich oder in Blöcken bezogen werden können.
Das EKFF-Modell: Nutzen und Potenzial In der Folge präsentierten die Kommissionsmitglieder Elisabeth Zemp und Patrick Robinson das Elternzeitmodell der EKFF von 2018 (vgl. Tabelle T1).
Da jedoch der Blick auf umliegende Länder zeigt, dass eine feste Zuteilung der Wochen auf Mütter und Väter dazu führt, dass Väter vermehrt Elternzeit beziehen, schlagen die Referenten eine Modell-Modifikation vor, in der die ehemals 16 frei übertragbaren Wochen jeweils zu gleichen Teilen fix auf die Eltern verteilt werden. Dies ist insbesondere mit Blick auf die evidenzbasierten positiven Auswirkungen der Elternzeit auf Kind, Mutter, Vater, Familie, Unternehmen und Volkswirtschaft, auf die Gleichstellung, Fertilitätsrate sowie auf das Erwerbsverhalten und Bildungsrendite der Mütter wichtig. Im Elternzeitmodell der EKFF noch offen sind die folgenden Punkte:
- Übertragbarkeit der Wochen zwischen den Eltern.
- Kündigungsschutz: Fest steht der Kündigungsschutz für Mütter während der Schwangerschaft und den 16 Wochen nach der Geburt.
- Anspruchszeitraum: Zeitraum ab der Geburt, innerhalb dessen die Elternzeit bezogen werden muss (von «18 Monate nach Geburt» bis «obligatorischer Schuleintritt des Kindes»).
- Gleichgeschlechtliche Eltern, Mehrlingsgeburten und Adoption.
Elternzeit aus finanzieller Sicht: Kostenberechnung des EKFF-Modells 2018 Severin Bischof vom Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS präsentierte die von der Kommission in Auftrag gegebene Kostenberechnung des EKFF-Modells 2018. Hierzu erstellte BASS eine Kostenschätzung (vgl. Grafik G1), die sich auf das Jahr 2019 bezieht.
Orientiert am Erwerbsersatz bei Mutter- oder Vaterschaft ist die Basisgrösse der Elternzeit das Taggeld, das pro Tag bezogene Elternzeit ausgerichtet werden würde. Ausgehend von 80 Prozent ihres AHV-pflichtigen Einkommens im vorangehenden Jahr (bzw. 2017 für Selbständigerwerbende) hätte dem Elternjahrgang 2019 ein Taggeld von durchschnittlich rund 127 Franken für die Mütter und von 161 Franken für die Väter zugestanden. 2019 lag der maximale Tagessatz für die Mutterschaftsentschädigung bei 196 Franken. Er wurde 2021 für die Vaterschaftsentschädigung unverändert übernommen.
Für die Kostenschätzung waren zusätzlich zum Taggeld die folgenden Faktoren als kostenrelevante Punkte zu berücksichtigen:
- 38 Wochen Elternzeit
- 14 Wochen Mutterschaftsentschädigung; 2 Wochen Vaterschaftsentschädigung (in den Kostenberechnungen nicht enthalten)
- 16 Wochen (frei zu verteilen)6 Wochen reserviert für den Vater
Kostenrelevant, aber unbekannt waren:
- Die Aufteilung der frei zu verteilenden Wochen zwischen Müttern und Vätern
- Die Inanspruchnahme (vollständige oder nur teilweise Ausschöpfung) der gesetzlich zustehenden Elternzeit
Um die variablen und unbekannten kostenrelevanten Grössen realistischer in die Berechnungen einfliessen zu lassen, wurden mithilfe einer Literaturrecherche europäische Vergleichsländer mit einem ähnlichen Elternzeitmodell wie dem EKFF-Modell bestimmt und Daten zu den erwähnten Faktoren erhoben. Sie flossen dann ebenfalls in die Szenarien für die Kostenschätzung ein (vgl. Grafik G1). Am ehesten mit dem EKFF-Modell vergleichbar waren Island und Norwegen. Sie wiesen bei den drei wichtigsten Einflussgrössen auf die Ausschöpfung von Elternzeit durch die Väter die kleinsten Unterschiede zum EKFF-Modell auf:
- Reservierter Anteil für die Väter
- Höhe des Ersatzeinkommens
- Flexibilität des Bezugs
Unter der Annahme, dass die Mütter die Elternzeit stärker in Anspruch nehmen und die Väter einen fixen Anteil der für sie reservierten Wochen beziehen, schätzt BASS die Kosten für das EKFF-Elternzeit-Modell auf 1300 bis 1350 Mio. Franken (ohne Berücksichtigung der Kosten für den Mutterschafts- und Vaterschaftsurlaub; Basisjahr 2019).
Elternzeit aus Sicht der Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden Im Namen des Schweizerischen Arbeitgeberverbands (SAV) nahm dessen Chefökonom Simon Wey gegen eine vom Bund verantwortete Elternzeit Stellung, sprach sich jedoch für ausreichend qualitativ gute und vor allem bezahlbare Kinderbetreuungsangebote aus. Eine Angleichung der Arbeitspensen von Müttern und Vätern, z. B. in Richtung 70-Stellenprozente, sei für die Vereinbarkeit von Familien und Beruf, die Gleichstellung, die Altersvorsorge der Frauen und die Wirtschaft zielführender als eine Elternzeit.
Travail Suisse hingegen unterstützt die Einführung einer Elternzeit und verfolgt in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit vier Ziele, die von Valérie Borioli Sandoz, Geschäftsleitungsmitglied und Leiterin der Gleichstellungspolitik bei Travail Suisse aufgezeigt wurden. Wichtig sei, dass Eltern ihr Familienmodell frei wählen könnten, dass Familie und Erwerbstätigkeit miteinander vereinbar seien, dass die bezahlten und unbezahlten Leistungen in der Familie gerecht auf die Eltern aufgeteilt würden und dass die Diskriminierung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt verschwinde. Valérie Borioli Sandoz wies auf eine Untersuchung hin, die das europäische Parlament 2010 durch Heening Thomsen und Helene Urth hatte erstellen lassen, um die Einführung eines bezahlten Mutterschaftsurlaubs in der Europäischen Union zu evaluieren. Die Untersuchungsresultate legten nahe, dass eine Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit um 1 Prozent bereits genügend Steuererträge generieren würde, um einen Mutterschaftsurlaub bzw. eine Elternzeit von 18 bis 20 Wochen zu finanzieren.
Elternzeit aus Gleichstellungssicht Kathrin Bertschy, Nationalrätin der GLP und Co-Präsidentin von Alliance F, vertrat die These, dass die heutige Gesetzgebung die Gleichstellung der Geschlechter im Erwerbsleben aktiv behindere. Sie gebe vor, dass ausschliesslich die Mütter und nicht beide Elternteile nach der Geburt eines Kindes bei der Arbeit ausfallen. Die gerechte Aufteilung des Erwerbsausfallrisikos sei deshalb einer der zentralen Schlüssel zur Ermöglichung der Gleichstellung. Deshalb müsse das Elternzeitmodell möglichst paritätisch, d. h. ohne übertragbare Wochen, gestaltet sein. Hierzu hatte sie 2019 die Motion «Elternzeit von 14 Wochen für beide Elternteile. Gleiche Chancen im Erwerbsleben» (19.3849) eingereicht und 2020 mit einer gleichlautenden parlamentarischen Initiative (20.472) nachgedoppelt. Beide Vorstösse sind noch nicht behandelt.
Als Vertreter der Schweizerischen Vereinigung für eine gemeinsame Elternschaft (GeCoBi) eröffnete Oliver Hunziker seinen Beitrag mit einer Definition des Begriffs Gleichstellung und brachte das Dilemma auf den Punkt: Die Vereinbarkeitsbedürfnisse der Eltern würden als Hinderungsgrund im Arbeitsmarkt gesehen, denn sie hinderten Mütter beim Einstieg in und Väter beim Ausstieg aus dem Arbeitsmarkt. Weil sie den Vätern und den Müttern die geschlossenen Wege öffnete, sei die Elternzeit für die Väterorganisationen deshalb ein guter Lösungsansatz.
Aktuelle Vorstösse für die Elternzeit – eine politische Einschätzung Claudio Looser, Senior Consultant bei der Kommunikationsagentur Furrer Hugi, eröffnete seine Einschätzung der politischen Chancen einer Elternzeit mit einem Rückblick auf Elternzeitvorstösse im eidg. Parlament. Seit 1998 seien über 30 Vorstösse eingereicht worden und der politische Druck nehme seit 2011 stark zu. Pendent seien derzeit fünf Vorstösse. Neben den zwei bereits erwähnten von Kathrin Bertschy, je eine Motion von alt BDP-Nationalrätin Rosmarie Quadranti (19.3848) und SP-Nationalrätin Nadine Masshardt (19.3847) sowie ein Postulat von SP-Nationalrat Mathias Reynard (20.3873). Im Weiteren hätten sich verschiedene Parteien, Gewerkschaften, Familien- und Gleichstellungsorganisationen sowie ausserparlamentarische Kommissionen zusammengeschlossen, um gemeinsam eine Elternzeit-Initiative zu lancieren. Auch seien in letzter Zeit vermehrt kantonale Vorstösse eingereicht worden. So nahm der Grosse Rat des Kantons Tessin am 25. Januar einen Vorstoss zur Einführung von zwei Wochen Elternzeit an.
Bei den Parteien würden sich vier explizit für eine Elternzeit aussprechen, allerdings von sehr unterschiedlicher Dauer: So spricht sich die SP für 38 Wochen aus, Grüne sowie Grünliberale für 28 und die FDP für 16 Wochen (was bezüglich Dauer dem heutigen Stand entspricht). Das politische Zünglein an der Waage werde die neue Mitte-Partei sein, die sich zur Elternzeit noch nicht konkret geäussert habe. Aufgrund des Abstimmungsverhaltens beim Vaterschaftsurlaub zeige sich, dass vor allem junge Frauen (89 % Ja) und junge Männer (77 % Ja) bessere Rahmenbedingungen für Familien wünschen.
Nadine Hoch machte in ihrem Schlusswort Hoffnung, dass das 2019 gewählte Parlament mit einem deutlich höheren Frauenanteil und einer Verjüngung seiner Mitglieder die Einführung einer Elternzeit positiver beurteilen werde als das vorangehende. Gerade in der aktuellen Krisensituation zeige sich, wie wichtig neben verlässlichen und bezahlbaren Kinderbetreuungsangeboten eine Elternzeit für beide Elternteile sei, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und das Wohlbefinden der kleinen Kinder zu gewährleisten.