Senior Lab: Ältere Menschen im Zentrum der Innovation

Das Senior Lab ist eine auf die Bedürfnisse und Erwartungen älterer Menschen ­ausgerichtete Plattform, die sich für und mit Seniorinnen und Senioren in der Forschung und ­Entwicklung engagiert. Mithilfe von partizipativen Methoden fördert sie die soziale und technische Innovation und auch den sozialen Zusammenhalt.
Delphine Roulet Schwab, David Campisi
  |  14. März 2019
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Wie für viele andere Länder stellt die alternde Bevölkerung auch für die Schweiz eine grosse Herausforderung dar. Gemäss dem Bundesamt für Statistik wird die Zahl der Menschen, die 60-jährig oder älter sind, zwischen 2015 und 2045 um mehr als 80 Prozent ansteigen. Bereits heute sind 18 Prozent der Schweizer Bevölkerung 65 Jahre alt oder älter.

Die demografische Alterung wird häufig negativ wahrgenommen (man spricht z. B. vom «grauen Tsunami»). Ihre Auswirkungen auf die Finanzierung von Sozialversicherungen und Pflege sind ein häufig diskutiertes Thema. Die Chancen, die sie für die Entwicklung der Städte und die Dynamik der Verbrauchermärkte bedeutet, kommen hingegen kaum zur Sprache. Diese negative Wahrnehmung der Alterung deckt sich mit dem stereotypen Bild von älteren Menschen, die oft als langsam, unselbstständig, wenig produktiv und teuer empfunden werden. Zuweilen glauben Seniorinnen und Senio­ren sogar selbst an diese Klischees.

Studien zeigen jedoch, dass sich interindividuelle Unterschiede mit zunehmendem Alter verstärken, was unter anderem durch die verschiedenen Lebensläufe bedingt ist. Das chronologische Alter sagt kaum etwas über die individuell erlebte Wirklichkeit älterer Menschen, ihre Bedürfnisse, Erwartungen und Wünsche aus. Die typische Senio­rin oder den typischen Senior gibt es nicht, dazu sind die einzelnen Profile zu unterschiedlich. Hinzu kommen bestimmte insbesondere gesundheitliche Eigenschaften, wie die Verschlechterung der Sinneswahrnehmungen (Gehör, Sehvermögen, Geruchs-, Geschmacks und Tastsinn), Mobilitätsschwierigkeiten, Schwächung und kognitive Beeinträchtigungen. Diese Probleme wirken sich auf die Zugänglichkeit und die Eignung von Produkten und Dienstleistungen aus. Gewisse städtebauliche Einrichtungen (wie Treppen, fehlende Rampen, Handläufe und Bänke) und technische Geräte (wie Billettautomaten mit Touchscreen, Grösse und Lesbarkeit der Anzeigetafeln) können zu einem Ausschluss von Seniorinnen und Senioren vom sozialen und städtischen Raum führen. Auch Dienstleistungen, die ausschliesslich per Internet oder App verfügbar sind (wie der Kauf von Abonnementen, vergünstigten Fahrausweisen oder Karten für kulturelle Anlässe), können sich als problematisch erweisen.

Die Heterogenität und Besonderheiten der älteren Bevölkerung zu missachten, kann zu Diskriminierungen führen. In zahlreichen Arbeiten wurde nachgewiesen, dass Altersdiskriminierung stark verbreitet ist und gesellschaftlich deutlich besser akzeptiert wird als Rassismus oder Sexismus. Wie die Eurobarometer-Statistik zur Diskriminierung in Europa (2012) zeigt, ist das Alter der meistgenannte Diskriminierungsgrund (4 % – Diskriminierung von über 55-Jährigen), gefolgt von der ethnischen Herkunft (3 %).

Paradigmenwechsel Das Wesen und die Lebenswirklichkeit älterer Menschen lassen sich nur berücksichtigen, wenn ihre Bedürfnisse, Erwartungen und Wünsche auf offene Ohren stossen. Dies wiederum setzt voraus, dass ihre Expertise in Altersfragen anerkannt wird. Damit dieser Paradigmenwechsel gelingt, braucht es ein Umdenken bei der Entwicklung von altersgerechten Lösungen, Produkten und Dienstleistungen. Statt für die Seniorinnen und Senioren zu denken oder an ihrer Stelle zu sprechen, muss ihnen eine Stimme gegeben werden und sie müssen in die Suche nach Lösungen, die nicht nur ihnen, sondern der gesamten Bevölkerung dienen, eingebunden werden.

In diesem Sinn spielt die gemeinsame Wertschöpfung in Form eines interaktiven Prozesses eine wichtige Rolle. Sie bedingt, dass mindestens zwei Freiwillige spezifisch zusammenarbeiten und dabei eine Win-win-Lösung erzielen. Wie erfolgreich die Entwicklung neuer Projekte ist, hängt davon ab, wie gut die Bedürfnisse der Zielgruppe verstanden werden. Mit der aktiven Einbindung der Zielgruppe in den Entwicklungsprozess erhöhen sich die Erfolgschancen neuer Ideen (Kristensson et al. 2004). Genau das ist Innovation.

Mit und für ältere Menschen Das Senior Lab ist eine interinstitutionelle und interdisziplinäre Plattform für angewandte Forschung und Entwicklung im Kanton Waadt, die sich mit Fragen rund um die Lebensqualität und Selbstständigkeit älterer Menschen befasst. Das Senior Lab wurde im Juni 2018 vom Institut und der Hochschule für Gesundheit La Source, der Hochschule für Wirtschaft und Ingenieurwissenschaften des Kantons Waadt (HEIG-VD) und der kantonalen Hochschule für Kunst und Design Lausanne (ECAL) gegründet, um mit und für ältere Menschen konkrete und innovative Lösungen – Produkte, Technologien und Dienstleistungen – für «gutes Altern» zu entwickeln. Die Seniorinnen und Senioren übernehmen dabei eine Expertenrolle und vermitteln ihre Erfahrungen mit dem Altern, aber auch ihre Sorgen und Wünsche. Mit ihrer Mitwirkung im Senior Lab wird sichergestellt, dass die neu geschaffenen oder angepassten Angebote, Dienstleistungen und Produkte den Bedürfnissen und der Alltagsrealität älterer Menschen entsprechen.

An den interdisziplinären Projekten des Senior Lab nehmen Fachpersonen aus Gesundheit, Design, Wirtschaft und Ingenieurwesen sowie natürlich ältere Menschen teil. Der Austausch unterschiedlicher Perspektiven und die Bündelung verschiedener Kompetenzen sorgen dafür, dass die Herausforderungen des Älterwerdens in der alternden Gesellschaft ganzheitlich angegangen werden. Mit seinem Verhaltenskodex und seinen Grundwerten stellt das Senior Lab den respektvollen Umgang mit den Seniorinnen und Senioren und den anderen beteiligten Parteien sicher.

Das Senior Lab ist ein Living Lab, d. h. ein nutzerorientiertes Ökosystem für offene Innovation, das auf Co-Creation und kollektiver Intelligenz beruht. Ein Living Lab vereinfacht die enge Zusammenarbeit zwischen den Akteuren. Diese werden von einem Team aus Innovationsfachleuten begleitet, die eine Vermittlerrolle einnehmen. Damit ermöglicht das Senior Lab eine vernetzte Arbeit zwischen den beteiligten Parteien (Städte, Verbände, Privatunternehmen, Hochschulen usw.) und begleitet die Entwicklung von Projekten, die sowohl den Bedürfnissen und Erwartungen der älteren Bevölkerung als auch den Auflagen der institutio­nellen und staatlichen Akteure Rechnung tragen.

Indem es den Bekanntenkreis der Beteiligten vergrössert, stärkt das Senior Lab zudem den sozialen Zusammenhalt und fördert die Entstehung neuer sozialer Gruppen. Nicht zuletzt hilft die Teilnahme am Senior Lab fragileren Seniorinnen und Senioren, ihre kognitiven und motorischen Fähigkeiten zu erhalten.

Partizipative Methoden und Design Thinking Als Living Lab wendet das Senior Lab partizipative Methoden an und veranstaltet Fokusgruppen, World Cafés, Einzel­gespräche, teilnehmende Beobachtungen, Treffen, Ideen-Workshops usw.

Die Mitglieder des Senior Lab sind Innovationsfachleute. Sie entwickeln nach dem Vorbild der Design-Thinking-Methoden (vgl. Grafik G1) Produkte und betreuen die praktische Umsetzung von Projekten. Diese Methoden wurden in der Pilotphase gezielt auf das Wesen und die Ressourcen älterer Menschen ausgerichtet.

Dauerhafte Fortführung eines Pilotprojekts Das Senior Lab ist aus einem von der Gebert-Rüf-Stiftung finanzierten Projekt für angewandte Forschung (2014–2017) hervorgegangen. Unter Mitwirkung von Verbänden, Gemeinden und Unternehmen befasste es sich mit den Themen Ernährung, Mobilität und Kommunikation. Die dabei verwendete Methodik und die entwickelten Instrumente wurden anschliessend im Rahmen des französisch-schweizerischen Interreg-Projekts Autonomie 2020 verfeinert und ergänzt. Das Interreg-Projekt dient der Erarbeitung innovativer und seniorengerechter Lösungen, die es älteren Menschen ermöglichen sollen, länger und bei guter Lebensqualität zu Hause zu wohnen. Ausserdem setzt sich das Projekt für eine bessere Ausrichtung des Technologiesektors auf die Bedürfnisse älterer Menschen ein.

Das Senior Lab basiert auf einer interinstitutionellen kollegialen und paritätischen Steuerung durch drei partnerschaftlich verbundene Hochschulen. Es wird mit öffentlichen (Partner-Hochschulen) und privaten Geldern (Sponsoring) finanziert und erbringt Dienstleistungen im Aufgaben­bereich der Hochschulen.

Lebensqualität und Eigenständigkeit Das Senior Lab ist in mehreren Themenfeldern tätig, die zur Verbesserung der Lebensqualität und der Selbstständigkeit älterer Menschen beitragen.

  • Mobilität: Die Mobilität ist ein Kernthema des Senior Lab. Von 2015 bis 2017 wurde in enger Zusammenarbeit mit einem Westschweizer Verkehrsbetrieb ein umfassendes Innovationsprojekt durchgeführt. Durch die Verknüpfung mehrerer partizipativer Methoden zur Datenerhebung (Fokusgruppen, World Cafés, teilnehmende Beobachtungen, Rekognoszieren in Quartieren usw.) und zur Co-Creation (Workshops zur Ideenfindung und -hierarchisierung) konnten rund vierzig Ideen gesammelt werden, die zusammengefasst und in einem Heft vorgestellt wurden. Das Heft analysierte einerseits die angetroffenen Hürden (Metro, Bus, Zug, Haltestellen, Fahrausweise, Internetseite usw.), enthielt aber auch Lösungen, die die älteren Menschen und die Mitarbeitenden des Verkehrs­betriebs zusammengetragen hatten. Mehrere Ideen, wie die Neugestaltung der Broschüre für die ältere Kundschaft, die Schulung der Fahrerinnen und Fahrer für passagiersicheres Fahren sowie die verbesserte Haltestellenanzeige in den Bussen wurden tatsächlich umgesetzt. Zurzeit betreut das Senior Lab Masterstudierende im Bereich Innovation der HES-SO (Innokick), die sich mit der Verbesserung der Mobilität und der Eigenständigkeit älterer Menschen in der Stadt Lausanne befassen.
  • Neue Technologien: Mögliche Anwendungen neuer Technologien spielen bei den Überlegungen und Arbeiten des Senior Lab eine zentrale Rolle. 2016 evaluierte das ­Senior Lab in Zusammenarbeit mit einem Privatunternehmen die Akzeptanz eines der Alarmuhr ähnlichen Geräts bei älteren Menschen. Dabei wurden bestimmte Hemmnisse erkannt und Lösungsansätze erarbeitet, wie das Instrument seniorengerechter gestaltet und auch bei funktionell schwächeren Seniorinnen und Senioren eingesetzt werden kann. Meist kreist das Thema jedoch um die Nutzung von Internet, Smartphones und Benutzeroberflächen von Geräten (z. B. Billettautomaten des öffentlichen Verkehrs) sowie um verschiedene, teilweise speziell für ältere Menschen bestimmte technische Hilfsmittel. Wie die Arbeiten des Senior Lab gezeigt haben, soll die Technologie nach Wunsch vieler Seniorinnen und Senioren dem sozialen Zusammenhalt dienen (z. B. Verwendung von Skype für die Kommunikation mit Enkelkindern) und ihn nicht ersetzen (z. B. Selfscan-Geräte in den Supermärkten). Dieser Aspekt beeinflusst die Bereitschaft der älteren Menschen, eine technische Entwicklung zu nutzen oder abzulehnen.
  • Ernährung und Supermärkte: Zwischen 2015 und 2017 wurden in Partnerschaft mit einem Grossverteiler die Hindernisse für die ältere Kundschaft in Lebensmittelgeschäften kartiert. Dabei wurden zahlreiche Verbesserungsmöglichkeiten identifiziert und ein Ideenheft erarbeitet. Dieses enthält praktische Anregungen wie etwa die Schaffung einer Ruhezone im Geschäft, die Einführung von Einkaufsgutscheinen für ältere Menschen, die oft alleine oder zu zweit leben, die seniorengerechte Anpassung von Einkaufswagen und die Überarbeitung der Packungsgrössen. Einige der vorgeschlagenen Ideen wurden in grossen Supermärkten in der Westschweiz umgesetzt (z. B. Ruhe­inseln, seniorengerechte Einkaufswagen).
  • Wohnen: Derzeit führt das Senior Lab Gespräche mit mehreren Westschweizer Gemeinden, damit die partizipative Methode in die Entwicklung von modularen, ausbaufähigen und intergenerationellen Quartieren oder Wohnungen Eingang findet. Spätere Anpassungen bereits erstellter Bauten sind oft teuer und bisweilen technisch nicht durchführbar. Indem die Bedürfnisse älterer Menschen bereits in der Planungsphase berücksichtigt werden, lassen sich gezielt altersfreundliche Wohnungen und Siedlungen schaffen, deren Ausstattung der gesamten Bevölkerung zugutekommt.
  • Kultur: Das Senior Lab befasst sich mit der Zugänglichkeit, dem Komfort und den Dienstleistungen kultureller Institutionen wie Museen, Kinos, Theater und Konzerthäuser. Um das Erlebnis der älteren Besucher- und Zuschauerschaft zu verbessern, steht es mit diesen in ständigem Kontakt.

Brückenbauende Gemeinschaft Durch das Zusammenbringen interdisziplinärer Kompetenz mit Techniken partizipativer Innovation bietet das Senior Lab älteren Menschen die Chance, Einfluss auf Unternehmen, Designerinnen und Designer, die öffentliche Hand, Städte und Forschende zu nehmen, die wiederum von den Erfahrungen der Senio­rinnen und Senioren profitieren können, um ihr Angebot und ihre Dienstleistungen und damit die Lebensqualität und die Eigenständigkeit älterer Menschen zu verbessern.

  • Literaturverzeichnis
  • Abrams, Dominic; Swift, Hannah J. (2012): Experiences and Expressions of Ageism: Topline Results (UK) from Round 4 of the European Social Survey, Nr. 2. ESS Country Specific Topline Result, [London: Centre for Comparative Social Surveys]: www.europeansocialsurvey.org > ESS Topline Series.
  • Kristensson, Per; Gustafsson, Anders; Archer, Trevor (2004): «Harnessing the Creative Potential among Users», in Journal of Product Innovation Management 21/1, S. 4–15: www.researchgate.net.
Dr. phil. in Psychologie, o. Prof., Institut und Hochschule für Gesundheit La Source, Fachhochschule Westschweiz HES-SO.
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Projektleiter Ra&D, Hochschule für Wirtschaft und Ingenieurwissenschaften des Kantons Waadt (HEIG-VD). Fachhochschule Westschweiz HES-SO.
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