Verläufe im System der sozialen Sicherheit

Welche Interaktionen gibt es zwischen der Arbeitslosenversicherung, der Invalidenversicherung und der Sozialhilfe? Die SHIVALV-Statistik ermöglicht es, Verlaufsmuster innerhalb des Systems der sozialen Sicherheit zu erkennen.
Maïlys Korber, Brandon Qorri Gonzalez
  |  10. Dezember 2024
    Forschung und Statistik
  • Alters- & Hinterlassenenversicherung
  • Arbeitslosenversicherung
  • Invalidenversicherung
Über 80 Prozent der Leistungsempfänger, die 2020 in das SHIVALV-System eintraten, bezogen ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung. Regionales Arbeitsvermittlungsamt Genf. (Keystone)

Auf einen Blick

  • Die SHIVALV-Statistik liefert die Daten zu den drei wichtigen Sozialleistungssystemen der Schweiz: Arbeitslosenversicherung, Invalidenversicherung und Sozialhilfe.
  • Die Mehrheit der Personen, die 2020 in das SHIVALV-System eingetreten waren, schieden in den folgenden zwei Jahren wieder aus.
  • Lediglich 6 Prozent der Beziehenden erhielten im Beobachtungszeitraum mehr als eine Leistung des SHIVALV-Systems.

Die Statistik «Verläufe im System der sozialen Sicherheit» hat die drei Sozialleistungen Sozialhilfe (SH), Invaliditätsversicherung (IV) und Arbeitslosenversicherung (ALV) im Fokus. Sie wird daher im Folgenden SHIVALV genannt. Sie bietet insbesondere den Vorteil, dass die Anzahl Personen gezählt wird, die mehr als eine Leistung der drei Leistungssysteme erhalten, und gibt Aufschluss über die Übergänge zwischen den drei Sozialleistungen.

Die Daten zur Sozialhilfe liefert das Bundesamt für Statistik (BFS). Für die Invalidenversicherung stammen die Daten vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) und von der Zentralen Ausgleichsstelle (ZAS), für die Arbeitslosenversicherung vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO).

Als Datengrundlage dient ausserdem die Bevölkerungsstatistik STATPOP des BFS: Anhand dieser Statistik lässt sich ermitteln, ob die untersuchten Personen vor oder nach dem Leistungsbezug ein- oder ausgewandert sind. Und schliesslich lässt sich anhand der individuellen Konten (IK) der ZAS aufzeigen, ob jemand eine Erwerbstätigkeit ausübt oder nicht. Alle Resultate der SHIVALV-Statistik sind auf der BFS-Seite Analysen zum System der sozialen Sicherheit einsehbar.

SHIVALV ist als System im wissenschaftlichen und nicht im administrativen Sinne zu verstehen. Die Anmeldungen und die Bearbeitung der Dossiers der drei Leistungssysteme, aus denen SHIVALV besteht, sind nicht zentralisiert. Ausserdem sind unterschiedliche Stellen für die drei Leistungssysteme zuständig: Für die Sozialhilfe sind es die Sozialämter der Gemeinden, für die Arbeitslosenversicherung die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) und für die Invalidenversicherung die IV-Stellen.

Mehrheit weniger als zwei Jahre im SHIVALV-System

Im SHIVALV-System sind verschiedene Verlaufsmuster zu beobachten. Um die wichtigsten Tendenzen aufzuzeigen, werden alle Personen, die 2020 in das SHIVALV-System eingetreten sind, analysiert (vgl. Kasten). Es handelt sich um Personen, die während mindestens eines Monats im Jahr 2020 eine der oben erwähnten Leistungen bezogen, nachdem sie in den zwölf Monaten vor diesem Eintritt keine solche Leistung erhalten hatten. Diese Gruppe besteht aus etwas mehr als 228 000 Personen. Die Verlaufsanalyse erstreckt sich über zwei Jahre. Dabei wird untersucht, ob und allenfalls wie lange die Personen die Leistung weiterhin beziehen, ob sie mehrere Leistungen nacheinander oder gleichzeitig erhalten oder ob sie keine der drei Leistungen des SHIVALV-Systems mehr beziehen.

Einfluss der Covid-19-Pandemie

Bei den meisten Personen, die 2020 in das SHIVALV-System eintraten, besteht ein Zusammenhang zur Covid-19-Pandemie, die grosse Spuren auf dem Arbeitsmarkt hinterliess. Infolgedessen gab es 2020 mehr Eintritte als in den Vorjahren (+24% zwischen 2019 und 2020), vor allem bei den Taggeldern der Arbeitslosenversicherung (+28%). Im Anschluss wurde die maximale Dauer der Taggelder der Arbeitslosenversicherung erhöht, was zu längeren Bezugsperioden führte. Aus diesen Gründen ist bei den SHIVALV-Neueintritten des Jahres 2020 im Vergleich zur Situation vor Covid ein Anstieg an ALV-Taggeldbezügen zu beobachten. Gegenüber 2019 nahmen diese im Schnitt der Jahre 2020 und 2021 um 14 Prozent zu. Gleichzeitig nahmen die Eintritte in die Sozialhilfe im Jahr 2021 gegenüber 2019 um 11 Prozent ab.

Als Erstes lässt sich feststellen: Die Mehrheit der Personen, die 2020 in das SHIVALV-System eingetreten waren, trat in den folgenden zwei Jahren wieder aus. Fast die Hälfte der SHIVALV-Neueintretenden des Jahres 2020 erhielt ein Jahr später bereits keine Leistung mehr – zwei Jahre später waren es zwei Drittel (siehe Grafik 1).

Bei der Anzahl bezogener Leistungen zeigt sich: Mehr als 9 von 10 Personen beanspruchten während der zwei betrachteten Jahre nur eine der drei Leistungen des SHIVALV-Systems (Sozialhilfe, IV-Rente oder Taggeld der Arbeitslosenversicherung). Am häufigsten zu beobachten ist eine einzige Bezugsperiode. Das heisst, die Person erhielt eine Leistung ununterbrochen während einer gewissen Anzahl Monate (74% aller untersuchten Beziehenden). 16 Prozent der Personen erhielten während der zwei Beobachtungsjahre eine einzige Leistung, allerdings mit einer Unterbrechung (von mindestens 2 Monaten) und einem anschliessenden Wiedereintritt; bei 3 Prozent gab es mindestens zwei Unterbrechungen.

Lediglich 6 Prozent der Beziehenden erhielten im Beobachtungszeitraum mehr als eine Leistung des SHIVALV-Systems. Die Dynamik des Leistungsbezugs ist in den meisten Fällen stabil: Während einer gewissen Anzahl Monate werden ohne Unterbrechung zwei oder drei Leistungen bezogen. Personen, die mehrere Leistungen erhalten und eine Unterbrechung aufweisen und dann erneut eine oder mehrere dieser Leistungen beziehen, bilden hingegen eine Minderheit. Diese Art von Profil wird zuweilen mit einem «Drehtüreffekt» verglichen, wobei lediglich 2 Prozent aller Beziehenden ein solches Verlaufsmuster aufweisen.

Mehrheit in der Arbeitslosenversicherung

Die Verläufe im SHIVALV-System sind vielfältig. Grund dafür sind die unterschiedlichen Dynamiken der drei Leistungssysteme. In der Arbeitslosenversicherung sind die Beziehenden zahlreicher, erhalten die Leistung jedoch im Durchschnitt weniger lang. In der Invalidenversicherung beziehen weniger Personen eine Rente, dafür aber länger. Zwischen den beiden Dynamiken stehen die Sozialhilfebeziehenden. Im Folgenden werden die Tendenzen für jede Versicherung näher beschrieben.

Knapp 82 Prozent der 2020 in das SHIVALV-System eingetretenen Beziehenden erhielten mindestens einen Monat lang ein Taggeld der Arbeitslosenversicherung (siehe Grafik 2). 77 Prozent von ihnen bezogen nur diese Leistung, 6 Prozent beanspruchten zusätzlich mindestens eine der beiden anderen Leistungen. Von denjenigen, die ausschliesslich Arbeitslosentaggeld bezogen, erhielten die meisten die Leistung während einer einzigen Bezugsperiode (d. h. ohne Unterbrechung). Diese Periode dauerte bei rund einem Drittel weniger als 6 Monate, bei 19 Prozent zwischen 6 und 12 Monaten und bei etwas weniger als einem Viertel über ein Jahr. Bei 6 Prozent der Arbeitslosentaggeldbeziehenden, die 2020 in das SHIVALV-System eintraten, kam es zu einer Aussteuerung.

Schliesslich bezog lediglich rund ein Viertel der Taggeldbeziehenden die Leistung der Arbeitslosenversicherung mit einer Unterbrechung (19%) beziehungsweise zwei oder mehr Unterbrechungen (4%). Unterbrechungen werden als solche erfasst, wenn sie länger als 2 Monate dauern.

Rund ein Fünftel aller Beziehenden im Gesamtsystem erhält Sozialhilfeleistungen: 13 Prozent der 2020 ins SHIVALV-System eingetretenen Personen erhielten im Beobachtungszeitraum ausschliesslich Sozialhilfe, 6 Prozent Sozialhilfe und mindestens eine andere Leistung. Bei Personen, die ausschliesslich Sozialhilfe beziehen, kommen längere Bezugsperioden häufiger vor: 56 Prozent erhielten während einer einzigen Periode von über einem Jahr Sozialhilfeleistungen, 14 Prozent während einer Periode von 6 Monaten bis zu einem Jahr und 19 Prozent während einer Periode von weniger als einem Jahr. Nur etwa 10 Prozent der Sozialhilfebeziehenden erhielten die Leistung mit einer Unterbrechung von mindestens 2 Monaten und einem anschliessenden Wiedereintritt; mehrfache Wiedereintritte (zwei oder mehr Unterbrechungen) sind sehr selten (weniger als 0,5% der Fälle).

Auf die Renten der Invalidenversicherung entfällt mit lediglich 6 Prozent aller 2020 in das SHIVALV-System eingetretenen Personen der kleinste Anteil der Beziehenden. Rund 5 Prozent bezogen ausschliesslich eine IV-Rente und 2 Prozent eine IV-Rente sowie mindestens eine andere Leistung des SHIVALV-Systems. Der ununterbrochene Langzeitbezug ist die häufigste Dynamik bei den Beziehenden einer IV-Rente. Rund 80 Prozent der 2020 ins SHIVALV-System eingetretenen IV-Renten-Beziehenden erhielten zwei Jahre später die Rente nach wie vor, ohne Unterbrechung oder andere Leistung. Die häufigsten Gründe für die Einstellung einer IV-Rente sind das Erreichen des Referenzalters – der Anspruch auf eine IV-Rente erlischt und wird oft durch eine Altersrente und gegebenenfalls Ergänzungsleistungen abgelöst – und der Tod.

ALV und Sozialhilfe kombiniert

Die häufigste Leistungskombination im SHIVALV-System sind Taggelder der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe. Das betraf 5 Prozent der im Jahr 2020 in das SHIVALV-System eingetretenen Personen. Sie bezogen in den zwei Jahren nach ihrem Eintritt beide Leistungen – entweder zusammen oder nacheinander. Bei etwas mehr als der Hälfte von ihnen blieb die Dynamik stabil. Sie erhielten jede der beiden Leistungen während einer bestimmten Anzahl Monate ohne Unterbrechung oder Wiedereintritt. Bei der anderen Hälfte der Personen, die in den zwei untersuchten Jahren sowohl ein Arbeitslosentaggeld als auch Sozialhilfeleistungen bezogen, war hingegen bei mindestens einer der beiden Leistungen ein Aus- und Wiedereintritt zu verzeichnen.

Die Statistik «Verläufe im System der sozialen Sicherheit» (SHIVALV) wird vom Bundesamt für Statistik (BFS) erstellt. Das BFS arbeitet dafür eng mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) zusammen. Die Autoren danken dem SECO für die sorgfältige Durchsicht dieses Artikels und die wertvollen Anregungen.

Doktorin in Sozialwissenschaften , Datengrundlagen und Analysen, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Sektion Sozialhilfe, Bundesamt für Statistik (BFS)
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