Zusatzversicherungen tragen zu mehr Spitalaufenthalten bei

Die Gesundheitsausgaben in der Schweiz steigen laufend. Wie eine Studie zeigt, können Zusatzversicherungen zu einer Zunahme von Spitalleistungen führen – insbesondere im Bereich der Orthopädie.
Kris Haslebacher, Tjaša Maillard-Bjedov, Claude Vuffray
  |  22. August 2023
    Forschung und Statistik
  • Gesundheitspolitik
  • Krankenversicherung
Arzt zeigt Patientin ein künstliches Kniegelenk. (Alamy)

Im Jahr 2020 beliefen sich die Gesundheitsausgaben in der Schweiz auf 83,3 Milliarden Franken oder 804 Franken pro Person und Monat (BFS 2023). Dies entspricht 11,8 Prozent des Schweizer Bruttoinlandprodukts (BIP) – und somit dem vierthöchsten Wert zu laufenden Preisen in ganz Europa. Verantwortlich für den anhaltenden Aufwärtstrend ist das Zusammenspiel aus demografischer Alterung und medizinischem Fortschritt mit immer mehr innovativen, teuren Leistungen. Die steigenden Gesundheitskosten wirken sich über höhere Krankenkassenprämien direkt auf die Kaufkraft der Haushalte aus, aber auch auf die öffentlichen Finanzen. Die Eindämmung der Gesundheitsausgaben ist daher für alle grossen Volkswirtschaften ein zentrales Thema.

Die nicht obligatorische Zusatzversicherung deckt unter anderem die Kosten eines Spitalaufenthalts in der «Privatabteilung» (privat und halbprivat). Die Versicherten haben damit Anspruch auf eine freie Arztwahl in allen Schweizer Spitälern sowie auf ein Einzelzimmer in der privaten Abteilung (bzw. ein Doppelzimmer in der halbprivaten Abteilung). Der Abschluss einer solchen Zusatzversicherung verändert die Anreize sowohl auf der Seite der Leistungserbringer als auch der Versicherten.

Leistungserbringer kurbeln Nachfrage an

Wie alle Wirtschaftsakteure maximieren auch medizinische Leistungserbringer ihre Einnahmen. In gewissen Vergütungssystemen, zum Beispiel bei der Einzelleistungsvergütung, bei der die Ärzte für jede durchgeführte medizinische Handlung bezahlt werden, können finanzielle Überlegungen dazu führen, dass sie ihren Patienten zusätzliche oder lukrativere Behandlungen empfehlen. Diese finanziellen Anreize entstehen aufgrund asymmetrischer Information, bei der die Ärzte über mehr Informationen zu den verfügbaren Behandlungen und zum Gesundheitszustand ihrer Patienten verfügen als diese selbst. Die Patienten vertrauen folglich dem ärztlichen Fachwissen und befolgen dessen Empfehlungen. Die vom Leistungserbringer ausgelöste Nachfrage kann dazu führen, dass nicht zwingend nötige, aber für Ärzte und Spitäler lukrative medizinische Behandlungen durchgeführt werden (Evans 1974).

Eine vom Eidgenössischen Departement des Innern beauftragte internationale Expertengruppe kam 2017 ebenfalls zum Schluss, dass von der Zusatzversicherung vergütete hohe Beträge insbesondere bei stationären Behandlungen in Spitälern Anreize für unnötige Leistungen bieten können (BAG 2017: 77–79 sowie Bundesrat 2019). Es gibt also Grund, anzunehmen, dass Patienten mit Zusatzversicherung, die im Spital die Privatabteilung in Anspruch nehmen können, für Schweizer Spitäler und die Ärzteschaft finanziell attraktiver sind als Patienten, die nur über eine Grundversicherung verfügen (EFK 2021). 

Wenn gewisse Eingriffe tatsächlich aufgrund finanzieller Anreize durch eine Zusatzversicherung durchgeführt werden, belastet dies auch die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP). Denn diese übernimmt systematisch einen Teil der Kosten eines medizinischen Eingriffs. Angesichts der steigenden Gesundheitskosten wäre es deshalb angezeigt, solche Fehlanreize zu beseitigen.

Moral Hazard bei Patienten

Auf Patientenseite werden die Anreize durch die Kostenteilung mit der Krankenversicherung und die asymmetrischen Informationen zwischen Patienten und Versicherern beeinflusst. Von Moral Hazard kann dann gesprochen werden, wenn die Zusatzversicherung eine höhere Nachfrage nach Leistungen schafft, weil die Patienten sich weniger stark an den Kosten beteiligen müssen. Da der Abschluss einer Zusatzversicherung den Katalog und die Höhe der kofinanzierten Leistungen erweitert, schafft das Anreize für die Patienten, mehr medizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen.

Bestimmte nicht dringende Leistungen nehmen zu

Nehmen Patienten mit Zusatzversicherung also tatsächlich mehr Spitalleistungen in Anspruch? Und wenn ja, in welchen medizinischen Bereichen?

Um dies zu beantworten, hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Hospitalisierungsraten (Anzahl Fälle/Wohnbevölkerung) für alle Eingriffe (gemäss der Klassifikation der diagnosebezogenen Fallgruppen «SwissDRG Version 6.0» und SPLG) und für alle Patientengruppen (Grund- und Zusatzversicherte) berechnet. Anhand der Differenz zwischen den risikobereinigten Hospitalisierungsraten dieser beiden Patientengruppen lässt sich der Leistungsüberschuss von Patienten mit Zusatzversicherung schätzen (siehe Kasten).

Die Studie im Detail

Für die Studie (BAG 2023) stützte sich das Bundesamt für Gesundheit auf die Schweizerische Gesundheitsbefragung (SGB) 2017 des Bundesamts für Statistik (BFS) sowie auf die Medizinische Statistik der Krankenhäuser (MedStat) 2017.

Die Anzahl Fälle pro DRG/SPLG stammt aus der vom BFS veröffentlichten Medizinischen Statistik der Krankenhäuser 2017 (aktuellste verfügbare Daten). Berücksichtigt werden nur die Spitalaustritte nach akutsomatischen Behandlungen von Personen ab dem vollendeten 14. Lebensjahr, wie dies bei der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB) 2017 des BFS der Fall war. So konnte nach Altersgruppe bestimmt werden, welcher Anteil der Wohnbevölkerung eine Zusatzversicherung für einen Spitalaufenthalt in der Privatabteilung hat.

Auf dieser Basis wurde für die gesamte Schweiz die Zahl der allgemein, halbprivat oder privat versicherten Personen extrapoliert. Da das Alter ein wichtiger Faktor für die Häufigkeit von Erkrankungsfällen ist, wurden die errechneten Hospitalisierungsraten (Anzahl Fälle / Wohnbevölkerung) altersstandardisiert. Um die potenzielle Über- oder Unterversorgung der Zusatzversicherten nach Art der Eingriffe zu bestimmen, berechneten die Autoren die Differenz zwischen den Hospitalisierungsraten der allgemein bzw. der zusatzversicherten Personen für jede Gruppe von Eingriffen (gemäss den SwissDRG- und SPLG-Klassifizierungen). Diese Differenz zwischen den Raten wurde dann mit der für die Gruppe der zusatzversicherten Patienten ermittelten Population multipliziert, um den absoluten Leistungsüberschuss zugunsten (oder zuungunsten) dieser Gruppe zu berechnen, d. h. den Anteil der tatsächlichen Hospitalisierungen, die theoretisch vermieden werden könnten, wenn alle Patienten nur allgemein versichert wären.

Die Analyse stösst an drei Grenzen. Erstens hatten die Autoren keinen Zugang zu gewissen wichtigen Variablen wie dem Einkommen, das mit der Häufigkeit von Erkrankungsfällen und der Inanspruchnahme von Zusatzversicherungen korreliert. Zweitens wurde ein im Spital getroffener Entscheid für einen Wechsel in eine höhere Abteilung nicht berücksichtigt. Und schliesslich wurden fehlende Antworten oder andere Modelle von Spitalzusatzversicherungen aus der SGB proportional umverteilt unter der Annahme, dass diese Verteilung die Schätzungen nicht verzerrt.

Die Ergebnisse dieser Studie bestätigen die erste Analyse des BAG aus dem Jahr 2016: Orthopädische Leistungen, das heisst Leistungen, die mehrheitlich zur Gruppe der elektiven (nicht dringenden) stationären Akutbehandlungen gehören, werden bei Zusatzversicherten öfter erbracht. Auch bei Kaiserschnitten ist ein starker Leistungsüberhang (289) bei Zusatzversicherten zu verzeichnen (siehe Grafiken).

Detailliertere Analysen zeigen, dass der potenzielle Leistungsüberschuss bei Personen mit Zusatzversicherung umso höher ist, je elektiver eine Leistung ist. Dies bestätigt die Hypothese, dass finanzielle Anreize einer der Hauptgründe für medizinische Leistungsüberschüsse sind. Allerdings lässt sich daraus nicht ableiten, dass finanzielle Anreize bei allen Eingriffsarten die Hauptursache für den Leistungsüberhang sind, denn dafür müssten die Eingriffe einzeln analysiert werden. Das Hauptziel der vom BAG durchgeführten Studie bestand jedoch darin, einen allgemeinen Überblick zu bieten, ohne auf die einzelnen medizinischen Fallgruppen einzugehen.

Ziel: Regulierung ohne Qualitätseinbusse

Die beiden durchgeführten Studien bestätigen, dass medizinische Leistungsüberschüsse bei Patienten mit Zusatzversicherung tatsächlich bestehen. Zur Eindämmung der Gesundheitskosten müssten diese überschüssigen chirurgischen Eingriffe beseitigt werden. Denn die OKP übernimmt einen Teil der dadurch verursachten medizinischen Kosten.

Allerdings gilt es dabei zu beachten: Gesundheit ist ein sogenanntes superiores Gut, dessen Konsum mit steigendem Wohlstand zunimmt, weil die Menschen mehr Mittel dafür aufwenden können. Die Schweiz gehört zu den reichsten Ländern der Welt und verfügt über ein qualitativ hochwertiges Gesundheitssystem mit ausgezeichneten Leistungen, insbesondere dank der Erfahrungen, die bei der Durchführung zahlreicher chirurgischer Eingriffe gesammelt wurden. Finanzielle Anreize, die zur Durchführung zusätzlicher Eingriffe ermutigen, können daher auch als vorteilhaft für das Gesundheitssystem angesehen werden. Und entsprechend kann man höhere Gesundheitskosten als Ausdruck einer besseren Lebensqualität verstehen. Nicht zu vergessen ist zudem, dass der Gesundheitssektor aus wirtschaftlicher Sicht Wachstum bringt und zu einer prosperierenden, modernen Volkswirtschaft beiträgt.

Literaturverzeichnis

Dieser Beitrag ist am 22. August 2023 in der Publikation «Die Volkswirtschaft» erschienen.  Er entspricht den dort geltenden redaktionellen Richtlinien.

Gesundheitsökonom, Datenmanagement und Statistik, Bundesamt für Gesundheit (BAG)
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Ökonomin, Datenmanagement und Statistik, Bundesamt für Gesundheit (BAG)
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Leiter Datenmanagement und Statistik, Bundesamt für Gesundheit (BAG)
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