Das neue bilaterale Abkommen zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich regelt die Versicherungsunterstellung von Personen in einer grenzüberschreitenden Situation in Anlehnung an die Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und 987/2009. Die beiden Vertragsstaaten kennen diese Regelungen und das hohe Mass an Koordinierung also bereits aus dem FZA.
Auf einen Blick
- Das neue bilaterale Sozialversicherungsabkommen sieht ein umfassendes System von Kollisionsnormen vor.
- Die Versicherungsunterstellung der vom Abkommen erfassten Personen erfolgt grundsätzlich am Beschäftigungsort.
- Sonderregelungen bestehen bei zeitlich begrenzten Entsendungen in- und ausserhalb des anderen Vertragsstaats und für bestimmte Personengruppen wie Beamtinnen und Beamte, Hochseeleute oder Flugpersonal oder begleitende Familienangehörige von Entsandten.
- Für die Unterstellung bei Mehrfachtätigkeit gilt grundsätzlich die 25-Prozent-Regel und demnach die Unterstellung im Wohnstaat, falls ein wesentlicher Anteil dort ausgeübt wird.
- Die in der EU ausgeübte Erwerbstätigkeit ist durch das neue bilaterale Abkommen nicht abgedeckt und wird bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts nicht berücksichtigt.
- Das Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger schützt die Rechte der Personen, welche die Personenfreizügigkeit vor dem 31. Dezember 2020 wahrnahmen und unter das FZA fielen, solange sie sich – aufgrund von Staatsangehörigkeit, Erwerbstätigkeit oder Wohnsitz – in einer grenzüberschreitenden Situation mit Bezug zur Schweiz und zum Vereinigten Königreich befinden.
- Im Vereinigten Königreich wohnhafte Staatsangehörige der Schweiz sowie der EU- und EFTA-Staaten können seit dem 1. Januar 2021 wieder der freiwilligen AHV/IV beitreten.
Unter Abschnitt II des neuen Abkommens über Soziale Sicherheit zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich, vorläufig angewendet ab dem 1. November 2021, ist ein umfassendes System von Kollisionsnormen vorgesehen. Dieses System gibt vor, welches nationale Sozialversicherungsrecht auf Personen anwendbar ist, die sich in einer grenzüberschreitenden Situation mit Bezug auf die beiden Vertragsstaaten befinden und für die das Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger (SR 0.142.113.672) nicht gilt (siehe dazu Fréchelin, Kati [2021]. Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger: Schutz der unter dem FZA erworbenen Rechte Soziale Sicherheit CHSS).
Ziel der Unterstellungsregeln des neuen Abkommens ist es, eine doppelte Versicherungsunterstellung in beiden Staaten oder Versicherungslücken zu verhindern. Sie sollen die Freizügigkeit der Arbeitnehmenden fördern, ihre Rechte schützen und die jeweiligen Verpflichtungen klären. Gliederung und Inhalt entsprechen weitestgehend Titel II der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (SR 0.831.109.268.1), auf die in Anhang II des Freizügigkeitsabkommens (FZA, SR 0.142.112.681) verwiesen wird. Es wurden einige geringfügige Anpassungen an den bilateralen Kontext vorgenommen. Ausserdem wurde die Situation der Familienangehörigen, die eine entsandte Person begleiten, verbessert.
Die Bestimmungen zur Umsetzung und zu den Verfahren in Titel II von Anhang 1 des Abkommens greifen jene der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009 (SR 0.831.109.268.11) auf.
Anwendung unabhängig von der Staatsangehörigkeit
Die Unterstellungsregeln des neuen Abkommens gelten unabhängig von der Staatsangehörigkeit für Personen, die dem Sozialversicherungsrecht mindestens einer der beiden Vertragsstaaten unterstellt sind bzw. waren. Neben den Bürgerinnen und Bürgern der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) sind auch Angehörige von Drittstaaten abgedeckt. Somit wird der persönliche Anwendungsbereich gegenüber dem FZA erweitert, entspricht jedoch der Praxis der jüngeren bilateralen Abkommen der Schweiz.
In territorialer Hinsicht gilt das neue Abkommen für die Schweiz und das Vereinigte Königreich mit Gibraltar, nicht aber für die britischen Überseegebiete sowie die Kronbesitzungen. Demnach gilt für die Isle of Man und die Kanalinseln, die über ein eigenes Sozialversicherungssystem verfügen, das alte Abkommen zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich über Soziale Sicherheit von 1968 (SR 0.831.109.367.1).
Als bilaterale Vereinbarung ist das neue Abkommen grundsätzlich nicht auf das Gemeinschaftsgebiet der EU anwendbar.
Unterstellung am Beschäftigungsort – mit Ausnahmen
Die vom Abkommen erfassten Personen sind der Gesetzgebung eines einzigen Staates unterstellt. In der Regel ist dies der Vertragsstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Allerdings sind abweichend von diesem Grundsatz Sonderregelungen für bestimmte Personengruppen vorgesehen (Beamtinnen und Beamte, Hochseeleute, Flugpersonal).
Unselbstständig- und Selbstständigerwerbende können für 24 Monate in den jeweils anderen Vertragsstaat entsandt werden. Im Rahmen des Gemischten Verwaltungsausschusses, der erst nach dem Inkrafttreten des Abkommens zusammentritt, werden die zuständigen Behörden beider Staaten die Mindestversicherungszeiten beschliessen, die vor einer Entsendung zurückzulegen sind. Da sich die übrigen Voraussetzungen für eine Entsendung mit den Bestimmungen des europäischen Koordinationsrechts übereinstimmen, ist vorgesehen, dass die vorherige Versicherungsdauer für Unselbstständigerwerbende grundsätzlich auch einen Monat und für Selbstständigerwerbende zwei Monate betragen soll.
Die Behörden beider Staaten können mittels einer Ausweichklausel auch eine Verlängerung der Entsendung beschliessen. In allen internationalen Abkommen begrenzt das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) die Entsendungsdauer üblicherweise auf sechs Jahre. Dabei werden auch Entsendungen, die basierend auf der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 oder dem bilateralen Abkommen von 1968 begonnen wurden, bei der Berechnung berücksichtigt.
Mit den Unterstellungsregeln wird auch die Beitragspflicht von Arbeitgebenden mit Sitz ausserhalb des zuständigen Vertragsstaats präzisiert. Laut dem Abkommen können solche Arbeitgebenden mit ihren Arbeitnehmenden vereinbaren, dass Letztere die Pflichten zur Zahlung der Beiträge wahrnehmen, ohne dass die daneben fortbestehenden Pflichten der Arbeitgebenden berührt würden. Dies entspricht der Möglichkeit von Artikel 21 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009. Arbeitnehmende, die nach dem neuen Abkommen obligatorisch bei der AHV versichert sind und deren Arbeitgebende den Firmensitz im Vereinigten Königreich haben, gelten nicht als Arbeitnehmende ohne beitragspflichtigen Arbeitgebenden («AnobAg») im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG; SR 831.10). Dies hat auch Auswirkungen auf den Anschluss an die berufliche Vorsorge und auf die Familienleistungen.
Begleitende Familienangehörige von entsandten Arbeitnehmenden
Die von der Schweiz abgeschlossenen bilateralen Abkommen (jedoch nicht die für die Schweiz gemäss Anhang II des FZA verbindliche Fassung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004) enthalten eine Standardklausel über die Versicherung von Familienangehörigen, die entsandte Personen oder Diplomatinnen und Diplomaten (Beamtinnen oder Beamte) begleiten: Nichterwerbstätige Ehepartnerinnen bzw. Ehepartner und Kinder können demnach mit den Arbeitnehmenden im Herkunftsstaat versichert bleiben.
Unterstellung bei Mehrfachtätigkeit
Eine sonst für bilaterale Abkommen ungewöhnliche Bestimmung betrifft die Unterstellung von gleichzeitig in der Schweiz und im Vereinigten Königreich tätigen Unselbstständig- oder Selbstständigerwerbenden. Darin wird Artikel 13 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 bilateralisiert und im Wesentlichen die «25-Prozent-Regel» übernommen, welche die Unterstellung im Wohnstaat vorsieht, sofern ein wesentlicher Anteil der Erwerbstätigkeit dort ausgeübt wird. Ist dies nicht der Fall, werden mehrfachbeschäftigte Arbeitnehmende wie folgt unterstellt:
- im Vertragsstaat, in dem sich der Sitz des oder der Arbeitgebenden befindet;
- im Vertragsstaat, der nicht der Wohnstaat ist, wenn die Sitze der Arbeitgebenden sich in der Schweiz und im Vereinigten Königreich befinden;
- oder im Wohnstaat, falls der Arbeitgebende keinen Sitz in der Schweiz oder im Vereinigten Königreich hat.
Weitere Bestimmungen, die der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 entsprechen, regeln die Unterstellung von mehrfachtätigen Selbstständigen, von Personen, die in einem Vertragsstaat selbstständig und im anderen unselbstständig erwerbstätig sind, und von Beamtinnen und Beamten, die im anderen Vertragsstaat einer unselbstständigen und/oder selbstständigen Tätigkeit nachgehen.
Die in der EU ausgeübte Erwerbstätigkeit ist nicht abgedeckt und wird bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts gemäss dem neuen bilateralen Abkommen nicht berücksichtigt. Unter Umständen ist eine Person, die gleichzeitig in der Schweiz, im Vereinigten Königreich und in der EU arbeitet, den Sozialversicherungen in einem der beiden Vertragsstaaten gemäss dem bilateralen Abkommen sowie zusätzlich in einem EU-Mitgliedsstaat unterstellt, z. B. gemäss dem FZA oder dem Protokoll über die Koordinierung der Sozialen Sicherheit des Handels- und Kooperationsabkommens zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU (ABl. 2021 L 149/10, S. 10–2539). Zwischen diesen verschiedenen Abkommen gibt es keine institutionelle Verbindung (Triangulation).
Solche Situationen werden eine – nicht völlig neue – Herausforderung präsentieren, denn solche Fälle können aufgrund des fehlenden Dachabkommens zwischen dem FZA und des EFTA-Übereinkommen bereits heute vorkommen, beispielsweise wenn gleichzeitig Erwerbstätigkeiten in der Schweiz, in einem EU-Staat und in Island, Liechtenstein oder Norwegen ausgeübt werden.
Es ist zu betonen, dass das Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger die Situationen bzw. die Rechte der Personen schützt, die die Personenfreizügigkeit vor dem 31. Dezember 2020 wahrgenommen haben und damals unter das FZA fielen; die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 bleibt auf sie anwendbar, solange sie sich – aufgrund von Staatsangehörigkeit, Erwerbstätigkeit oder Wohnsitz – in einer grenzüberschreitenden Situation mit Bezug zur Schweiz und zum Vereinigten Königreich befinden. So bestimmt sich z. B. das anwendbare Sozialversicherungsrecht für einen britischen Staatsangehörigen, der am 31. Dezember 2020 in der Schweiz lebt und arbeitet und später, auch lange nach dem 1. Januar 2021, eine neue Tätigkeit in der EU aufnimmt, weiter nach Artikel 13 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004. Diese Person kann ein Portables Dokument A1 beantragen, welche das Sozialversicherungsrecht bescheinigt, das für all ihre Tätigkeiten gültig ist.
Analoge Verfahren wie zwischen der Schweiz und den EU-Staaten
Analog zur Freizügigkeit von Arbeitnehmenden zwischen der Schweiz und den EU-Staaten bearbeiten die AHV-Ausgleichskassen die Entsendungen zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich oder die gleichzeitige Erwerbstätigkeit in beiden Staaten auf dem vom BSV entwickelten und entsprechend angepassten Online-Portal ALPS (Applicable Legislation Portal Switzerland). Der mit dem Abkommen eingesetzte Gemischte Verwaltungsausschuss wird das zu verwendende Formular für die Bescheinigung der anwendbaren Rechtsvorschriften festlegen. In der Schweiz wäre es am einfachsten, hierfür die allgemeine, für die übrigen bilateralen Abkommen verwendete Bescheinigung zu nutzen.
Die Schweiz und das Vereinigte Königreich haben vereinbart, den Informationsaustausch zur sozialen Sicherheit elektronisch fortzusetzen. Es ist vorgesehen, dass die beiden Staaten weiter das System für den elektronischen Austausch von Informationen der sozialen Sicherheit verwenden (Electronic Exchange of Social Security Information, EESSI).
Beitritt zur freiwilligen AHV im Rahmen der gesetzlichen Rahmenbedingungen wieder möglich
Ab dem 1. Januar 2021 können im Vereinigten Königreich wohnhafte Staatsangehörige der Schweiz, der EU-Staaten, Islands, Liechtensteins und Norwegens der freiwilligen AHV/IV beitreten, sofern die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind (v. a. mindestens fünf aufeinander folgende Versicherungsjahre unmittelbar vor dem Austritt aus der obligatorischen Versicherung). Die in einem EU-Staat bzw. im Vereinigten Königreich bis zum 31. Dezember 2020 zurückgelegten Versicherungszeiten werden bei der Erfüllung der vorherigen Versicherungsdauer nicht angerechnet.
Unterstellung: keine Übergangsbestimmung in Bezug auf das Abkommen von 1968
Das neue bilaterale Abkommen ersetzt mit der vorläufigen Anwendung seit dem 1. November 2021 das Abkommen zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich von 1968, das ab dem 1. Januar 2021 vorübergehend angewandt wurde (ausser für die Isle of Man und die Kanalinseln). In der Praxis fielen in seiner kurzen Anwendungszeit nur wenige Situationen unter das Abkommen von 1968, zumal das Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger einen breiten Schutz bietet. Diese Situationen müssten mit Blick auf die Bestimmungen von Titel II des neuen bilateralen Abkommens neu geprüft werden.
Die nach dem bilateralen Abkommen von 1968 ausgestellten Entsendungsbescheinigungen bleiben bis zum darauf angegebenen Ablaufdatum gültig.