Auf einen Blick
- Das schweizerische System der sozialen Sicherheit ist in ein komplexes, dezentrales Umfeld mit vielen unterschiedlichen Akteuren eingebettet.
- Diese Komplexität, verbunden mit einem Mangel an Transparenz, verhindert mehr Effizienz und Innovation.
- Zentralisierung ist nicht die Lösung, aber ein Perspektivenwechsel drängt sich auf.
Der institutionelle Aufbau der Schweiz ist ausserordentlich komplex. Föderalismus, Subsidiarität, Liberalismus und halb-direkte Demokratie bilden den Rahmen. Die Kompetenzen sind auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene verteilt. Hinzu kommen weitere öffentliche und private Akteurinnen und Akteure, Institutionen und Dienstleistungsanbieter, Berufsorganisationen und andere Trägerschaften mit bisweilen unterschiedlichen Interessen.
Die einzelnen Zweige der sozialen Sicherheit stehen mitten in diesem komplexen Gefüge. Die Alters-, die Invaliden-, die Unfall- oder die Krankenversicherung, die berufliche Vorsorge, die Familienzulagen, die Armutsbekämpfung oder die Beiträge an private Organisationen sind in diesen Rahmen eingebunden. Vertikale und horizontale Partnerschaften oder Kooperationen funktionieren aber nur teilweise, Silodenken ist weitverbreitet, inter- und transdisziplinäre Ansätze sind häufig illusorisch, eine ganzheitliche Sicht kaum vorhanden.
Überholter Vollzugsföderalismus
Der Föderalismus ist fest in unserer politischen Kultur verankert. Er verleiht den Regionen mehr Gewicht, fördert die Nähe zur Gesellschaft und erlaubt es, auf die sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten und die Erwartungen der Bevölkerung einzugehen. Der Vollzugsföderalismus gerät jedoch in einer immer mobileren, stark technologieorientierten Gesellschaft an seine Grenzen.
Ohne aktive, einheitliche Steuerung droht die Dezentralisierung zunehmend ineffizient und damit problematisch zu werden. Das Fehlen gemeinsamer Ziele wie auch die lückenhafte Transparenz und die zahlreichen Ungleichbehandlungen sind eine Realität. Augenfällig sind die vielen unterschiedlichen Leistungen sowie auch die unterschiedliche Höhe der Leistungen: Krankenkassenprämien, Prämienverbilligungen für Versicherte in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen, Familienzulagen, Krippenangebote, Sozialhilfe, Armutsbekämpfung, um nur ein paar zu nennen. Die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen, die zwischen 1990 und 2008 ausgearbeitet wurde, hat diesen komplexen Rahmen leider nicht vereinfacht. Das Reformprojekt sollte deshalb wieder auf den Tisch kommen.
Historisch gewachsene Vielfalt
Die Einbindung von öffentlichen, halböffentlichen und privaten Akteuren in die Umsetzung der Sozialpolitik geht aus einer langen historischen Entwicklung hervor. Die privaten Akteure gingen der öffentlichen Hand sogar voraus. 1947 waren eine AHV-Zweigstelle in jeder Gemeinde oder eine lokale Krankenkasse wichtig, um den Zugang der Bevölkerung zu den Sozialsystemen zu gewährleisten. Bis 1960 übernahmen viele private Organisationen die Rolle einer Invalidenversicherung und unterstützten Menschen mit einer Behinderung. Heute werden diese Organisationen von der Invalidenversicherung (IV) finanziell unterstützt.
Leistungen gewähren mittlerweile mehrere Hundert öffentliche (AHV-Kassen, IV-Stellen), berufliche und private Institutionen (Kranken-, Pensions-, Familienausgleichskassen, Unfallversicherer). Zählt man die subventionierten Organisationen mit, sind es gar Tausende. Angesichts dieser Vielzahl von Akteuren stellt sich die Frage der Zweckmässigkeit und der kritischen Masse. Die hohe Dichte und der von den subventionierten Organisationen hochgehaltene Grundsatz «Einmal unterstützt, immer unterstützt» sollten nicht mehr als unumstössliche Tatsachen betrachtet werden.
Folgen von Public-private-Partnerships
In unserem System der sozialen Sicherheit stehen das öffentliche Interesse und die Effizienz nicht immer an erster Stelle. Einigen geht es auch einfach darum, ihr Territorium, Macht oder finanzielle Interessen zu verteidigen. Es ist offensichtlich, dass öffentlich-private Partnerschaften fragwürdige wirtschaftliche Auswirkungen haben können. Aus dem System der sozialen Sicherheit lässt sich gut Profit schlagen, nicht zuletzt wegen der unzureichenden Transparenz.
Die Problematik der Dezentralisierung und der Beziehungen zu privaten Akteuren wurde kürzlich von der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) untersucht. Sie analysierte, wie Beiträge an private Organisationen durch die IV (Art. 74) gewährt werden. Dabei kam sie zum Schluss, dass die aktuelle Regelung ungenügend sei, da das BSV nicht in der Lage sei, das Leistungsangebot zu beeinflussen. Der Status quo blockiere Weiterentwicklungen, während sich die Bedürfnisse veränderten. Die Organisationen würden den Fokus hauptsächlich auf die Höhe der Subventionen richten statt auf die notwendige Flexibilität, um bestmöglich zu handeln. Bei der Verteilung der Mittel bestehe ein zunehmendes Ungleichgewicht. So erhalten zum Beispiel Organisationen, die sich für psychisch erkrankte Personen einsetzen, vergleichsweise wenig Geld, obwohl das Problem in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen hat.
Digitalisierung der ersten Säule: Mangelnde Effizienz
Ein anschauliches Beispiel für mangelnde Effizienz ist auch die Digitalisierung in der ersten Säule. Unser System setzt voraus, dass die Akteure in der Lage sind, den technologischen Fortschritt zu nutzen, um die sozialen Systeme und deren Steuerung zu modernisieren.
In der Theorie vereinfacht die Digitalisierung das System und den Zugang für Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen. Digitalisierung sorgt für mehr Transparenz bei den Kosten und eröffnet neue Möglichkeiten für die Aufsicht. In der Praxis aber verschärft die Digitalisierung der ersten Säule dogmatisches Denken, das einem schweizweit einheitlichen Zugang kritisch gegenübersteht. Anstatt um bessere und günstigere Leistung geht es um die Verteidigung von Territorien und Einzelinteressen. Dabei wird nicht eine Zentralisierung oder das Ende des Föderalismus angestrebt, sondern vielmehr Effizienz und Transparenz zugunsten der Bürgerinnen und Bürger. Die Digitalisierung der öffentlichen Politik erfordert heute eine aktive Steuerung, die auf einer gemeinsamen Vision, einer Strategie und ausreichenden Mitteln gründet.
Transparenz besser nutzen
Dysfunktionen seien lichtempfindlich ‒ zerre man sie ans Licht, lösten sie sich auf, sagte Charles Kleiber, ehemaliger Staatssekretär für Bildung und Forschung, einmal treffend. Diese Weisheit sollte im Bereich des sozialen Schutzes stärker berücksichtigt werden. Wissenschaftliche Analysen zu den Auswirkungen der Sozialpolitik sind nach wie vor spärlich gesät, während immer mehr Daten und Kenntnisse zur sozialen Realität vorliegen. Daten zur Aufsicht bieten grosses Potenzial. Sie könnten ein besseres Verständnis für die Finanzflüsse, die Strukturen oder die Wirkung der einzelnen Leistungen schaffen. Mehr Transparenz dürfte ausserdem mehr Vergleiche (Benchmark) bewirken. Bislang wird diesem Ansatz jedoch keine Priorität eingeräumt.
Voraussetzungen einer guten Steuerung
Die Schweiz braucht eine kohärente und angemessen regulierte Sozialpolitik, die bezüglich Funktionsweise und Transparenz innovationsfähig ist. Die Vielzahl an beteiligten Akteuren und deren gegensätzliche Interessen stehen aber der Innovation im Weg. Zuweilen fehlt schlichtweg die kritische Masse. Wir denken zu engstirnig und zu sehr in Schubladen, anstatt neue transversale Ansätze für neue soziale Bedürfnisse zu entwickeln.
Den «Menschen ins Zentrum stellen» ist nur möglich, wenn man das Silodenken überwindet. Themen wie Wohnen, Integration oder Inklusion, Prävention oder ganzheitliche Betreuung würden davon profitieren, denn diese Herausforderungen können ohne übergreifende Lösungen nicht erfolgreich angegangen werden. Dasselbe gilt für die zahlreichen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in der Behandlung von Bürgerinnen und Bürgern als Steuerpflichtige, Versicherte und Bezügerinnen und Bezüger von Sozialleistungen. Konkret müssen Bund und Kantone verstärkt gemeinsame Strategien erarbeiten (zu Alter, Armut, Integration, Gesundheit, Familie, Prävention) und ihre Ansätze sowohl inhaltlich als auch steuerungsbezogen eng abstimmen.
Wir könnten uns damit begnügen, zu sagen, dass unser dezentrales soziales System gut funktioniere und die einzelnen Leistungen korrekt verteilt würden. Aber wie steht es um die Effizienz und den optimalen Einsatz der kollektiven Ressourcen? Sicher ist: Wir können es uns nicht leisten, diese Frage offenzulassen.
Dieser Text wurde im Rahmen des Strategietags des Bundesamts für Sozialversicherungen vom 24. Februar zum Thema «Externe Zusammenarbeit» verfasst.