Schlüsselrolle der Psychiater bei der beruflichen Eingliederung

Die temporären und permanenten Arbeitsunfähigkeiten von Menschen mit einer psychischen Erkrankung haben in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Eine schweizweite Befragung von Psychiaterinnen und Psychiatern zeigt deren Engagement und Schwierigkeiten, aber auch Handlungspotenzial auf.
Niklas Baer, Ulrich Frick, Fulvia Rota, Pierre Vallon, Kaspar Aebi, Christine Romann, Julius Kurmann
  |  02. März 2018
    Forschung und Statistik
  • Eingliederung
  • Invalidenversicherung

Den Psychiaterinnen und Psychiatern kommt eine zentrale Rolle zu im Hinblick auf den Verbleib ihrer Patientinnen und Patienten im Arbeitsmarkt: Sie kennen deren Einschränkungen und Ressourcen normalerweise sehr gut, weil sie diese oft über längere Zeit behandeln, und sie sind eine zentrale Bezugsperson.

Ausgangslage und Problemstellung Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern mit einer geringeren Psychiaterdichte übernehmen die Spezialisten in der Schweiz nicht nur diagnostische und psychotherapeutische Aufgaben, sondern oft auch solche der Grundversorgung wie Kontakte mit Behörden, Versicherungen und dem sozialen Umfeld der Patienten oder Notfalldienste. Jährlich begibt sich rund eine halbe Million Personen in psychiatrische Behandlung, sei es bei einem freipraktizierenden Psychiater oder in einer psychiatrischen Einrichtung. Erfahrungsgemäss ist die Kooperation zwischen den psychiatrischen Spezialisten und anderen Akteuren (Sozial- und Privatversicherer, Arbeitgeber etc.) wegen unterschiedlicher Perspektiven nicht immer optimal. Eine übereinstimmende Sicht der beruflichen Einschränkungen und der nötigen Interventionen sowie eine gute Zusammenarbeit sind jedoch gerade bei psychisch kranken Personen eine Grundvoraussetzung für den Arbeitsplatzerhalt und die Re-Integration. Im Länderbericht der OECD (2014) zur psychischen Gesundheit und Beschäftigung in der Schweiz wurde die Rolle der Psychiater denn auch hoch gewichtet und kritisch analysiert.

Ziel und Vorgehen der Untersuchung Um die Schlüsselrolle der Psychiater bei der beruflichen Integration besser zu verstehen, ergriff die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) die Initiative und führte gemeinsam mit der Psychiatrie Baselland (Projektleitung) und der Hochschule Döpfer in Köln (Design und statistische Analysen) zu Beginn des Jahres 2016 eine Befragung der privat und institutionell tätigen Psychiater in der Schweiz durch. Das medizinische und arbeitsrehabilitative Wissen wie auch die praktischen Erfahrungen der Spezialisten zu ihrer Sicht der Probleme in der Kooperation mit anderen Akteuren waren bisher noch nie erhoben worden. Zudem fehlen behandlungsepidemiologische Daten zu Vorkommen und Verteilung arbeitsbezogener Probleme der Patienten.

Die ausführliche Online-Befragung ging an alle SGPP-Mitglieder, wobei psychiatrische Chefärzte gebeten wurden, die Befragung an ihre unterstellten Ärzte weiterzuleiten. Auch die Präsidenten der kantonalen Fachgesellschaften wurden gebeten, die Befragung unter ihren Mitgliedern bekannt zu machen (die genaue Rücklaufquote kann deshalb nicht angegeben werden). 741 Psychiaterinnen und Psychiater aktivierten den Befragungslink, 714 beantworteten ihn zumindest teilweise und 326, also knapp die Hälfte, vollständig. Je rund 75 Prozent der Antwortenden arbeiten in freier Praxis, sind in der Deutschschweiz tätig und über 50 Jahre alt, was die realen Verhältnisse gut abbildet. Der angesichts des Aufwandes erfreuliche Rücklauf ist ein Zeichen für das Bewusstsein der Psychiater für die Relevanz der Thematik und auch für deren Engagement.

Im Folgenden werden vier ausgewählte Teile der Befragung besprochen: Erstens behandlungsepidemiologische Daten zur Arbeitsfähigkeit, zu Problemen am Arbeitsplatz und zum Erwerbspotenzial. Eingehend kommen zweitens die Anamnese und Arbeitsbiografie von Patienten mit aktuellen Arbeitsproblemen zur Diskussion. Drittens werden die Unterschiede zwischen der theoretischen und praktischen Einschätzung von Funktionseinschränkungen erörtert und viertens die Divergenzen in der Beurteilung von  Arbeitsunfähigkeit (sog. Krankschreibungen) diskutiert.

Behandlungsepidemiologie Über 80 Prozent der mehr als 600 psychiatrischen Patienten, zu denen sich über die Befragung ihrer Ärzte Daten erheben liessen, sind im erwerbsfähigen Alter und davon sind rund 60 Prozent im ersten Arbeitsmarkt aktiv (vgl. Grafik G1). Rund ein Drittel dieser Erwerbstätigen hat aktuell Probleme am Arbeitsplatz und/oder ist krankgeschrieben (rund 20%) und/oder von einer Kündigung bedroht (knapp 10%). Jeweils rund 10 Prozent der Patienten sind arbeitslos, in einer betreuten Beschäftigung oder beziehen Sozialhilfe, rund 20 Prozent sind invalidisiert. Rund ein Fünftel der IV-Rentenbeziehenden und Sozialhilfeabhängigen (Säule ganz rechts) verfügt gemäss Psychiater über ein Erwerbspotenzial im ersten Arbeitsmarkt das wegen mangelndem Selbstvertrauen und Resignation nicht aktiviert werden kann. Aber auch die Angst vor den finanziellen Konsequenzen bei einem möglichen Wegfall der IV-Rente oder die mangelnde Bereitschaft der Arbeitgeber, sich auf nötige Arbeitsanpassungen für diese Personen einzulassen, spielen eine Rolle. Mindestens die Hälfte der über die Befragung erfassten psychiatrischen Patienten weist keine oder eine prekäre Arbeitsmarktzugehörigkeit auf. Der Bedeutung und Häufigkeit der schwierigen Erwerbsbiografie psychiatrischer Patienten wird bisher in der ärztlichen Aus-, Weiter- und Fortbildung zu wenig Rechnung getragen.

Familiärer und beruflicher Hintergrund von Patienten mit Arbeitsproblemen Die von der Studie erfassten psychiatrischen Patientinnen und Patienten, die im ersten Arbeitsmarkt tätig sind und mit konkreten Problemen am Arbeitsplatz kämpfen, sind mehrheitlich Frauen, im Durchschnitt 45 Jahre alt, mit abgeschlossener qualifizierter Berufsbildung oder Studium. Auf den ersten Blick (Hauptdiagnose) werden meist  depressive und neurotische Störungen (Anpassungsstörungen, Belastungsreaktionen, Ängste) diagnostiziert. Betrachtet man auch die Nebendiagnosen, so wird deutlich, dass in mehr als 40 Prozent der Fälle eine Persönlichkeitsstörung vorhanden ist, dabei handelt es sich hauptsächlich um ängstlich-vermeidende, emotional instabile, abhängige und narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Hinsichtlich Diagnose und Alter zeigen diese Patientinnen und Patienten dasselbe Profil wie die IV-Rentner und -rentnerinnen aus sogenannt psychogenen und milieureaktiven Gründen – also diejenige Gruppe psychisch kranker IV-Rentner, die in den letzten Jahrzehnten entscheidend zum Anstieg der Invalidisierungen beigetragen hat (Baer et al. 2009). Die hier berichteten Fälle verweisen somit stark auf spätere IV-Rentenfälle.

Patienten mit Schwierigkeiten am Arbeitsplatz bringen eine Reihe von frühen familiären Belastungen schon ins Berufsleben mit (vgl. Grafik G2): Rund die Hälfte hatte zumindest ein Elternteil mit einer psychischen Krankheit und je rund 40 Prozent wurden schwer vernachlässigt, erfuhren Gewalt und Missbrauch bzw. übermässig rigide, strafende Erziehungsmethoden. Rund 40 Prozent der Patienten bringen nicht nur eine, sondern mindestens drei dieser Belastungen mit.

Bemerkenswert und praktisch relevant ist, dass zwei Drittel aller Patienten mit Arbeitsproblemen ein typisches Problemmuster in ihrer Arbeitsbiografie aufweisen. Bei der Hälfte aller Patienten lässt sich gar ein ‚roter Faden‘ von den frühen Belastungen über die Arbeitsbiografie bis hin zur Arbeitsproblematik zum Zeitpunkt der Befragung benennen. Dies zeigt zum einen, dass das Bild des rein arbeitsbedingten Burnouts zu kurz greift. Zum anderen ergibt sich die Chance, aus der Arbeitsbiografie viel für künftige arbeitsbezogene Interventionen zu lernen. Damit fundierte Eingliederungsmassnahmen geplant werden können, braucht es das Wissen der Spezialisten. Die von den Befragten frei geschilderten Problemmuster der Patienten wurden inhaltlich kategorisiert (vgl. Tabelle T1).

Die Tabelle zeigt, wie unterschiedlich die psychologischen Hintergründe von Problemen am Arbeitsplatz sein können und wie eng Biografie, subjektives Erleben, Pathologie und Problemeskalation oft miteinander verknüpft sind. [[Kasten]]Die zwölf Problemmuster lassen sich  bezüglich der Kombination ihres Verhaltens, ihrer Persönlichkeit, Arbeitsbiografie und wirtschaftlichen Situation zu fünf Typen zusammenfassen:

  • Typ 1 ‚überengagiert, rigid, anerkennungsbedürftig‘ (45%): Weist meist einen beruflichen Aufstieg vor und war kaum je arbeitslos oder sozialhilfeabhängig, Arbeitskonflikte und Kündigungen nicht selten.
  • Typ 2 ‚undiszipliniert, externalisierend, konflikthaft‘ (37%): Geht fast immer mit früheren Arbeitskonflikten einher, häufig gefolgt von Kündigungen, einem beruflichen Abstieg und wiederholter Abhängigkeit von Arbeitslosen- und Sozialhilfe.
  • Typ 3 ‚ängstlich-abhängiges Vermeidungsverhalten‘ (45%): Weist meist eine relativ unauffällige Arbeitsbiografie auf, oft mit beruflichem Aufstieg, allerdings auch oft mit längeren Arbeitsunfähigkeiten.
  • Typ 4 ‚Suchtprobleme‘ (21%): Zeigt eine besonders auffällige Arbeitsbiografie. Hat häufig unter Ausbildungsniveau gearbeitet, wiederholte Konflikte und Kündigungen. Gruppe hat höchsten Anteil von Patienten mit längeren Arbeitsunterbrüchen, mit vielen Stellen kurzer Dauer und mit mehrmaliger Arbeitslosigkeit und Sozialhilfeabhängigkeit.
  • Typ 5 ‚häufige und längere Arbeitsunfähigkeiten‘ (11%): Wiederholt Leistungsprobleme und entsprechend beruflicher Abstieg.

 


Textbeispiele für die vier häufigsten Problemmuster am Arbeitsplatz (gekürzt)

Leistungsstreben: „Rigides, emotional kaltes und forderndes Elternhaus. Ehe mit gewalttätigem Ehemann. Sowohl aufgrund des Verhaltens der Eltern wie des Ehemannes zeigte Patientin leistungsorientiertes, selbstaufopferndes Verhalten ohne Rücksicht auf eigene Grenzen und Ressourcen. Überengagement im Beruf. Mühe zu akzeptieren, dass Kolleginnen weniger Engagement zeigen. Patientin ist beruflich gut, kommt daher in Konflikt mit einer überforderten Vorgesetzten und teils Kolleginnen. Depressive Entwicklung, zunehmende Erschöpfung, Gefühl gemobbt zu werden. Schliesslich Zusammenbruch und Arbeitsunfähigkeit. Die Arbeitsplatzproblematik wiederholte sich ein Jahr später ein zweites Mal praktisch identisch.“

Unterordnung: „Als Jugendliche musste sie ihre kranke Mutter pflegen und die jüngeren Geschwister versorgen, da niemand sonst eingesprungen ist. Sie hat funktioniert und die gestellten Aufgaben bewältigt, dabei aber ihre Entwicklung zurückgestellt. Wie in der Herkunftsfamilie kann die Patientin ihre Bedürfnisse bis heute kaum wahrnehmen und nicht einfordern. Sie ist überangepasst und geht über ihre Grenzen.“

Egoismus, Impulsivität: „Bedarf nach Anerkennung, Tendenz sich zu überfordern, schlechte Abgrenzung wird dann plötzlich mit forderndem und schroffes Verhalten „kompensiert“. Kann eigene Bedürfnisse schlecht wahrnehmen, es entstehen Konflikte im Team, verlangt Bedürfnisbefriedigung von Anderen. Falls dies nicht passiert, reagiert sie mit Depression und Arbeitsunfähigkeit.“

Flucht: „Dornröschen ist besonders hübsch und wurde deshalb vom Vater besonders geliebt. Ohne eigenes Verschulden hat sie so früh den Neid anderer auf sich gezogen. Von der bösen Fee (in diesem Fall ihrer Mutter), wurde sie deshalb stets hart drangenommen. Dies wiederholt sich nun mit ihren Chefinnen. Als Abteilungsleiterin wurde sie bspw. an der aktuellen Stelle zunächst in den Rang einer Prinzessin erhoben. Schliesslich zieht sie aber den Ärger der Chefinnen auf sich und wird degradiert. Auf diesen hinterhältigen Stich fällt die Patientin in einen tiefen Schlaf: Ohnmächtig steht sie den Panikattacken gegenüber, welche sie von nun an daran hindern, an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen. Bei anhaltendem depressivem Syndrom ist die Patientin weiterhin krankgeschrieben. Auf (berufliche) Kränkungen reagiert die Patientin mit Ich-Regression. Das schlafende Dornröschen verfügt nicht über die nötige Selbstwirksamkeit, um sich von den Dornen zu befreien. Stattdessen wartet sie darauf, bis sie von einem Prinzen von ihren Problemen erlöst wird. (Da sich kein Prinz zeigt, fällt diese Funktion aktuell dem Gesundheitswesen zu.)“


 

Die Schilderung der Problemmuster durch die Psychiater ergibt oft präzise und relevante Informationen über die Zusammenhänge und Hintergründe von Arbeitsproblemen. Dieses Wissen macht die psychische Beeinträchtigung überhaupt erst verständlich und ist unverzichtbar für die Prävention und Frühintervention bei Problemen am Arbeitsplatz sowie für die Reintegration. Die Identifikation und Beschreibung solcher Muster ist eine Syntheseleistung unter Berücksichtigung von Biografie, Pathologie, Patientenerleben und -verhalten, welche in dieser Prägnanz nicht von anderen Akteuren geleistet werden kann. Der Einbezug von Psychiatern bzw. Psychotherapeuten bei der Problemanalyse und Interventionsplanung zwecks Arbeitsplatzerhalt und Reintegration wäre deshalb an sich in allen relevanten Problemfällen zwingend. Aktuell kommt es jedoch lediglich in rund 30 Prozent der Fälle zu einem Kontakt zwischen Psychiater und Arbeitgeber, und wenn dann meist erst bei eskalierten Problemsituationen.

Theoretische und praktische Einschätzung der Funktionseinschränkungen Die gute Kenntnis der Problem- und Leidensgeschichten der Patienten steht womöglich im Zusammenhang mit einem anderen Resultat der Befragung, welches für die Arbeitsrehabilitation von zentraler Bedeutung ist, nämlich der Einschätzung der Funktionseinschränkungen. Die Befragungsteilnehmer haben für je eines von sechs verschiedenen Störungsbildern anhand von 28 möglichen Funktionsdefiziten ein theoretisches Einschränkungsprofil erstellt. Die resultierenden Profile sind gut nachvollziehbar und differenzieren gut zwischen den einzelnen Störungen. Da die Psychiater dasselbe Profil auch für ihre eigenen realen Patienten erstellen mussten, können ihre theoretischen mit den Einschätzungen ihrer eigenen Patienten mit demselben Störungsbild verglichen werden (vgl. Grafik G3).

Der Vergleich zeigt, dass die Befragten gewisse Einschränkungen im theoretischen Kontext weniger stark gewichten als bei ihren Patienten. Bei den eigenen Patienten, die man wie beschrieben sehr gut kennt, werden bei diesem Störungsbild im Vergleich zur theoretischen Einschätzung die jeweiligen Defizite insgesamt doppelt so häufig als hauptsächliches Problem angegeben – bei einigen Einschränkungen, die theoretisch kaum je eine Rolle spielen, ist die Diskrepanz noch viel grösser (z. B. „perfektionistisch“, „mangelnde Energie“ oder „psychomotorisch verlangsamt“). Umgekehrt werden gewisse Defizite bei den eigenen Patienten schwächer gewichtet als in der Theorie, zum Beispiel bei der „Impulskontrolle“, der „Akzeptanz des Vorgesetzten“ oder der „Empathie“ und „Pünktlichkeit“.  Die Einschätzung der eigenen Patienten zeigt auch kein klares Profil mehr, da der Grossteil aller möglichen Defizite als sehr wichtig betrachtet wird. Diese Diskrepanz zeigt sich bei allen Störungsbildern und ist insbesondere bei der Beurteilung von Patienten mit einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung besonders deutlich.

Es wäre aus verschiedenen Gründen wichtig, die Differenz zwischen praktischer und theoretischer Einschätzung fachlich zu klären. Denn hier bildet sich genau der Unterschied in den Beurteilungen von Gutachtern und Behandlern ab, welcher die Zusammenarbeit zwischen den behandelnden Ärzten, den Arbeitgebern, Versicherern und Behörden erschweren kann. Angesichts der profunden Fachkenntnis wirken die Einschätzungen der eigenen Patienten in der einseitigen Betonung ihrer hilflosen Seite (Angst, Fehler zu machen, mangelndes Durchsetzungsvermögen etc.) doch etwas defizitär. Da die obigen Ausführungen demonstriert haben, wie präzise Psychiater üblicherweise die Probleme ihrer Patienten beschreiben können, dürfen die Interpretationen nicht zu kurz greifen.

Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit Ähnlich unterschiedlich wie die Funktionseinschränkungen wird auch die Arbeitsunfähigkeit beurteilt. In der Befragung wurden differenzierte Angaben zu den letzten beiden in der Praxis beurteilten Arbeitsunfähigkeits-Fällen (AuF-Fälle) erhoben. Es wurde zudem generell danach gefragt, welche Kriterien bei der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit von Bedeutung seien und bei welchen Kriterien eher eine lange, kurze oder gar keine Arbeitsunfähigkeit (‚Krankschreibung‘) indiziert sei. Die Erhebung ergibt, dass die durchschnittliche Dauer mit rund sechs Monaten relativ lang ist. Bemerkenswerterweise liegt sie bei Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung gar bei 40 Wochen und damit deutlich höher als bei allen anderen Störungsgruppen. Die Mehrheit aller Patienten ist zudem Vollzeit krankgeschrieben.

Auch hier wäre zu klären, welches die Hintergründe und der Zweck langer und kompletter Krankschreibungen sind bei Störungen, bei denen eben gerade nicht von einer deutlichen Zustandsverbesserung ausgegangen werden kann. Dabei ist in nicht wenigen Fällen zu vermuten, dass es sich um (krankheitsbedingte) Konflikte am Arbeitsplatz handelt – und nicht in erster Linie um eine krankheitsbedingte Leistungsunfähigkeit. Überdies gefährden die langen Absenzen, seien sie nun medizinisch gerechtfertigt oder nicht, häufig akut den Arbeitsplatzerhalt. Folglich drängen sich auch hier eine systematische Analyse und fachliche Auseinandersetzung auf.

Neben den Ursachen sind auch die Kriterien für die AuF-Beurteilung kritisch zu prüfen: Die Analysen zeigen kaum fachliche Übereinstimmung bei den Kriterien, der Dauer oder des Pensums einer Krankschreibung. Vielmehr lässt sich erkennen, dass die Psychiater die verschiedenen Kriterien unterschiedlich gewichten. Die Analyse zeigt, dass die AuF-Beurteilung weniger von der fachlichen Evidenz als vielmehr vom einzelnen Psychiater abhängt. Hier wäre die Erarbeitung von unterstützenden und fachlich fundierten Empfehlungen für das Ausstellen von Arbeitsunfähigkeitszeugnissen wie auch eine verstärkte Schulungstätigkeit in der ärztlichen Weiter- und Fortbildung angezeigt.

Fazit Das psychiatrisch-psychotherapeutische Wissen ist für Interventionen zwecks Arbeitsplatzerhalt und Reintegration bei relevanten psychischen Beeinträchtigungen unverzichtbar. Obschon es bei den behandelnden Psychiatern in oft hohem Masse vorhanden ist, fliesst es noch zu wenig in die Problemlösung mit ein. Solange die Arbeitsprobleme von Personen mit psychischen Störungen nicht vor dem Hintergrund ihrer (arbeits-)biografischen Erfahrungen, ihres Erlebens und ihrer Pathologie verstanden und für die Eingliederung berücksichtigt werden, lassen sich keine fachlich fundierten Interventionen planen. Die dafür nötige Synthese ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Psychiatern/Psychotherapeuten und anderen Fachleuten, die berufliche Interventionen begleiten.  Das bedingt erstens, dass Psychiater eine vertiefte Arbeitsanamnese erheben und zweitens, dass sie bei der Interventionsplanung einbezogen werden. Mit grosser Wahrscheinlichkeit divergieren die theoretischen und praktischen Einschätzungen von Funktionseinschränkungen und  Arbeitsunfähigkeitskriterien nicht nur unter den Psychiatern, sondern unter allen Ärzten, die eine Arbeitsunfähigkeit zu beurteilen haben. Gleichwohl gilt es diese Diskrepanzen zu verstehen und mithilfe von fachlichen Empfehlungen, Schulungen und vermehrten Kontakten zwischen Ärzten, Arbeitgebern und Versicherern anzugehen. Vor allem die aktuelle Krankschreibungspraxis sollte mit Blick auf ihre begrenzte arbeitsrehabilitative Wirksamkeit diskutiert werden. Es fehlt in der Schweiz nicht an Psychiatern, die sich neben der Symptombehandlung aktiv für ein gutes Funktionieren ihrer Patienten in Alltag und Beruf interessieren und engagieren. Aber es fehlt an Evidenz und Schulung, wie man hier wirksamer als bisher intervenieren kann.

Dr. phil., Fachstelle Psychiatrische Rehabilitation, Psychiatrie Baselland.
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Prof. Dr. rer. biol. hum., HSD University of Applied Sciences, Köln.
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Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Vorstandsmitglied der SGPP, psychiatrische Praxis in Zürich.
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Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Präsident der SGPP, psychiatrische Praxis im Kanton Waadt.
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Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Vorstandsmitglied der SGPP, psychiatrische Praxis in Burgdorf.
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Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, psychiatrische Praxis im Kanton Zürich.
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Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Vorstandsmitglied der SGPP, Chefarzt Stationäre Dienste Luzerner Psychiatrie.
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