Gegenstand dieses Artikels bildet das von der IV-Stelle des Kantons Tessins mit den Organisationen der Arbeitswelt durchgeführte Projekt «Formazioni brevi» (berufliche Kurzausbildungen, KA). Die im Jahr 2013 eingeführte Massnahme soll IV-Versicherten mit eingetretener oder drohender gesundheitlicher Beeinträchtigung berufliche Kurzausbildungen anbieten, die frühere Berufserfahrungen und das Potenzial zur Eingliederung in den normalen Arbeitsmarkt aufwerten und dadurch ihre Erwerbsfähigkeit erhalten, wiederherstellen oder verbessern und ihre Chancen auf berufliche Integration erhöhen.
Die SUPSI evaluierte im Auftrag des BSV das Konzept, die Umsetzung und die ersten verfügbaren Ergebnisse des Projekts. Die Hauptergebnisse werden im vorliegenden Artikel beschrieben. Die Forschungsarbeit (Greppi et al. 2017) beruht auf einer quantitativen Erhebung. Analysiert wurden bestehende Verwaltungsdaten (Zentrale Ausgleichsstelle ZAS und Individuelle Konten der AHV) sowie Primärdaten aus einer Telefonumfrage mit einer Stichprobe von 48 Versicherten (das entspricht etwas mehr als der Hälfte der 93 Personen, die zwischen 2013 und dem Erhebungszeitpunkt eine KA absolviert haben). Neben dem quantitativen Teil wurde eine qualitative Erhebung durchgeführt, die auf der Dokumentenanalyse und auf 23 Interviews mit den wichtigsten Akteuren der Massnahme basiert (IV-Versicherte, Arbeitgeber, die während der KA Personen ausgebildet oder erst nach einer KA eingestellt haben, Verantwortliche von Berufsverbänden und Ausbildungsstellen, IV-Beraterinnen und -Berater).
Entstehung der Massnahme Die KA sollen das Angebot an Eingliederungsmassnahmen für Personen mittleren oder höheren Alters vergrössern, die über umfassende Berufserfahrungen verfügen, aber geringe Schul- und Ausbildungsqualifikation vorweisen und die hauptsächlich wegen einer körperlichen Gesundheitsbeeinträchtigung und mangels Alternativen keinen Anspruch auf Massnahmen haben, ausser auf Vermittlungshilfe.
Die KA bereiten auf einen Beruf vor und vermitteln in durchschnittlich neun Monaten – also in kürzerer Zeit als bei einer kompletten Umschulung zur Erlangung eines Eidgenössischen Fähigkeitszeugnisses (EFZ) oder eines Eidgenössischen Berufsattests (EBA) – neue Berufsprofile.
Die KA wurden dazu konzipiert, die Bedürfnisse der versicherten Personen wie auch die Anforderungen der Berufsverbände und der vertretenen Arbeitgeber effizient zu erfüllen. Die Entstehung der KA ist unter Berücksichtigung der Struktur des Tessiner Arbeitsmarkts zu betrachten. Dieser zeichnet sich durch den schweizweit höchsten Anteil an Mikro-, Klein- und Mittelunternehmen (BFS 2017a) aus, die relativ vielseitiges und kurzfristig einsetzbares Personal mit Querschnittskompetenzen brauchen, sowie durch den hohen Anteil an Grenzgängerinnen und Grenzgängern, die im Tessin einen von vier Arbeitsplätzen besetzen (BFS 2017b) und eine starke Konkurrenz für schwächere Arbeitssuchende darstellen. Diese Situation veranlasste die IV-Stelle, den Bedarf der Unternehmen – d. h. die benötigten Kompetenzprofile – zu eruieren und entsprechende kurze, praxisorientierte Ausbildungsgänge anzubieten.
Von den fünf in der ersten Projektphase identifizierten Wachstumssektoren (Tourismus, Bauwesen, Facility- Management, Gesundheit und Logistik) wurde bis heute nur in der Logistik ein Ausbildungsgang effektiv implementiert. Gründe für die fehlende Umsetzung der KA in den anderen Sektoren sind die Diskrepanz zwischen dem Aufgabenbereich und den funktionellen Einschränkungen der Versicherten, die ungenügende Anzahl Kandidatinnen und Kandidaten und/oder Arbeitgeber sowie das begrenzte Interesse einzelner Berufsverbände und ihrer Ausbildungseinrichtungen. Neben dem Logistiksektor wurden allerdings auch im Verkauf und später im Handel Kurzausbildungsgänge lanciert. Dabei nutzte man bestehende Ausbildungsressourcen und ging vom Grundsatz aus, dass diese Ausbildungen den versicherten Personen auch in anderen Branchen anwendbare Querschnittskompetenzen vermitteln. 1
Am Ende der KA erhalten die Teilnehmenden einen von den kantonalen Berufsverbänden ausgestellten – und im Sektor Verkauf auch von der Abteilung Berufsbildung des Kantons Tessin anerkannten – Ausweis bzw. eine Teilnahmebescheinigung.
Erste feststellbare Auswirkungen Die «Netto»Kausalwirkung der KA-Massnahme ist wegen bestimmter methodologischer Einschränkungen, vor allem wegen der fehlenden Kontrollgruppe, statistisch nicht feststellbar. Hingegen lässt sich das Resultat der KA für die Teilnehmergruppe beschreiben.
Von den Versicherten, die die Umfrage beantwortet haben und sich nicht mehr in einer KA befanden, hat nur ein relativ geringer Anteil (weniger als 20 %) den Ausbildungsgang abgebrochen. Zudem ist festzustellen, dass die KA-Teilnehmenden nach Abschluss der Massnahme praktisch nie zusätzliche finanzielle Leistungen der IV in Anspruch nehmen mussten.
In Bezug auf die Integration in den Arbeitsmarkt schliesslich scheinen die Daten auf einen grossen Erfolg hinzudeuten: Im Erhebungszeitpunkt lag die Beschäftigungsquote bei fast 50 Prozent.
Da jedoch erst sehr wenige Personen am Projekt teilgenommen haben, müssen die «Auswirkungen» der KA in späteren Erhebungen mit grösseren Stichproben bestätigt werden.
Die subjektiven Bewertungen der KA-Teilnehmenden zeigen generell einen hohen Zufriedenheitsgrad, obwohl viele die Organisation und die Inhalte der Ausbildungsgänge als verbesserungswürdig bezeichnen. Insbesondere geben die meisten der aktuell beschäftigten Versicherten an, dass sich ihre Lohnbedingungen gegenüber der letzten Arbeitsstelle vor den KA zunächst verschlechtert hätten. 2 Dieses Ergebnis müsste quantifiziert und mit objektiven Daten verglichen werden; zudem müssten auch die Lohnaussichten der Versicherten ohne KA mit Blick auf die berufliche Laufbahn überprüft werden.
Erfolgsfaktoren und Vorteile der Kurzausbildungen Die Studie zeigt zwei Arten von Erfolgsfaktoren der KA auf: mit dem System und der Umsetzungsstrategie verbundene und mit den Personen und den Stellen verbundene Erfolgsfaktoren. Bei der ersten Art erweist sich die Entscheidung für eine KA, die der Kandidatin oder dem Kandidaten ermöglicht, frühere Berufserfahrungen einzubringen, eindeutig als Erfolgsfaktor. Der direkte Kontakt zum Arbeitgeber während der relativ langen Dauer der KA ist zudem entscheidend, um die «Stigmatisierung», der Bezügerinnen und Bezüger von Sozialleistungen beim Personalauswahlverfahren häufig ausgesetzt sind, zu überwinden. Allgemeiner werden der Qualifikationseffekt und der Nutzen der KA durch die Zusammenarbeit mit den Berufsverbänden gestärkt: Diese gewährleisten, dass die Ausbildungsinhalte mit den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes übereinstimmen.
Bei den personen- und ausbildungsstellenbezogenen Faktoren hat sich als wichtig erwiesen, dass die IV-Beraterin oder der IV-Berater den Arbeitgeber nicht nur beim Erstgespräch, sondern während der ganzen Massnahme unterstützt und begleitet, z. B. wenn Probleme mit der versicherten Person auftreten oder Ausbildungslücken zu schliessen sind. Wesentlich ist auch, dass sich die IV-Beraterinnen und -Berater mit den Partnerunternehmen des Kantons vernetzen und dass sie für ihre Kolleginnen und Kollegen sowie für die Arbeitgeber und für die Ausbildungsstellen zu einer Anlaufstelle im jeweiligen Sektor werden. Die Versicherten erfolgreich für ein gemeinsames Ausbildungsprojekt zu motivieren und die Mitwirkung der mit der IV kooperierenden Unternehmen aufrechtzuerhalten, bilden ebenso wichtige Voraussetzungen.
Obwohl die Erfolgsfaktoren in Bezug auf die spezifischen Ziele der KA definiert werden, zeigt die Studie auch drei grobe Kategorien von Vorteilen der KA gegenüber anderen beruflichen Massnahmen auf: ökonomische und finanzielle Vorteile, Networking- und Governance-Vorteile und schliesslich strukturelle und systemische Vorteile. In Bezug auf die ökonomischen Aspekte besteht die Chance für Arbeitgeber darin, dass sie die KA und die Unterstützung der IV wahrnehmen können, ohne signifikante finanzielle Risiken einzugehen, da die IV alle Umschulungskosten und die Zahlung der Taggelder übernimmt.
Hinsichtlich der Networking- und Governance-Vorteile ermöglichen die KA den Versicherten, Erfahrungen zu sammeln und ihr Bewerbungsdossier zu bereichern. Zudem eröffnen sie die Türen zu einem Betrieb auf dem normalen Arbeitsmarkt – ein für eine spätere Einstellung häufig entscheidender Faktor. Daneben erweitern die KA den Kreis der Ansprechpartner und der Akteure im Umkreis des Systems der beruflichen Massnahmen der IV: Staat, Sozialpartner, Ausbildungsstellen, versicherte Personen und ihre Vertreter.
Als strukturelle oder systemische Vorteile erweisen sich die KA bei der Anpassung der schulischen und betrieblichen Ausbildung an die funktionellen Einschränkungen der versicherten Personen, da sie flexibler sind als die eidgenössisch und kantonal anerkannten Diplome. Dank der stark berufspraktischen Orientierung und der relativ kurzen Dauer der KA lassen sich auch versicherte Personen motivieren, die der Gedanke an eine mehrjährige Umschulung eher abschreckt.
Grenzen der Kurzausbildungen Neben der insgesamt positiven Bewertung seitens verschiedener involvierter Akteure wurden auch einige (festgestellte oder potenzielle) Grenzen der KA-Massnahme deutlich, u. a. dass die Arbeitgeber besser über die von der IV-Stelle vorgeschlagenen Massnahmen informiert und dafür sensibilisiert werden müssen. Die Ergebnisse der Studie zeigen auch, dass es relativ schwierig ist, eine Arbeitsstelle zu finden, ausser wenn man vom ausbildenden Betrieb eingestellt wird. Deshalb ist es wesentlich, Arbeitgeber auszuwählen, die zunächst bereit sind, versicherte Personen bis zum Abschluss der KA zu beschäftigen und eventuell sogar nach Abschluss einer KA, wobei die IV-Stelle als Rekrutierungskanal dienen kann. Die Schwierigkeit, heute ausserhalb des ausbildenden Betriebs eine Stelle zu finden, könnte an der geringen Bekanntheit der Massnahme bei den Arbeitgebern und an der begrenzten «Verwertbarkeit» des KA-Ausweises gegenüber der herkömmlichen Lehre liegen. Sofern jedoch die KA mit spezifischen beruflichen Erfahrungen und Kenntnissen aus der früheren Laufbahn kombiniert wird, kann sie im Bewerbungsdossier der Versicherten einen grösseren Wert gewinnen.
Schliesslich bestätigt die Studie, dass es wichtig ist, auf der Hut zu bleiben und nicht mit Unternehmen zusammenzuarbeiten, die die KA als Reservoir an unbezahlten Arbeitskräften ausnutzen und immer wieder auszubildende Kandidaten anfordern, ohne je jemanden fest einzustellen. Sollte die Anzahl der KA und der teilnehmenden Versicherten künftig erheblich ansteigen, so könnte dies die Konkurrenz unter den Arbeitssuchenden und besonders zwischen gering qualifizierten Personen (KA) und Personen mit höherer Qualifikation (EBA/EFZ) verschärfen – mit dem Risiko, dass der Druck auf die im Kanton Tessin in einigen gesättigten und/oder wenig wertschöpfenden Sektoren ohnehin schon tiefen Löhne noch zunimmt. Demnach wird die künftige Wirksamkeit der KA von einer weiterhin ausreichenden Nachfrage nach repetitiven und wenig qualifizierten Arbeiten in spezifischen Wirtschaftszweigen des Tessiner Arbeitsmarktes abhängen, d. h. nach Tätigkeiten, die für IV-Versicherte, aber nicht zwingend für besser qualifizierte Personen geeignet sind.
Schlussfolgerungen Die Studie schliesst mit einer Reihe von Empfehlungen und Verbesserungsvorschlägen. Eine Ausweitung der KA-Massnahmen wäre insbesondere auf vier Ebenen möglich: (a) Ausweitung auf andere Wirtschaftssektoren; (b) Ausweitung auf andere IV-Versicherte (z. B. Versicherte mit psychischer Gesundheitsbeeinträchtigung), was den Präventionscharakter der Massnahme stärken würde; c) Ausweitung auf andere Bereiche der sozialen Sicherheit (Ausbildung von Migrantinnen und Migranten und von Sozialhilfebezügerinnen und -bezügern, berufliche Wiedereinstiegskurse für Personen, die länger nicht erwerbstätig waren usw.) durch eine intensivere Zusammenarbeit unter den Institutionen; (d) Ausweitung auf andere Kantone, die mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind wie die IV-Stelle des Kantons Tessin.
Um den Nutzen der KA zu erhöhen, könnte ein von den Berufsverbänden interkantonal anerkannter Ausweis in Betracht gezogen werden. Zudem ist es wichtig, dass sich die ausgestellten Ausweise und Bescheinigungen ausdrücklich an das Profil der offiziellen Berufscodes in den eidgenössischen Verordnungen über die Berufsbildung halten, um die Validierung durch den Kanton zu erleichtern. Der von einem Berufsverband ausgestellte Ausweis müsste so gestaltet sein, dass die Äquivalenzen im Hinblick auf den Erwerb des EFZ und EBA klar ersichtlich sind, soweit bestimmte KA-Teilnehmende die entsprechenden Fähigkeiten besitzen.
- Literatur
- Greppi, Spartaco; Avilés, Gregorio; Bigotta, Maurizio; Dif-Pradalier, Maël (2017): Evaluation der «Formazioni Brevi»; [Bern: BSV]. Beiträge zur Sozialen Sicherheit; Forschungsbericht Nr. 10/17.
- BFS, Bundesamt für Statistik (2017a): Struktur der Schweizer KMU 2014.
- BFS, Bundesamt für Statistik (2017b): Medienmitteilung 23.2.2017, Grenzgängerstatistik 2016.
- 1. Einer der beiden Ausbildungsgänge im Handel wurde – anders als die übrigen KA – zusammen mit einer Arbeitnehmerorganisation und nicht mit einem Arbeitgeberverband durchgeführt.
- 2. Dies erklärt sich teilweise womöglich dadurch, dass die Eingliederungsmassnahmen der IV zwar die aufgrund des nationalen Referenzlohns geschätzte Erwerbsfähigkeit wiederherstellen (oder erhalten) sollen, die starken regionalen Lohnunterschiede die Tessiner Versicherten aber benachteiligen, da sich ihre Erwerbsunfähigkeit effektiv verringert.