Das Gute vorweg: Wir leben immer länger. Die Lebenserwartung der Schweizer Bevölkerung steigt weiterhin an. Gleichzeitig sinkt jedoch die Geburtenrate und es gibt weniger Junge, die nachrücken. Dies führt zu einem Ungleichgewicht in der demografischen Struktur: Die Jugend wird zur demografischen Minderheit.
Soziale Transformation des Care-Systems Da sowohl Alter als auch Pflege durch die jüngeren Generationen finanziert werden, kommen sowohl finanzielle als auch personelle Herausforderungen auf die Schweizer Langzeitpflege zu. Wie gross diese Herausforderungen sein werden und mit welchen Mitteln die zu erwartenden Probleme gelöst werden können, wird kontrovers diskutiert. Die meisten Experten stimmen jedoch darin überein, dass ein beträchtlicher Teil der Senioren irgendwann auf (professionelle) Hilfe angewiesen sein wird.
Neben dem demografischen Wandel wird auch der Generationenwandel einen grossen Einfluss auf das Pflegesystem der Zukunft haben. Die Pflegebedürftigen von gestern hatten andere Einstellungen, Erfahrungen, Ansprüche und Vorlieben als die von heute und diese werden sich wiederum relevant von denen der Pflegebedürftigen von morgen unterscheiden. Einerseits führte der Kulturwandel, der mit der 1968er-Bewegung angestossen wurde, zu einer massiven Jugendpräferenz. In der Folge geben die heute 60- bis 70-Jährigen an, sich deutlich jünger zu fühlen als sie tatsächlich sind. Andererseits verstärkte sich in der Industriegesellschaft des späten 20. Jahrhunderts das Anspruchsdenken gegenüber Staat und Gesellschaft. In allen Lebensbereichen verschob sich das bescheidene «Sich-ins-Gegebene-fügen» hin zu einer selbstbewussten Formulierung der eigenen Wünsche. Dieser Einstellungswandel wird nun mit einigen Dekaden Verspätung auch das Pflegesystem erreichen und prägen.
Institutionelle Transformation des Care-Systems Am Anfang der Pflege stand die Nachfrage. Vor der ersten industriellen Revolution ab Mitte des 19. Jahrhunderts war Alterspflege noch keine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sondern wurde in kleinen, engmaschigen Netzwerken organisiert. Kinder dienten dabei als Absicherung für Pflegebedürftigkeit im Alter. Aus Mangel an Angeboten war die Alterspflege nachfrageorientiert organisiert.
Mit der industriellen Revolution kamen explosives Wachstum der Städte und massenweiser Zuzug in eine neue, vergleichsweise anonyme Umgebung. Traditionelle Bindungen lösten sich, familiäre Netzwerke verloren an Bedeutung. Das Industriezeitalter machte die Menschen sowohl freier als auch ungesicherter. In der Folge litten vor allem die Schwächsten der Gesellschaft – Kinder, Alte und Kranke. Armut und Not wurden im Zuge der Industrialisierung nicht mehr als individuelles Unvermögen angesehen, sondern als gesellschaftliches Problem. Daraus entstanden staatliche Institutionen und öffentliche Sicherungssysteme. Die Gesellschaft als Ganzes übernahm allmählich viele angestammte Sicherungsfunktionen der Familie.
Die Industrialisierung standardisierte Produkte und Prozesse. Diese Effizienzrevolution fand auch im Care-Bereich statt, wobei die Anbieter von Pflege und Betreuung eine zentrale Rolle übernahmen. Die Institutionen wurden unabdingbar für Leben und Gesellschaft.
Derzeit jedoch befinden wir uns in der Anfangsphase eines ebenso epochalen Strukturwandels, der die Anbieter von Dienstleistungen und Waren schwächt. Innovationen wie Computer und Internet ermöglichen eine ökonomische und soziale Dezentralisierung – und werden sie immer mehr auch erzwingen.
Das Internet verbindet uns alle, ohne dass wir dabei auf eine zentrale Infrastruktur angewiesen wären und macht uns in vielen Bereichen freier. Es ermöglicht neue Karrieren jenseits der traditionellen Anbieterkanälen. Der technische Fortschritt macht eine weitere Dezentralisierung von Produktion und Service unausweichlich, mit dem Internet der Dinge als wichtigem Treiber. Mittelfristig sind diese dezentralen Systeme den zentral kontrollierten Systemen überlegen, da sie effizienter und flexibler sind.
Da der Aufwand für Kommunikation und Transaktionen durch digitale Produkte heute drastisch zurückgeht, verwandelt sich der Effizienzvorteil, den grosse Institutionen dank ihrer Infrastruktur aufweisen, immer häufiger in einen Effizienznachteil. Das betrifft nicht nur die grossen wirtschaftlichen Organisationen. Auch staatliche und soziale Einrichtungen verlieren in der Digitalisierung an Bindekraft.
Ebenso lässt sich der aktuelle Wunsch nach stärkerer Individualisierung mit zentral geplanten und standardisierten Produkten und Leistungen nur schwer befriedigen. Immer häufiger kommen Lösungen deshalb auch von neuen, externen Playern, weil die bislang zuständigen Einrichtungen hinterherhinken und die individuellen Bedürfnisse der Kunden nicht vollumfänglich befriedigen können.
In der Folge entstehen Systeme, die weit stärker als im Industriezeitalter von den Nachfragenden geprägt werden. Die Entscheidungsmacht über die Produkte und Dienstleistungen eines Unternehmens verschiebt sich von diesem weg hin zum Kunden. Damit wird auch das Pflegesystem konfrontiert sein. Technischer und organisatorischer Fortschritt können dazu führen, dass die Pflege zunehmend vom zu pflegenden Individuum bestimmt wird. Die heutige Anbieterorientierung verschiebt sich hin zu einer Nachfrageorientierung.
Digitale Transformation der Care-Institutionen «Alles, was digitalisierbar ist, wird digitalisiert werden.» (Glaser, Peter: «Die digitale Atomkraft», in GDI Impuls01/2015). Selbst wenn die direkte menschliche Zuwendung als zentrales Element fast jeder Betreuung nicht digitalisierbar ist, bleiben sehr viele Aufgaben, Arbeitsschritte und Elemente übrig, die digitalisiert werden könnten. Und – mehr noch – es gibt viele Aufgaben, Leistungen und Produkte im Care-Sektor, die durch Digitalisierung überhaupt erst möglich werden. Jede Digitalisierung einer bisher analog erledigten Aufgabe bedroht die Arbeitsplätze beziehungsweise Geschäftsmodelle derjenigen, die sich bisher mit dieser Aufgabe befasst haben. Aber – jede Aufgabe, die dank der Digitalisierung neu entsteht, bietet die Chance auf neue Arbeitsplätze beziehungsweise Geschäftsmodelle für alle diejenigen, die sich ihr annehmen.
Entwicklungsrichtungen des Care-Systems Neue Technologien verändern nicht zwangsläufig die Beziehung zwischen Pfleger und Gepflegtem; ihre physischen und emotionalen Bedürfnisse werden durch die Digitalisierung nur marginal beeinflusst. Vielmehr wird sich aber die Art und Weise, wie diese Bedürfnisse befriedigt werden, verändern.
Der Veränderungsdruck wirkt sich entsprechend weniger auf die eigentliche Leistung – die Pflegetätigkeit an sich – aus, als vielmehr auf das institutionelle Gefüge, über das die Bedürfnisbefriedigung organisiert wird. Besonders wichtig wird hierbei die Verschiebung von angebots- zu nachfrageorientierten Systemen sein.
Dieser Wandel des Pflegesystems wird nicht kontinuierlich und zielgerichtet vonstattengehen. Zwischen dem, was heute ist und dem, was morgen sein wird, befindet sich eine grosse Zahl unkalkulierbarer Zwischenzustände. Dabei handelt es sich nicht um eine einheitliche Bewegungsrichtung, sondern vielmehr um eine wogende Entwicklung entlang der Konfliktlinien zwischen Angebot und Nachfrage und zwischen öffentlicher und privater Leistungserbringung.
Aus der Kombination dieser beiden Konfliktlinien entstehen vier mögliche Entwicklungsrichtungen (vgl. GrafikG1). Sie schliessen sich nicht gegenseitig aus, sondern können parallel (in unterschiedlichen Segmenten des Pflegesystems) oder nacheinander (im selben Segment) durchlaufen werden.
Status quo plus Im Status quo plus bleibt das heutige, von öffentlichen Leistungserbringern geprägte, angebotsorientierte System im Grossen und Ganzen bestehen. Die Aufgabe seiner Optimierung und Anpassung an den gesellschaftlichen und technologischen Wandel bleibt mehrheitlich bei den angestammten Institutionen.
Die Rahmenbedingungen werden schwieriger als heute (demografischer Wandel, Situation auf dem Arbeitsmarkt), daher liegt der Fokus vermehrt auf Produktivitätssteigerung und Kostensenkung.
Ein Engpassfaktor ist die Verfügbarkeit von fachlich geschultem Personal. Um den Personalbedarf zu reduzieren, ist eine Produktivitätssteigerung nötig. Nachbarschaftshilfe und Freiwilligenarbeit werden gefördert, beispielsweise durch die Einführung einer Pflegewährung (Care Currency).
Technischer Fortschritt ermöglicht ein längeres Verbleiben in der eigenen Wohnung, 24/7-Betreuung ist technisch in Reichweite, was die Nachfrage nach stationären Leistungen stark reduziert.
Care Society Dieses Szenario beschreibt eine Gesellschaft, die ihren Schwerpunkt von wirtschaftlicher Leistung auf soziale Zuwendung verlagert hat. Die Produktivitätspotenziale des technischen Fortschritts führen dazu, dass materielle Leistungen von Maschinen und Algorithmen erbracht werden. Immaterielle Leistungen hingegen von Menschen.
Pflege und Zuwendungen werden nicht weiter als Optimierungsaufgabe betrachtet, sondern als eine von vielen Formen, in denen sich Menschen um Menschen kümmern. Sie werden zur Gemeinschaftsaufgabe und werden gemeinschaftlich organisiert. Kleinräumige Koordination spielt die wichtigste Rolle, Zuwendung wird innerhalb bestehender Gemeinschaften stattfinden.
Professionelle Pflege wird auch weiterhin nötig sein. Aber durch den Einsatz von Robotik und künstlicher Intelligenz, kann auch in diesem Sektor ein grösserer Teil der Aufgaben über informelle Hilfe von Nachbarn, Familie und Freunden erledigt werden.
Care Convenience In diesem Szenario wird das Pflegesystem einmal komplett umgestülpt. Das zentrale Element dieses Szenarios sind die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen. Digitale Assistenten und Plattformen übernehmen wichtige Aufgaben in der Verknüpfung von Nachfrage und Angebot.
Diese Plattformen werden nur im Rahmen einer umfassenden staatlichen Regulierung agieren können. Die Gesellschaft muss sicherstellen, dass alle Pflegebedürfnisse abgedeckt werden, nicht nur die marktwirtschaftlich profitablen.
Neue technische Lösungen übernehmen weite Teile der Care-Kommunikation und -Koordination, greifen dabei aber kaum in die Interaktion zwischen Pfleger und Gepflegtem ein.
Die Nachfrageorientierung führt dazu, dass bisherige zentrale Care-Anbieter an Bedeutung verlieren. Dafür erhalten die neuen Plattformbetreiber mehr Gewicht.
Wichtig: Im Gegensatz zu anderen kommerziellen Plattformen ist hier die Zuverlässigkeit zentral. Wenn ein Uber-Taxi zu spät kommt, ist das einfach mühsam. Wenn eine lebensrettende Massnahme zu spät kommt, kann das tödlich enden.
Big Doctor In diesem Szenario stehen die Gesundheit bzw. die Abwendung von Krankheit im Zentrum. Durch die konstante Überwachung von Bio-Daten und individuellem Verhalten mittels digitaler Diagnosesysteme kann jederzeit die bestmögliche Unterstützung gegeben oder beauftragt werden. Neu sind Before-Demand-Lösungen denkbar, welche eine Massnahme empfehlen, noch bevor Komplikationen überhaupt auftreten.
Um entsprechende Prognosen abgeben zu können, müssen den Diagnose-Systemen eine Vielzahl von körpereigenen Daten in Echtzeit zur Verfügung stehen. Der sensible Umgang mit diesen Daten ist hier zentral.
Da das System die Pflegeleistung möglichst dort zur Verfügung stellt, wo sich die pflegebedürftige Person gerade aufhält, wird der ambulanten Infrastruktur eine grössere Bedeutung zukommen als bisher.
Der Big Doctor muss sein Angebot stark auf Technologie ausrichten, da die Datenmenge leistungsstarke und zuverlässige Algorithmen erfordert. Technologie alleine reicht aber nicht aus. Menschlichen Kontakt, Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl braucht es nach wie vor, gerade bei Individuen, aus deren Bio-Daten sich heikle oder niederschmetternde Informationen ablesen lassen. Es braucht eine Kombination aus «High-Tech und High-Touch».
Schlussfolgerungen Die Alterspflege der Zukunft, welche die demografischen, sozialen und institutionellen Herausforderungen meistert, weiss das technische und zwischenmenschliche Potenzial, das ihr mit der Digitalisierung erwächst, zu nutzen. Richtungsweisend sind dabei die folgenden Annahmen:
- Die Herausforderungen, vor denen das Pflegesystem steht, sind lösbar. Es muss jedoch etwas unternommen und nicht stur am Bisherigen festgehalten werden.
- Die Pflege wird sich in Zukunft stärker an den individuellen Bedürfnissen der Gepflegten orientieren und sich in Richtung einer nachfragezentrierten Branche verändern.
- Take Care: Pflege wird in Zukunft öfter vom Individuum genommen, als von der Institution gegeben.
- Ein Strukturwandel, der die individuellen Bedürfnisse der Gepflegten ins Zentrum stellt, dürfte den Interessen vieler Bürger wohl näherkommen, als ein Festhalten an bisherigen Strukturen.
GDI-Studie: Take Care
Kann Alterspflege in Zukunft auch anders organisiert werden? Die GDI-Studie «Take Care» zeigt, in welche Richtungen sich die Pflegebranche entwickeln kann und wie Care-Institutionen auf den Wandel reagieren können.