Mehrebenen-Governance im Zeichen der beruflichen Integration

Vor gut 20 Jahren beauftragte die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des National­rats den Bundesrat mit der Einsetzung einer interdepartementalen Arbeitsgruppe, die einen Bericht und einen Massnahmenplan zur Optimierung der IIZ erarbeitete. BSV-Vizedirektor Stefan Ritler unterhielt sich mit den Fachspezialistinnen Sabina Schmidlin und Andrea Lüthi über bislang Erreichtes und nächste Ziele.
  |  04. September 2020
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IIZ-Fachstelle: Herr Ritler, als langjähriger Leiter der IV-Stelle Solothurn sowie des Geschäftsfelds IV am Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) und als Mitglied des nationalen IIZ-Steuerungsgremiums kennen Sie die IIZ sowohl aus kantonaler Sicht als auch aus der Perspektive des Bundes. Wenn Sie auf die rund zwanzigjährige Geschichte der IIZ zurückblicken, was hat sich verändert und welches waren die wesentlichen Meilensteine auf dem Weg zur heutigen IIZ?

Stefan Ritler: In den Anfängen hatte das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) den Lead. Eine der Hauptaufgaben der vom Seco zusammengestellten Arbeitsgruppe war es auszulegen, welche Zugänge die an der beruflichen Integration beteiligten Systeme der sozialen Sicherheit, d. h. die Arbeitslosenversicherung (ALV), Invalidenversicherung (IV) und Sozialhilfe, zum regulären Arbeitsmarkt haben: Während sich die Sozialhilfe damals ausschliesslich auf die Bedarfshilfe konzentrierte, unterschieden sich die ALV und die IV vor allem bei den Eingliederungszielen. Was in der Tendenz auch heute noch so ist. Die IV möchte die Personen vor allem nachhaltig in den Arbeitsmarkt integrieren, die ALV hingegen will die Leute möglichst schnell in den Arbeitsmarkt zurückbringen.

Anfang der 2000er-Jahre lief die 4. IVG-Revision. Sie hatte den Schwerpunkt, die aktive Arbeitsvermittlung zu fördern. Dies führte bei den kantonalen IV-Stellen zu einer Intensivierung der Kontakte mit den Arbeitgebern. Bald schon pflegten die IV-Stellen mehr Kontakte zu den Arbeitgebern als die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV). Zu diesem Zeitpunkt wurden auch Themen wie Arbeitsplatzerhalt und Arbeitgeberakquise aktuell. Alle drei Anliegen sind heute noch zentral für die IIZ und gehören mittlerweile zu den gemeinsamen Zielen der Sozialhilfe, der RAV und der IV-Stellen. Die IIZ ist heute auch auf Bundesebene besser strukturiert, und bei den Arbeitgebern ist auch eine gewisse Sensibilisierung für die Integration von Langzeitarbeitslosen, Ausgesteuerten, Erwerbsbehinderten sowie seit ein paar Jahren auch von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen vorhanden.

Welche Rolle spielten die Kantone damals?

Interessant ist ja, dass wichtige Signale und Inputs zur IIZ damals eigentlich Bottom-up erfolgten, über die beiden Konferenzen der kantonalen Volkswirtschaftsdirektoren und -direktorinnen (VDK) und der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK). Gemeinsam verfassten sie Empfehlungen zur Förderung der IIZ. In diesem Zusammenhang wurde auch erstmals die Einrichtung von kantonalen IIZ-Koordinationsstellen vorgeschlagen. Ihre Aufgabe sollte es sein, die IIZ mit den betroffenen Akteuren in den Kantonen durch organisatorische und andere Massnahmen zu fördern und zu erleichtern.

2010 gab es dann den Beschluss zur Einsetzung einer nationalen IIZ-Organisation, der von den beiden Bundesräten Johann N. Schneider-Ammann und Didier Burkhalter unterschrieben wurde.

Mit dem Einsetzungsbeschluss entstand die zweistufige Organisationsstruktur der nationalen IIZ, wie wir sie heute kennen: Im Entwicklungs- und Koordinationsgremium sind mit den Verbänden die Durchführungsstellen vertreten. Im Steuerungsgremium sitzen die vier Bundesgremien (BSV, SECO, SBFI und SEM) und die entsprechenden kantonalen Direktionen (VDK, SODK, EDK) sowie der Städte- und Gemeindeverband. Allerdings birgt die zweistufige Organisationsstruktur und die damit einhergehende Steuerung der IIZ über mehrere staatliche Ebenen hinweg eine gewisse Schwerfälligkeit – sowohl für deren Weiterentwicklung als auch im Austausch. Schliesslich steht auch die Frage der Verbindlichkeit der gefällten Entscheidungen und Beschlüsse immer wieder im Raum. Mit der Professionalisierung der Fachstelle wurde ihre Scharnierfunktion gestärkt, sodass sie dazu beitragen kann, die Zusammenarbeit unter den Akteuren zu vereinfachen.

Inwiefern konnte die IV von der IIZ profitieren?

Für die 5. IVG-Revision, die 2008 in Kraft trat, waren Früherfassung und Frühintervention als präventive Ansätze wichtig. Der Esprit der Früherfassung kam eigentlich aus der IIZ. Für die IV hiess das: Bevor jemand Leistungen bei der IV anmeldet, müssen wir mit den beteiligten Akteuren das Gespräch suchen. Wir müssen wissen: Welche Probleme liegen vor, welche Ressourcen stehen im persönlichen Umfeld oder am Arbeitsplatz zur Verfügung? Wer ist zuständig, wer hat welche Unterstützungsmöglichkeiten? Als wir in der IV die Früherfassung einführten, traten gewisse Entwicklungen der IIZ, die man seit der Jahrtausendwende gefördert hatte, aus Sicht der IV plötzlich in den Hintergrund.

Inwiefern?

Man hörte: Mit der Früherfassung hat die IV genau die Grundlagen für die zielgerichtete und nachhaltige berufliche Integration geschaffen, auf die die IIZ abzielt. Die 5. IVG-Revision lieferte zudem die gesetzliche Grundlage für die entsprechende Zusammenarbeit. Dadurch kam die IV in eine Position, in der sie Arbeitgebern und Ärzten u. a. dort ein Angebot machen konnte, wo die anderen Institutionen der sozialen Sicherheit auf Goodwill angewiesen waren. Die IV konnte aber auch von anderen lernen, beispielweise von der ALV, die ihr mit den arbeitsmarktlichen Massnahmen in der beruflichen Integration einiges an Erfahrung voraushatte.

Und was konnte die IV bislang zur Weiterentwicklung der IIZ beitragen?

Ich sehe es als ein gegenseitiges Geben und Nehmen: Während die Sozialversicherungen, allen voran die IV, vom IIZ-Ansatz des personenzentrierten Fallmanagements profitierte, trugen Erstere mit Gesetzesänderungen ihrerseits wiederum dazu bei, die IIZ überhaupt zu ermöglichen. So wurde durch entsprechende Anpassungen im IVG und im AVIG (Arbeitslosenversicherungsgesetz) die Möglichkeit geschaffen, Informationen zwischen den Leistungserbringern auszutauschen. Dadurch erst liessen sich für die betroffenen Personen geeignete Eingliederungsmassnahmen finden oder Leistungsansprüche klären.

Hat sich die Beziehung der IV zu den anderen IIZ-Partnern im Verlauf der Zeit verändert?

Gerade die Früherfassung vermochte der Zusammenarbeit mit den RAV und der Sozialhilfe neue Impulse zu geben. Zudem hat die IV den Anspruch übernommen, eine aktive Arbeitsvermittlung zu fördern. Sie geht auf die Arbeitgeber zu und sensibilisiert sie, Arbeitsplätze für die Wiedereingliederung zur Verfügung zu stellen; auch unabhängig von konkreten Fällen. Das ist genau das, was die RAV und die Sozialhilfe heute auch stärker tun. Das Bewusstsein fördern, gemeinsam unterwegs zu sein: Das ist ein grosses Anliegen der IV und ein zentrales Thema der IIZ.

Inwiefern erleichtern die verschiedenen Revisionen des IVG das Wirken der IV innerhalb der IIZ?

Die IV-Stellen verfügen über die notwendige Werkzeugkiste für eine aktive IIZ. Die «Weiterentwicklung der IV», die in der Sommersession vom Parlament verabschiedet wurde, enthält weitere nützliche Elemente und Erleichterungen. Es gibt IV-Stellen, die vor allem während der Früherfassung und Frühintervention stark mit den anderen IIZ-Akteuren zusammenarbeiten. Mit einem aktiven Case-Management involvieren sie alle, die am Fall beteiligt sind. Auf der Suche nach der geeigneten Massnahme berücksichtigen sie auch das persönliche Umfeld der Betroffenen und den weiteren Kontext viel stärker als früher. Es gibt verschiedene gute Beispiele, wie Optima im Kanton Luzern oder das abgeschlossene Projekt Pforte im Kanton Aargau. Schweizweit gibt es mehr als 80 kantonale und kommunale Projekte. Aus Sicht der Aufsichtsbehörde gibt es natürlich auch IV-Stellen, die die Möglichkeiten der IIZ nur beschränkt nutzen. Auch ist die Bereitschaft zur IIZ nicht in allen Kantonen gleich ausgeprägt. Aber IIZ kann man nicht alleine betreiben. It takes two to tango – im Minimum – gerade zur Unterstützung von Menschen mit komplexen Problemen.

Da geht es ja dann auch darum, Systemgrenzen und Kässelidenken zu überwinden.

Ja, das ist so. Wenn Sozialhilfe, IV und ALV ihre Arbeit auftragsgetreu erledigen, dann hat jeder Akteur genügend Gründe, sich abzugrenzen und sich der Zusammenarbeit zu entziehen, ohne dass man jemandem den Vorwurf machen kann, er mache den Job nicht richtig.

Wieso?

Weil jedes System für sich über die rechtlichen Grundlagen verfügt, die diese Abgrenzung definiert und zulässt. Es braucht den Goodwill aller Beteiligten, um im Interesse der betroffenen Person über die Systemgrenzen hinweg zu denken und zusammenzuarbeiten.

Letztlich sind also die Kantone in der Pflicht, ein gemeinsames Vorgehen zu unterstützen und zu ermöglichen? Welche Rolle hat der Bund?

Ja, gefordert sind vor allem die Durchführungsorgane in den Kantonen und Gemeinden. Sie sind direkt mit den Betroffenen im Kontakt. Integration findet in der Region statt. Lösungen werden vor Ort geschmiedet. Aus Sicht der betroffenen Personen ist der Bund weit weg. Die Aufgabe des Bundes ist es einerseits, mit einer umsichtigen und zielgerichteten Rechtsetzung die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Zusammenarbeit in den Kantonen erleichtert wird. Anderseits muss er aber auch bereit sein – und hier ist die IIZ ein Paradebeispiel – politikfeldübergreifende Strategien zu entwickeln und Impulse zu geben, wenn die Komplexität der Aufgabe, wie die berufliche Integration eine ist, es erfordert.

Wo konnten Sie ganz persönlich Akzente in der IIZ setzen?

Das ist schwer zu sagen. Ich hatte ja sehr unterschiedliche Rollen. Als Präsident der IV-Stellenkonferenz war ich in der Arbeitsgruppe des Bundes zur Einführung der Früherfassung und der Frühintervention. Bei der IV-Stelle Solothurn hatten wir mit der Frühintervention bereits zwei Jahre lang Erfahrung gesammelt, als sie im Rahmen der 5. IVG-Revision Standard wurde. Dadurch konnte ich in der Arbeitsgruppe aufzeigen, wo das Potenzial und die Grenzen der Früherfassung liegen. Als Geschäftsfeldleiter der IV werde ich heute dank der IIZ frühzeitig in geplante Vorhaben der anderen Bundesakteure einbezogen. Das hat den Vorteil, dass wir allfällige Doppelspurigkeiten früh genug erkennen und einander auf dem Lösungsweg unterstützen können. Bei der Entwicklung der Potenzialanalyse oder anderer Integrationsangebote für Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene konnte das SEM beispielsweise von den Erfahrungen der ALV und der IV profitieren.

In den letzten Jahren gab es verschiedene politische Vorstösse, die die Auflösung der nationalen IIZ-Gremien forderten. Ginge es also nicht auch ganz gut ohne?

Man sagt: Wir diskutieren viel und bewirken wenig. Ich bin nicht dieser Meinung und würde es fatal finden, wenn man die IIZ-Gremien abschaffen würde. Sie leisten einen wesentlichen Beitrag, das Silodenken der Bundesakteure zu überwinden. Die IIZ veranlasst diese zum Austausch und zur gegenseitigen Information über Geschäfte und Projekte, die gerade stattfinden. Die nationale IIZ braucht es auch, um den Dialog zu institutionalisieren. Denn erst dann bemühen sich die Beteiligten, auf dem aktuellen Stand darüber zu sein, was bei den anderen gerade läuft. Die IIZ beginnt eigentlich bei unseren Bundesrätinnen und Bundesräten, sie müssen dahinterstehen, sich im Grundsatz einig sein. Nur so lassen sich Vorhaben zwischen den Ämtern bzw. den Staatssekretariaten realisieren. Auf Stufe Kanton ist es das Gleiche, entweder hat man Arbeitsbeziehungen, die auf Vertrauen, und so weit als möglich auf gemeinsamen Zielen, basieren oder es funktioniert eben nicht. Jedes System hat immer seine Gründe, in die Reserve zu gehen und nicht zu kooperieren.

Auf Bundesebene hat die IIZ allerdings das Problem, dass man sie in den Kantonen häufig nicht oder zu wenig wahrnimmt. Hier ist dann die Kommunikation wichtig. Da vermitteln wir, was auf Bundesebene in der Zusammenarbeit bei einzelnen Geschäften und Themen läuft, welche Konzepte angedacht werden und was in den Kantonen und Gemeinden ausprobiert und dauerhaft umgesetzt werden könnte.

Sie werden nächstes Jahr für zwei Jahre den Vorsitz des Steuerungsgremiums übernehmen. Wo wird die IIZ in fünf Jahren stehen?

Ich gehe etwas an die Anfänge zurück. Ich wünsche mir, dass die verschiedenen Departemente, die in den Kantonen für die berufliche Integration zuständig sind, ein gemeinsames Zielbild verfolgen. Hierzu muss zwischen der Berufsbildung, den IV-Stellen, den RAV, der Sozialhilfe, den Integrationsbeauftragten sowie der Arbeitgeberschaft ein Netzwerk aufgebaut und bewirtschaftet werden, das die Bedürfnisse der Betroffenen und den Bedarf des Arbeitsmarkts möglichst nachhaltig miteinander zu vereinbaren versteht.

Und welche Wünsche haben Sie für die nationalen IIZ-Gremien?

Auf Bundesebene wünsche ich mir, dass die Massnahmen zur Förderung des Arbeitskräftepotenzials umgesetzt werden und die erwartete Wirkung erzielen. Um die Integrationsarbeit der kantonalen und kommunalen Akteure vor Ort zielgerichtet zu fördern, kommen die «Bündeler» vielleicht auch zum Schluss, dass es sinnvoll wäre, dass die IIZ-Partner sich auf einen einzigen Akteur einigen, der für die Arbeitsvermittlung und Arbeitgeberbewirtschaftung verantwortlich ist. Statt dreier oder mehrerer Player, die sich um die Stellenangebote reissen und sich gegenseitig auf die Schnürsenkel treten, würde dann eine Stelle die verschiedenen Bedürfnisse der Akteure mit dem Ziel einer möglichst nachhaltigen Integration der Betroffenen koordinieren.

Entwicklung der IIZ

1999
Bericht der interdepartementalen Arbeitsgruppe gemäss Postulat «Vollzugsverbesserungen im Arbeitslosenversicherungsgesetz (AVIG) und bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV)» (99.3003), eingereicht durch die Kommission für Wirtschaft und Abgaben NR.

2001
Empfehlungen der VDK und SODK zur IIZ führen zu verschiedenen kantonalen Projekten, die zur Verbesserung der IIZ beitragen.

2004
Publikation des Handbuchs zur IIZ.

2005
Start des Pilotprojekts IIZ MAMAC (Medizinisch-Arbeitsmarktliche Assessments mit Case-Management) mit den Zielen: rasches Handeln, klare Ansprechstellen, mehr Verbindlichkeit und kürzere Taggeld- oder Rentenzahlungen.
Ergänzend dazu Abschluss der «IlZ-pIus-Vereinbarung» zwischen der IV-Stellenkonferenz (IVSK), dem Schweizerischen Versicherungsverband (SVV), Santésuisse und dem BSV; der 2008 auch der Schweizerische Pensionskassenverband (ASIP) und die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) beitreten.

2008
Einführung des Case-Managements «Berufsbildung» (CMBB) in den Kantonen.

2010
IIZ-MAMAC läuft aus und wird auf nationaler Ebene nicht weiter unterstützt.
Einsetzungsbeschluss einer nationalen IIZ-Organisation durch die Bundesräte Johann N. Schneider-Ammann und Didier Burkhalter.

2011
Aufbau der nationalen IIZ-Gremien zur Weiterentwicklung der IIZ; Aufnahme des Staatssekretariats für Migration SEM in die nationalen Gremien auf Ersuchen des EJPD.

2016
Evaluation der IIZ.

2017
Erneuerung des Beschlusses über die nationale Organisation der IIZ durch die Bundesräte Alain Berset, Simonetta Sommaruga und Johann N. Schneider-Ammann, sowie Einsetzung einer permanenten Leitung der nationalen IIZ-Fachstelle.

Weiterführende Informationen: www.iiz.ch