70 Jahre Erwerbsersatzordnung: Von der Armee zur Familie

Die 1953 geschaffene Erwerbsersatzordnung war zunächst auf Militärdienstleistende beschränkt. Heute entschädigt sie auch den Erwerbsausfall bei Mutterschaft, Vaterschaft, Adoption und bei der Betreuung von schwer beeinträchtigten Kindern.
Andrea Künzli
  |  16. Mai 2023
    Recht und Politik
  • Erwerbsersatzordnung
Junge Frauen setzen sich im September 2004 in Zürich für eine Mutterschaftsentschädigung ein. An der Urne resultierte dann ein Ja. (Keystone)

Auf einen Blick

  • Die Erwerbsersatzordnung (EO) trat 1953 in Kraft; ihre Wurzeln liegen im Zweiten Weltkrieg.
  • Nebst Militärdienst-, Zivildienst- und Zivilschutzleistenden versichert die EO inzwischen auch Mütter, Väter, Adoptiveltern und Eltern von gesundheitlich schwer beeinträchtigten Kindern.
  • Grundsätzlich deckt die EO 80 Prozent des Erwerbseinkommens ab.

Während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) sicherten Schweizer Soldaten die Landesgrenzen. Weil die Wehrpflichtigen ausser einem bescheidenen Sold kein Einkommen erzielten, gerieten viele Familien in finanzielle Schwierigkeiten. Dies führte zu sozialen Spannungen, welche im Generalstreik vom November 1918 kumulierten.

In der Zwischenkriegszeit führten grosse Unternehmen und der öffentliche Dienst nach und nach einen Lohnersatz für dienstleistende Soldaten ein. Ein von der Arbeiterschaft gefordertes Obligatorium scheiterte jedoch unter anderem am Widerstand der Arbeitgebenden.

Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs (1939–1945) ging es dann rasch vorwärts: Im Jahr 1939 führte der Bundesrat die Lohnausfallentschädigung für Wehrmänner (LEO) ein, welche 1940 zur Lohn- und Verdienstersatzordnung (LVEO) erweitert wurde. Die neue Sozialversicherung, die auch Selbstständigerwebende miteinbezog, bot den mobilisierten Soldaten einen Einkommensersatz und verhinderte damit Notlagen wie im Ersten Weltkrieg.

Finanziert wurde die LVEO über Lohnbeiträge von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden (je 2 Lohnprozente) sowie über Beiträge des Bundes und der Kantone. Beitragspflichtig waren auch berufstätige Frauen und Ausländer, die keinen Militärdienst leisteten.

 

Vorbild für die AHV

Verwaltet wurden die Gelder durch Ausgleichskassen der Arbeitgeber, welche durch öffentliche Kassen des Bundes und der Kantone ergänzt wurden. Diese Kassen zahlten während der Dienstzeit Taggelder in der Höhe von 50 bis 80 Prozent des Lohnes – wobei sie für Familienväter Zusatzleistungen vorsahen. Zudem enthielt das System einen Reservefonds.

Nach Kriegsende diente die LVEO der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) als Vorbild. So übernahm die 1948 eingeführte AHV das System der Ausgleichskassen, und auch die AHV wird hauptsächlich über Lohnbeiträge finanziert.

Rechtlich gesehen bestand die LVEO lediglich als provisorische Regelung, die auf dem Vollmachtenregime des Bundesrates basierte. Aus diesem Vollmachtenrecht ging die Erwerbsersatzordnung (EO) hervor, die am 1. Januar 1953 in Kraft trat und ihre Rechtsgrundlage im Erwerbsersatzgesetz (EOG) hat.

Grundsätzlich deckt die EO 80 Prozent des vordienstlichen Einkommens. Rekruten erhalten in der Regel eine Mindestentschädigung von aktuell 69 Franken pro besoldeten Diensttag.

 

Mutterschaftsentschädigung: Ein langer Weg

Zunächst erhielten nur Militärdienstleistende einen Erwerbsersatz. Später kamen Zivilschutz (1962) und Zivildienst (1996) hinzu.

Nach der Jahrtausendwende kam es mit der Einführung der Mutterschaftsentschädigung zur ersten grossen Änderung in der EO: Seit 2005 ist auch der Erwerbsausfall bei Mutterschaft über die EO versichert.

Damit wurde eine politische Forderung erfüllt, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Denn das Fabrikgesetz von 1877 sah zwar ein achtwöchiges Arbeitsverbot nach der Geburt vor – Geld wurde aber keines ausbezahlt. Im Jahr 1945 wurde schliesslich der Verfassungsauftrag für eine Mutterschaftsversicherung geschaffen.

Bis die Mutterschaftsentschädigung umgesetzt war, vergingen aber weitere 60 Jahre. Entsprechende Vorlagen scheiterten entweder im Parlament oder in den Volksabstimmungen in erster Linie an der Finanzierung. Viele betrachteten die Mutterschaft zudem als «privates» Risiko, das keinen besonderen sozialen Schutz verdiene.

Gleichwohl waren sich die meisten Parteien und Verbände nach der Abstimmungsniederlage im Jahr 1999 einig, dass möglichst rasch eine Lösung für den nach wie vor nicht eingelösten Verfassungsauftrag gefunden werden müsse. Innert Kürze lagen diverse Vorschläge auf. Da auch die «Wirtschaft» die Vorteile einer Mutterschaftsentschädigung sah, war bald ein Kompromissvorschlag ausgearbeitet.

Im Herbst 2004 sagten schliesslich 56 Prozent der Stimmbevölkerung Ja zu dieser neuen Vorlage. Seit Mitte 2005 haben erwerbstätige Mütter Anspruch auf einen Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen nach der Geburt. Während dieser Zeit wird eine über die EO finanzierte Mutterschaftsentschädigung von 80 Prozent des vorgeburtlichen Erwerbseinkommens, höchstens aber 220 Franken pro Tag, ausbezahlt (Stand 2023).

 

Hohe Zustimmung für Vaterschaftsurlaub

Bis auch Väter einen Anspruch auf einen bezahlten Urlaub hatten, vergingen weitere 16 Jahre. Ein indirekter Gegenvorschlag des Parlaments erhielt im September 2020 schliesslich über 60 Prozent Ja-Stimmen an der Urne. Seit Anfang 2021 haben erwerbstätige Väter – und seit Juli 2022 auch die Ehefrau der Mutter – in den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes Anspruch auf einen Vaterschaftsurlaub von maximal zwei Wochen, den sie am Stück oder tageweise beziehen können. Während des Urlaubs wird über die EO eine Vaterschaftsentschädigung ausbezahlt.

Seit Juli 2021 haben zudem Eltern von gesundheitlich schwer beeinträchtigten Kindern Anspruch auf einen Betreuungsurlaub von maximal 14 Wochen, den sie innerhalb von 18 Monaten am Stück oder tageweise beziehen können. Die Eltern können den Urlaub frei unter sich aufteilen und haben Anspruch auf eine Betreuungsentschädigung.

Die jüngste Anpassung der Erwerbsersatzordnung ist erst seit Anfang 2023 in Kraft: Adoptiveltern, die ein Kind unter vier Jahren zur Adoption aufnehmen, haben einen Anspruch auf zwei Wochen bezahlten Adoptionsurlaub, den sie innerhalb eines Jahres am Stück oder tageweise beziehen können. Die Eltern können den Urlaub frei unter sich aufteilen. Während des Urlaubs wird über die EO eine Adoptionsentschädigung ausgerichtet.

 

Über Lohnbeiträge finanziert

In den ersten sieben Jahren nach Einführung der Erwerbsersatzordnung waren wegen des Fondsvermögens aus dem Zweiten Weltkrieg noch keine Beiträge der Erwerbstätigen notwendig. Seit 1960 wird die EO mit Beiträgen auf dem Erwerbseinkommen und zu einem kleinen Teil mit Kapitalerträgen finanziert; Bund und Kantone steuern keine Beiträge bei.

Die EO ist obligatorisch und beruht auf dem Solidaritätsprinzip. Sprich: Erwerbstätige und Nichterwerbstätige sind beitragspflichtig, unabhängig davon, ob sie jemals Leistungen der EO beziehen werden. Bei unselbstständiger Erwerbstätigkeit werden die EO-Beiträge je hälftig von der versicherten Person und vom Arbeitgeber bezahlt. Selbstständige und Nichterwerbstätige kommen alleine für ihre EO-Beiträge auf.

Alle Einnahmen und Leistungen werden dem Ausgleichsfonds der EO gutgeschrieben oder belastet. Der Bestand an flüssigen Mitteln und der Anlagen dieses Fonds darf dabei in der Regel nicht unter 50 Prozent einer Jahresausgabe sinken (Art. 28 EOG). Ausserdem dürfen die Beiträge vom Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit 0,5 Prozent nicht übersteigen (Art. 27 EOG). Der EO-Beitragssatz wurde seit 1953 mehrfach angepasst (siehe Grafik 1).

 

Weil der Armeebestand nach dem Ende des Kalten Krieges stark zurückging, wurde der EO-Beitragssatz im Jahr 1995 auf 0,3 Lohnprozente gesenkt. Im Zuge der Einführung der Mutterschaftsentschädigung zehn Jahre später schrumpften die Reserven der EO stark. Um die Liquidität sicherzustellen und die Reserven wieder aufzubauen, wurde der EO-Beitragssatz auf Anfang 2011 auf 0,5 Lohnprozente erhöht. Nach einer vorübergehenden Absenkung auf 0,45 Prozent im Jahr 2016 beträgt der EO-Beitragssatz – wegen der Einführung des Vaterschaftsurlaubs und des Betreuungsurlaubs – heute wieder 0,5 Prozent.

 

Mutterschaft ist grösster Budgetposten

Im Jahr 1953 gab die EO 42 Millionen Franken pro Jahr aus – das entspricht 0,15 Prozent des damaligen BIP. Im Jahr 2021 waren es rund 2 Milliarden Franken (0,25 Prozent des BIP). Im Vergleich zur AHV, der Beruflichen Versorge oder der Krankenversicherung setzt die EO deutlich weniger Geld um: Die EO-Ausgaben machten 2021 weniger als 1 Prozent aller Sozialversicherungsausgaben der Schweiz aus.

Innerhalb der EO stellt die Mutterschaftsentschädigung mit einem Anteil von 51 Prozent den grössten Ausgabenposten dar, gefolgt von den Dienstleistenden (siehe Grafik 2 und Tabelle).

 

Die Vaterschaftsentschädigung hatte 2021 einen Anteil von 8 Prozent an den EO-Leistungen. Mit durchschnittlich 169 Franken pro Tag lag der Tagesansatz von Vätern deutlich über demjenigen der Mütter (siehe Tabelle). Die Ursache dafür findet sich hauptsächlich in höheren Pensen und höheren Löhnen.

Die Anfang Juli 2021 eingeführte Betreuungsentschädigung hat für Leistungen bisher 3,8 Millionen Franken ausbezahlt (provisorische Zahlen). Zur Adoptionsentschädigung liegen noch keine Zahlen vor, da diese erst im Januar 2023 in Kraft getreten ist.

Rechtsanwältin MLaw, Leistungen AHV/EO/EL, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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