Agiles Arbeiten und Angststörungen – Herausforderungen für die IV

Statt auf starre Hierarchien setzen Unternehmen auch auf agile Teams. Was bedeutet das für die Eingliederungstätigkeit der IV?
Fernanda Benz
  |  03. Dezember 2024
    Forschung und Statistik
  • Eingliederung
  • Invalidenversicherung
In agilen Teams übernehmen Mitarbeitende viel Eigenverantwortung. (Alamy)

Auf einen Blick

  • Unternehmen setzen vor allem in eher urbanen Regionen vermehrt auch auf agile Teams, in denen Mitarbeitenden viel Entscheidungskompetenz eingeräumt wird.
  • Gleichzeitig fühlen sich zunehmend mehr Personen in der Schweiz psychisch belastet, wobei Angststörungen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen zählen.
  • Damit die IV Menschen mit Angststörungen in agilen Unternehmungen unterstützen kann, ist eine verbindlich festgelegte Ansprechperson im Unternehmen nötig.

Die psychische Gesundheitsbelastung hat in den vergangenen Jahren in allen Alterskategorien in der Schweiz zugenommen, wie eine Befragung des Bundesamts für Statistik zeigt (BFS 2023): Im Jahr 2022 fühlten sich 18 Prozent der Bevölkerung durch psychische Probleme beeinträchtigt. Am häufigsten werden Angststörungen genannt. Eine weitere Umfrage bei arbeitsunfähigen Personen hat ergeben, dass über die Hälfte der Befragten an Angststörungen leidet (Peter et al. 2023).

Angststörungen stellen eine hohe psychosoziale Belastung für die Betroffenen dar und gehen mit einem krankheitsspezifischen Sicherheits- und Vermeidungsverhalten einher, das den räumlichen, sozialen und gedanklichen Aktionsradius der Betroffenen stark einschränkt (Plag et al. 2024). Beispiele sind Panikattacken, die sich wie Herzinfarkte anfühlen können, oder die generalisierte Angststörung, die sich in einer über Monate andauernden Angst mit Schwindelgefühlen, feuchten Händen, Herzklopfen, Klingelgeräuschen im Ohr oder unerklärlichem Zittern äussert (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 2024).

Grundsätzlich können Angststörungen behandelt werden; insbesondere ein frühzeitiger Therapiebeginn kann dazu beitragen, das Chronifizierungsrisiko zu reduzieren und das Auftreten von Folgeerkrankungen zu verhindern (Behrens-Wittenberg und Wedegärtner 2023). Dies bedingt ein ausreichendes Angebot an Therapierenden. Oft treten Angststörungen kombiniert mit somatischen oder anderen psychischen Erkrankungen auf (Plag et al. 2024), was sich in der Eingliederungstätigkeit der Invalidenversicherung (IV) zeigt.

Berufliche Eingliederung der IV

Die IV hat die Aufgabe, die Erwerbsfähigkeit von Personen, die von Invalidität bedroht oder betroffen sind, mit geeigneten Eingliederungsmassnahmen (wieder)herzustellen. Nur wenn dies nicht oder nur teilweise möglich ist, wird eine Rente geprüft. Bedingung für die Unterstützung durch die IV ist, dass die gesundheitliche Beeinträchtigung die Erwerbsfähigkeit einschränkt: Kann eine Person mit Angststörungen uneingeschränkt ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen, ist die IV nicht zuständig.

Schränkt die Angststörung aufgrund ihrer Schwere oder einer Kombination mit einer anderen Erkrankung die Erwerbsfähigkeit ein, kann eine Eingliederungsfachperson der kantonalen IV-Stelle die betroffene Person begleiten, die involvierten Akteure koordinieren und passende Massnahmen treffen. Welche Massnahme für Menschen mit Angststörungen geeignet sind, hängt von den individuellen Ressourcen, Möglichkeiten und Einschränkungen der Person ab.

Es steht jedoch eine breite Palette an Massnahmen zur Verfügung (BSV 2024): Mit Frühinterventionsmassnahmen wird die bestehende Anstellung erhalten, mit Integrationsmassnahmen ein schrittweiser Aufbau der Arbeitsfähigkeit verfolgt. Mit Berufsberatung, einer Ausbildung, der Unterstützung bei der Stellensuche oder einem Arbeitsversuch wird eine berufliche (Wieder-) Eingliederung in den regulären Arbeitsmarkt angestrebt. Die Eingliederungstätigkeit der IV gewinnt seit Jahren an Bedeutung.

Agile Unternehmen in der Schweiz

Eine Herausforderung in der Eingliederungstätigkeit der IV können – nebst Vorbehalten von Mitarbeitenden und Vorgesetzten gegenüber psychischen Erkrankungen (Buess und Vogel 2022) – sogenannte agile Betriebe sein. Bereits 2019 setzten sich mehr als 40 Prozent von rund 1200 befragten Schweizer Unternehmen mit agilem Arbeiten auseinander (Peter et al. 2020). Mittlerweile arbeiten Abteilungen verschiedenster Unternehmen agil, darunter die Schweizerische Post, die Mobiliar, der Outdoor-Ausrüster Transa oder Spitex-Organisationen.

Es gibt weder in der Literatur noch in der Praxis eine einheitliche Definition von agilem Arbeiten, ein gemeinsamer Nenner besteht jedoch im Prinzip der Selbstorganisation: Fachliche Entscheide werden direkt von Mitarbeitenden gefällt, um die Reaktions-, Anpassungs- und Innovationsfähigkeit zu steigern (Porschen-Hueck et al. 2020). Dafür sind Selbstorganisationsreife, Kommunikations-, Kritik- oder Teamfähigkeit nötig – was hohe Anforderungen an Mitarbeitende stellt. Gleichzeitig bietet agiles Arbeiten mit Flexibilität, Autonomie, Anerkennung oder Selbstwirksamkeit positive Aspekte von Erwerbstätigkeit.

In Interviews mit agilen Arbeitgebenden – die jedoch nicht in den oben genannten Organisationen tätig sind – zeigt sich, dass in der Realität nicht nur verschiedene agile Organisationsformen umgesetzt sind, sondern auch innerhalb der gleichen agilen Organisationsform unterschiedliche Stufen einer Enthierarchisierung anzutreffen sind (Benz 2024): Während die agilen Teams in einigen Unternehmen nach wie vor über eine Teamleitung mit personellen Führungsaufgaben verfügen, sind sie in anderen Unternehmen ohne Zwischenhierarchien direkt der Geschäftsleitung unterstellt. Die Umsetzungsvielfalt sowie das Fehlen von Teamleitungen sind für die Eingliederungsarbeit der IV-Stellen von entscheidender Bedeutung.

Eine Ansprechperson mit den nötigen Kompetenzen

Fachpersonen von IV-Stellen betonen wiederum, dass Vorgesetzte eine zentrale Rolle bei der beruflichen Eingliederung von Menschen mit Angststörungen spielen, da sie durch die eindeutige personelle Zuständigkeit für Stabilität sorgen und Anerkennung und Wertschätzung ermöglichen können (Benz 2024). Diese Aspekte sind für Personen mit Angststörungen aufgrund des Vermeidungsverhaltens, der Angst vor Fehlern oder der Schwierigkeiten bei der Abgrenzung sehr wichtig.

Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Eingliederung einer Person mit Angststörungen in einen agilen Betrieb ohne Teamleitung ist deshalb die Bereitstellung einer Ansprechperson durch den Betrieb. Diese Ansprechperson muss zudem die agilen Arbeitsanforderungen und Arbeitsressourcen steuern können, zum Beispiel, indem sie die Aufgaben zuteilt, damit die betroffene Person Selbstorganisation und Abgrenzung zu Beginn trainieren und aufbauen kann (siehe Abbildung).

Agiles Arbeiten: Herausforderungen, Ressourcen und die Rolle der IV

Herausforderungen für die IV

Für eine erfolgreiche berufliche Eingliederung sind folglich die Arbeitsanforderungen zu kontrollieren und die Arbeitsressourcen zu fördern. Diese Steuerung muss durch die festgelegte Ansprechperson im Betrieb erfolgen. Die IV kann die betroffenen Personen bei Bedarf mit Beratung, Coaching oder Kursen unterstützen oder mittels Arbeitsversuch Ängste und Vorbehalte aufseiten der Arbeitgebenden und der versicherten Person reduzieren.

Unabhängig von agilen Arbeitswelten ist bei Angststörungen wichtig, dass die Therapierenden die betroffene Person in ihren Eingliederungsbemühungen bestärken. Auch hier ist die IV auf deren Mitarbeit angewiesen. Eine berufliche Eingliederung kann die psychische Genesung fördern, da sie eine Tagesstruktur, das Erlernen von Bewältigungsstrategien sowie Selbstwirksamkeit und Anerkennung ermöglicht (Drake und Wallach 2020).

Gemäss Expertinnen und Experten besteht rund um agiles Arbeiten – wenn auch vermutlich eher in urbanen Regionen – ein gewisser Hype. Dieser kann mit einer unstrukturierten Umsetzung agilen Arbeitens einhergehen, die unter Umständen der Gesundheit von Mitarbeitenden abträglich ist. Dies zu korrigieren, ist nicht Aufgabe der IV-Stelle, auch wenn es sich auf die berufliche Eingliederung bzw. deren Gelingen auswirkt.

Literaturverzeichnis

Behrens-Wittenberg, E.; Wedegaertner, F. (2023). Effectiveness of a Return to Work Intervention After Occupational Disability Retirement Due to Depression and Anxiety. Psychology, Health & Medicine, 28, 5, 1387–1398.

Benz, F. (2024). Agilität, Angststörungen und die Eingliederungstätigkeit der Invalidenversicherung (MAS-Thesis). Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW).

BFS (2023). Schweizerische Gesundheitsbefragung 2022 – Übersicht.

BSV (2024). Zahl der beruflichen Eingliederungen durch die IV nimmt weiter zu.

Buess, M.; Vogel, R. (2022). Arbeitgeberbefragung zur Wahrnehmung der IV und ihrer Instrumente. Beiträge zur Sozialen Sicherheit, Forschungsbericht Nr. 3/22.

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (2024). Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme 10. Revision German Modification Version 2025 (ICD-10-GM Version 2025).

Drake, E.R.; Wallach, A.M. (2020). Employment Is a Critical Mental Health Intervention. Epidemiology and Psychiatric Sciences 29, e178, 1–3.

Peter, C., Tuch, A.; Schuler, D. (2023). Psychische Gesundheit – Erhebung Herbst 2022. Wie geht es der Bevölkerung in der Schweiz? Sucht sie sich bei psychischen Problemen Hilfe? Obsan Bericht 03/2023.

Peter, M.K. (Hrsg.) (2020). Arbeitswelt 4.0. Als KMU die Arbeitswelt der Zukunft gestalten. Forschungsresultate und Praxisleitfaden. Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW).

Plag, J.; Ströhle, A.; Hoyer, J. (2023). Praxishandbuch Angststörungen. Ursachen, Diagnostik, Behandlung, Prävention.

Porschen-Hueck, S.; Jungtäubl, M.; Weihrich, M. (2020). Agilität? Herausforderungen neuer Konzepte der Selbstorganisation.

Schaufeli, W.B. (2017). Applying the Job Demands-Resources Model:A «How to» Guide to Measuring and Tackling Work Engagement and Burnout. Organizational Dynamics 46: 120–132.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Invalidenversicherung, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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