Herr Christen, das Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) ist schon seit bald 30 Jahren in Kraft. Hat es sich bewährt?
Ja. Das KVG ist aus dem System der sozialen Sicherheit in der Schweiz nicht mehr wegzudenken. Der Solidaritätsgedanke, der am Anfang stand, ist auch heute noch zentral. Sprich: Wer krank wird, soll deswegen nicht auch noch arm werden, und wer arm ist, soll deswegen nicht krank werden oder krank bleiben. Es ist daher wichtig, dass wir dieser Versicherung Sorge tragen.
Was wäre passiert, wenn wir das KVG nicht eingeführt hätten?
Ich wurde vor Kurzem von einer Journalistin gefragt, ob eine Patientin mit einer schweren Erbkrankheit das Glück eines neuen hochwirksamen, aber eben auch sehr teuren Medikaments angesichts der Kosten für die Allgemeinheit geniessen dürfe.
Was war Ihre Antwort?
Die Patientin kann das Medikament selbstverständlich mit gutem Gewissen nehmen. Aber eigentlich ist die Frage nach dem Glück falsch gestellt, denn am Anfang stand ja ein grosses Unglück – das Unglück, eine Erbkrankheit zu haben. Ohne obligatorische Krankenversicherung würde diese Frau mit ihrem Unglück alleingelassen.
Was hätte man rückblickend anders machen sollen bei der Einführung des KVG?
Ich finde, das Krankenversicherungsgesetz altert gut. Es bildet ein solides Fundament. Aber es ist klar, dass es in 30 Jahren Bestehen auch regelmässige Überarbeitungen braucht. In den letzten Jahren wurden daher auch wichtige Reformen zur Qualität, zur Zulassungsregelung, zu Kostenzielen, zur Prämienverbilligung oder zur einheitlichen Finanzierung der Leistungen verabschiedet.
Die Vorlage zur einheitlichen Finanzierung der Leistungen ist im November 2024 an der Urne angenommen worden. Ist das ein Beweis, dass grosse Reformen möglich sind im KVG?
Ja. Die einheitliche Finanzierung ist die erste Reform des Krankenversicherungsgesetzes überhaupt, die von der Bevölkerung angenommen wurde. Bei anderen Reformen gab es entweder keine Volksabstimmung, da kein Referendum ergriffen worden war, oder die Bevölkerung sprach sich dagegen aus.
Was lief bei der einheitlichen Finanzierung besser als bei gescheiterten Reformen?
Es handelt sich um einen sorgfältig erarbeiteten Kompromiss. Und darum war auch die Unterstützung in der Abstimmung von Bund und Kantonen über die Leistungserbringer bis zu den Versicherern sehr breit.
Was verbessert sich nun?
Erstens soll die Zahl der ambulanten Behandlungen steigen. Diese sind günstiger und meist auch im Interesse der Patientinnen und Patienten. Zweitens führt die Reform zu einer gerechteren Verteilung der Kosten zwischen den Prämienzahlenden und den Kantonen – wovon die Prämienzahlenden profitieren werden. Und drittens wird die Transparenz erhöht: Bisher waren die jährlichen Kosten der Leistungen der Krankenversicherung nur Insidern bekannt. Diese Transparenz – über 50 Milliarden Franken pro Jahr, die Kantone finanzieren etwa ein Viertel, die Prämienzahlenden rund drei Viertel – ist zentral für die künftige Diskussion rund um die Kosten und deren Finanzierung.
Werden die Prämien in Zukunft weiter ansteigen?
Die einheitliche Finanzierung bremst den Anstieg. Aber die Prämien steigen auch in Zukunft. Wir werden älter, es gibt neue Medikamente und Behandlungen, die oft teurer sind.
«Die Prämien steigen auch in Zukunft»
Ab 2032 werden auch Pflegeleistungen mehrheitlich über Prämien finanziert. Führt dies zu einem zusätzlichen Anstieg der Prämien?
Im Pflegebereich werden die Kosten tatsächlich zunehmen. Der Pflegebereich entspricht aber nur etwa einem Viertel der Kosten im ambulanten Bereich. Da sich die Kantone neu an den ambulanten Kosten beteiligen, werden die Prämienzahlenden daher unter dem Strich entlastet.
Prioswiss-Präsident Felix Gutzwiller kritisiert, dass Spitäler oft mit kantonalen Geldern erhalten werden, und spricht von «Föderalismusversagen». Teilen Sie seine Einschätzung?
Der Begriff geht mir zu weit. Das tönt für mich nach «Die Kantone können das nicht, und deshalb muss der Bund übernehmen». Das glaube ich aber nicht. Ich denke vielmehr, dass es eine stärkere Zusammenarbeit der Kantone bei der Spitalplanung braucht – ähnlich wie bei der hoch spezialisierten Medizin, wo die Kantone bereits erfolgreich zusammen planen. Aber letztlich geht es bei der Spitalplanung gar nicht um die Frage, ob es zu viele Spitäler in der Schweiz hat.
Sondern?
Die Frage muss lauten: Welche Leistungen sollen wo angeboten werden? Bei dringlichen oder häufigen Eingriffen spielt die Nähe eine zentrale Rolle. Dafür kann man bei spezialisierten Eingriffen auch einen etwas längeren Weg in Kauf nehmen. Und zur Beantwortung dieser Frage braucht es tatsächlich eine stärkere Absprache der Kantone.
«Die Frage muss lauten: Welche Leistungen sollen wo angeboten werden?»
Welche Rolle kann hier der Bund spielen?
Bei der hoch spezialisierten Medizin planen die Kantone ohne Bund – und es funktioniert gut. Die Kantone sind näher an den Spitälern und an den Patientinnen und Patienten. Eine stärkere Zusammenarbeit der Kantone ist deshalb der sinnvollere Ansatz. Allerdings muss diese wirklich noch besser werden.
Nächstes Jahr werden das neue Tarifsystem Tardoc sowie ambulante Pauschalen eingeführt. Was verbessert sich?
Tardoc bildet die medizinische Aktualität besser ab als das derzeitige Tarifsystem Tarmed, das seit mehr als 20 Jahren in Kraft ist und nie revidiert wurde. Tardoc und die ambulanten Pauschalen stärken zudem die Grundversorgung: Die sogenannte sprechende Medizin – also Patientengespräche – soll im Vergleich zur technischen Medizin aufgewertet werden.
Noch bevor es eingeführt wird, stösst das neue Tarifsystem bei den Chirurginnen und Chirurgen auf Widerstand. Deren Verband warnt vor einer Zweiklassenmedizin.
Solche Kritik gilt es ernst zu nehmen. Zuerst muss das neue Tarifsystem jetzt eingeführt werden. Dann dürfen aber nicht mehr 20 Jahre vergehen, bis die neue ambulante Tarifstruktur wieder überarbeitet wird. Sie soll vielmehr regelmässig verbessert und an die Aktualität angepasst werden, wie dies bereits im stationären Spitalbereich der Fall ist. Dort hat der Bundesrat eben die 14. Version der sogenannten Swiss-DRG-Tarifstruktur genehmigt, und die Tarifpartner arbeiten bereits an der nächsten Überarbeitung.
Was läuft in Bezug auf die Tarife im stationären Bereich besser als im ambulanten Bereich?
Es gibt dort seit Jahren eine funktionierende Tariforganisation, welche sich regelmässig der Tarifüberarbeitung annimmt. Im ambulanten Bereich gab es eine solche bis jetzt nicht. Das hat sich nun aber geändert. Und das stimmt mich für die zukünftigen Überarbeitungen optimistisch.
Inwiefern bringt der neue Krankenkassenverband Prioswiss bei Tarifverhandlungen eine Erleichterung?
Jetzt gibt es einen Ansprechpartner für alle Akteure. Der neue Verband kommt zur richtigen Zeit, denn es gibt viele Herausforderungen – unter anderem neue Arzttarife sowie neue Tarife zum Beispiel in der Psychotherapie, in der Physiotherapie oder bei den Apotheken. Hinzu kommen neue Aufgaben bei der Qualitätssicherung und der Kostensteuerung.
Was ist die Rolle des Bundes bei diesen Verhandlungen – beispielsweise in der Psychotherapie?
In der Krankenversicherung gilt das Primat der Tarifpartnerschaft. Das heisst, Versicherer und Leistungserbringer müssen sich zusammensetzen und einen Tarif aushandeln. Wir prüfen dann dessen Eckwerte. Beispielsweise: Ist der neue Tarif gesetzeskonform, ist er kostenneutral? Eine Lösung zu finden, ist aber die Aufgabe der Tarifpartner.
Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss bemängelte vor zehn Jahren in der CHSS, es fehle in der Krankenversicherung an Anreizen, die Kosten zu dämpfen. Hat sich diesbezüglich etwas verbessert?
Ja, in den letzten Jahren hat sich einiges getan. Verschiedene der bereits erwähnten Reformen haben zum Ziel, das Kostenwachstum zu bremsen. Allen voran natürlich die Kostenziele: Die Akteure des Gesundheitswesens müssen nun aufzeigen, welcher Anteil einer Kostensteigerung medizinisch nicht gerechtfertigt ist.
Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Der Bundesrat legt nach Anhörung der Akteure fest, wie gross das Kostenwachstum im Spitalbereich, im ambulanten Praxisbereich oder im Medikamentenbereich sein darf. Wenn es zu einem stärkeren Anstieg kommt, müssen die Leistungserbringer erklären, warum. Sanktionen hat der Gesetzgeber aber keine geplant.
Warum nicht?
Im Fokus steht die Transparenz. Die Leistungserbringer müssen eine allfällige Überschreitung stichhaltig begründen können.
Ein Kostenpunkt sind hohe Medikamentenpreise: Sitzt das BAG bei den Preisverhandlungen mit weltweit tätigen Pharmakonzernen nicht am kürzeren Hebel?
Die Pharmaindustrie ist von grosser Bedeutung in der Schweiz. In den letzten Jahren kam es jedoch zu einem überdurchschnittlichen Kostenanstieg im Medikamentenbereich. Die gesetzlichen Leitplanken müssen deshalb immer wieder angepasst werden: Derzeit diskutiert das Parlament beispielsweise über die Einführung von Mengenrabatten für umsatzstarke Medikamente. Das Einsparpotenzial liegt bei 300 bis 400 Millionen Franken pro Jahr.
Für Kritik sorgen die vertraulichen Preismodelle – also die Rabatte, die das BAG und die Pharmaunternehmen unter Ausschluss der Öffentlichkeit aushandeln. Was sagen Sie dazu?
International besteht hier Handlungsbedarf: Es gibt eine Globalisierung der Wirtschaft, aber keine Globalisierung der Politik. Das heisst, auf der einen Seite wissen die Pharmaunternehmen genau, wann, wo und wie sie ihre Medikamente zum besten Preis auf den Markt bringen. Und auf der anderen Seite versucht jedes Land einzeln in vertraulichen Verhandlungen den besten Preis herauszuholen. Wenn alle anderen das machen, muss die Schweiz hier auch mitziehen. Aber es braucht tatsächlich eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Staaten und mehr Transparenz.
Welche internationale Organisation könnte hier den Lead übernehmen?
Eine erste Initiative gemacht hat bereits die Weltgesundheitsorganisation. Dort haben sich die Staaten zusammengetan und haben auch erklärt, dass sie mehr Transparenz wollen bei den Medikamentenpreisen.
Eine der grössten Sorgen der Bevölkerung in Meinungsfragen sind die steigenden Krankenkassenprämien. Was tut das BAG?
Wir müssen in erster Linie bei den Kosten ansetzen: Wenn die Kosten steigen, dann steigen auch die Prämien. In den letzten Jahren konnten wir die Kosten bei den Medikamenten, den Labors und der Ärzteschaft senken. Aber selbstverständlich braucht es zusätzliche Massnahmen – das ist eine Daueraufgabe. Aus diesem Grund hat Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider dazu einen runden Tisch mit Akteuren des Gesundheitswesens einberufen.
Für viele Bevölkerungsschichten sind die Prämien jedoch kaum mehr zu bezahlen. Ist die Krankenversicherung wirklich noch solidarisch?
Für viele Familien ist die Prämienbelastung in der Tat enorm. Ein wichtiges Korrektiv zu den Kopfprämien sind deshalb die Prämienverbilligungen. Ich bin froh, dass die Bevölkerung im vergangenen Sommer den Gegenvorschlag zur Prämienentlastungsinitiative angenommen hat. Künftig werden so knapp 400 Millionen Franken pro Jahr mehr für die Prämienverbilligung zur Verfügung stehen. Zudem muss jeder Kanton festlegen, wie viel die Prämien höchstens vom Einkommen ausmachen dürfen.
«Für viele Familien ist die Prämienbelastung in der Tat enorm»
Inwiefern ist jeder Einzelne gefordert? Ich zum Beispiel bin seit Geburt bei derselben Krankenkasse.
Als Einzelperson haben Sie verschiedene Möglichkeiten, um Prämien zu sparen. Eine Möglichkeit ist, die Krankenversicherung zu wechseln. Noch wichtiger ist, dass man ein Modell wählt, das auf einen zugeschnitten ist, beispielsweise ein Hausarztmodell oder ein koordiniertes Versorgungsmodell. Gerade viele ältere und kränkere Personen könnten von einem Modellwechsel profitieren. Zudem braucht es auch eine gewisse Eigenverantwortung: Man sollte nur dann zur Ärztin oder zum Arzt gehen, wenn es wirklich notwendig ist.
Die Medizin bietet immer bessere Behandlungsmöglichkeiten. Bricht das System irgendwann zusammen, weil wir dies gar nicht mehr finanzieren können?
Es ist wichtig, dass alle Versicherten von wirksamen Medikamenten und Behandlungen profitieren können. Die medizinischen Leistungen der Grundversicherungen stehen allen Versicherten gleichermassen offen. Das ist eine der grössten Errungenschaften des Krankenversicherungsgesetzes – und das muss auch in Zukunft so bleiben. Damit die Krankenversicherung finanzierbar bleibt, braucht es aber verstärkte Bemühungen auf der Kostenseite. Gleichzeitig muss genügend Geld für die Prämienverbilligung zur Verfügung stehen, damit die Krankenversicherung für Personen mit tieferen und mittleren Einkommen weiterhin bezahlbar ist.
Kommen wir nicht irgendwann an den Punkt, an dem wir sagen müssen: Diese teure Behandlung können wir nicht mehr in den Leistungskatalog aufnehmen?
Nein, ich finde, es darf nicht so weit kommen, dass wirksame innovative Leistungen den Versicherten verwehrt bleiben.
Thomas Christen

Der 50-jährige Thomas Christen ist stellvertretender Direktor des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Seit 2017 leitet der Jurist den Bereich Kranken- und Unfallversicherung. Zuvor war er persönlicher Mitarbeiter von Alt-Bundesrat Alain Berset.