Ein neues Familienmodell als Standard für Politik und Gesellschaft

In einem egalitären Betreuungsmodell teilen sich Eltern Care- und Erwerbsarbeit auf. Das Verankern dieses Standards auf allen Staatsebenen trägt dazu bei, schweizweit familienpolitische Ziele zu erreichen.
Pierre Lüssi, Meret Lütolf
  |  30. Januar 2024
    Forschung und Statistik
  • Familie
Das egalitäre Betreuungsmodell ermöglicht es Vätern, gleichberechtigt Betreuungs- und Haushaltsarbeiten zu übernehmen (Keystone).

Auf einen Blick

  • Familie ist in der Schweiz Privatsache und birgt ein erhöhtes Armutsrisiko.
  • Eine aktive Familienpolitik unter Berücksichtigung individueller Bedürfnisse ist notwendig.
  • Ein egalitäres Betreuungsmodell ist eine Koordinationsgrundlage, um familienpolitische Ziele zu erreichen.

Für das Wohlergehen einer Familie ist in der Schweiz in erster Linie die Familie selbst und nicht der Staat zuständig. Familienthemen gelten im gesellschaftlichen Diskurs und in der rechtlichen Ausgestaltung weitgehend als private Angelegenheit. Der Staat unterstützt lediglich dort, wo eine Familie an ihre Grenze kommt (Valarino 2020). Familienpolitische Massnahmen werden entsprechend auf die sozialen Risiken der Familien ausgerichtet und versuchen, diese auszugleichen. Diese Aufgabe übernehmen Bund, Kantone und Gemeinden gemeinsam.

Im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien oder Norwegen ist Familienpolitik in der Schweiz kein eigenes Politikfeld, sondern wird in anderen Politikfeldern wie etwa der Arbeitsmarktpolitik, der Sozialpolitik oder der Gleichstellungspolitik mitberücksichtigt (Lütolf und Lüssi 2023).

Diese subsidiäre Ausgestaltung der Familienpolitik hat konkrete Folgen für die Familien: Familienpolitik ist in der Schweiz immer eine Reaktion auf sich ändernde Bedürfnisse von Familien. Familienpolitische Massnahmen – beispielsweise die 1945 beschlossene und 2005 eingeführte Mutterschaftsentschädigung – sind die hinterherhinkende Reaktion auf eine sich bereits veränderte Realität der Familien in der Schweiz.

Eine Anpassung der Leistungen an die modernen Lebensrealitäten wird dabei zunehmend komplex: die Arbeitsteilung in der Familie verändert sich. Gleichzeitig ist eine Diversifizierung von Haushaltsformen wie Patchwork-, Fortsetzungs- oder Ein-Eltern-Familien festzustellen. Einheitliche Lösungen für alle Familien scheinen vor diesem Hintergrund unmöglich. Daher ist es auch nicht überraschend, dass die Familie in der Schweiz heute ein soziales und ökonomisches Risiko darstellt, insbesondere für alleinerziehende Eltern und für Familien mit drei oder mehr Kindern (BFS 2021: 52).

Ein neues Referenzmodell

Obwohl die Ausgangslage in der ganzen Schweiz dieselbe ist, sind aufgrund des Föderalismus in den Kantonen und Gemeinden unterschiedliche Niveaus an familienpolitischen Leistungen festzustellen. Diese Unterschiede reichen vom kantonalen Steuersystem bis zum lokalen Angebot von Kinderbetreuungsplätzen und deren Kostenausgestaltung. Es stellt sich also die Frage: Wie können Familien in der gesamten Schweiz trotz gewollter kantonaler Unterschiede und Kompetenzen in ihren Bedürfnissen unterstützt werden?

Eine Orientierungshilfe bietet ein aktualisiertes Familienreferenzmodell – also eine Anpassung der Vorstellung von Familie an die heutige Lebensrealität. Ein Familienmodell beschreibt im Zentrum, wie die Erwerbs- und Care-Arbeit zwischen Eltern aufgeteilt wird. Mit einem neuen Referenzmodell lassen sich verschiedene familienpolitische Massnahmen verschiedener politischer Ebenen aufeinander abstimmen. Dies gilt für unterschiedliche Massnahmen, beispielsweise aus der Gleichstellungs- und Arbeitsmarktpolitik. Diese Abstimmungen sollen ermöglichen, dass sich unterschiedliche Massnahmen von unterschiedlichen politischen Einheiten gegenseitig fördern und nicht entgegengesetzte Wirkungen aufweisen (Lütolf und Lüssi 2023).

Es ist dabei nicht das Ziel, dass alle Familien dieses neue Modell wählen. Vielmehr gilt anzustreben, dass ein nationales Referenzmodell nicht nur die Harmonisierung von Massnahmen ermöglicht, sondern bei den Familien die Wahlfreiheit besteht, «ihr» Modell zu wählen. Die Schweizer Familienpolitik braucht daher ein Referenzmodell, welches alle Familienmodelle unterstützen kann. Dazu müssen insbesondere egalitäre Massnahmen im Vordergrund stehen.

Wahlmöglichkeit für Eltern

Familienpolitische Leistungen haben sich lange an einem Modell männlicher Erwerbstätigkeit und weiblicher Care-Arbeit orientiert. Dieses Modell ist aufgrund der sich dynamisch verändernden Familien- und Haushaltsmodelle nicht mehr zeitgemäss.

Um den heutigen Ansprüchen gerecht zu werden, braucht es ein egalitäres Betreuungsmodell als Standard. In einem solchen Referenzmodell nehmen Väter und Mütter bezüglich Erwerbs- und Care-Arbeit eine egalitäre Rolle ein: Beide Eltern leisten sowohl bezahlte wie auch unbezahlte Arbeit (Ciccia und Verloo 2012). Eine egalitäre Aufteilung von Arbeit und Familie wird dabei gefördert. Zur realpolitischen Umsetzung dieses einheitlichen und doch individuellen familienpolitischen Ansatzes, bilden insbesondere zwei familienpolitische Massnahmen eine grundlegende Voraussetzung: Elternzeit und familienergänzende Kinderbetreuung.

Elternzeit ermöglicht Start ins Familienleben

Damit eine egalitäre Arbeitsteilung möglich ist, müssen insbesondere Väter ihr Verhalten ändern können. Väter gehen heute öfter einer Erwerbstätigkeit nach als Mütter und beteiligen sich weniger an der Care-Arbeit. Im Sinne einer egalitären Aufteilung von Arbeit müssen die Väter ihre Erwerbsarbeit zugunsten von Care-Arbeit reduzieren oder reduzieren können (Rubery 2015).

Die Forschung zur Rollen- und Arbeitsverteilung zeigt, dass für Väter insbesondere im Kontext von bestehender Elternzeit eine Verhaltensänderung möglich ist. Als relevant erweist sich dazu die Ausgestaltung der Elternzeit für die Väter und nicht die Länge der Elternzeit für Mütter (Arnalds et al. 2022).

Entsprechend muss eine Elternzeitlösung für die Schweiz beiden Elternteilen gleich hohe Anteile zuweisen, welche nicht übertragen werden können. Elternzeit soll es möglich machen, eine Involvierung des Vaters im Alltag zu schaffen, welche sich nachhaltig auf die Aufteilung von Arbeit in der Familie auswirkt.

Familienergänzende Betreuung ist zentral

Damit Familien die individuell gewünschte Arbeitsteilung effektiv ausleben können, müssen sie zwischen verschiedenen Formen der Arbeitsteilung wählen können. Die familienergänzende Kinderbetreuung nimmt hierzu eine zentrale Rolle ein: Nötig ist zum einen ein ausreichendes Angebot an familienergänzenden Betreuungsplätzen, damit die Familie nicht auf private Lösungen (wie Grosseltern, Freunde und Bekannte) angewiesen ist. Und zum anderen müssen die Kosten der Kinderbetreuung für die Familien tragbar sein, um allen eine effektive Wahlmöglichkeit zu ermöglichen (Häusermann und Bürgisser 2022).

Ein gezielter Ausbau von familienergänzender Kinderbetreuung ist daher relevant. Zudem muss sie insbesondere für Familien mit tieferen und mittleren Einkommen subventioniert werden. Nach dem Start ins Familienleben sichert eine entsprechend ausgebaute Kinderbetreuungspolitik die Möglichkeit, Arbeit nach den Bedürfnissen der Familie aufzuteilen (Lütolf und Lüssi 2023).

Ein Modell für die Familienpolitik

Verschiedene politische Parteien, Familienorganisationen und staatliche Massnahmen haben sich dem Prinzip verschrieben, dass es Familien möglich sein soll, Arbeit und Erwerb so aufzuteilen, wie es ihren individuellen Bedürfnissen und Werten entspricht. Das egalitäre Betreuungsmodell als Referenzmodell für politische Massnahmen gewährt den Familien diesen Handlungsspielraum, ohne eine egalitäre Arbeitsteilung zu erzwingen. Hinzu kommt, dass dieses Referenzmodell eine Grundlage für das Familienrecht und die Koordination öffentlichen Handelns darstellt und damit eine aktive Familienpolitik ermöglicht.

So können Familien in der ganzen Schweiz in ihren individuellen Bedürfnissen unterstützt werden. Kurz: Die Förderung des egalitären Betreuungsmodells als Referenzmodell ermöglicht eine zukunftsgerichtete Familienpolitik für alle Familien in der Schweiz.

Literaturverzeichnis

Arnalds, Ásdís; Belope-Nguema, Sabina; Eydal, Guðný Björk;Fernández-Cornejo, José Andrés (2022). Constructing Fatherhood in the North and South: Paid Parental Leave, Work and Care in Iceland and Spain. Acta Sociologica 65(1), 86–102.

BFS (2021). Familien in der Schweiz. Statistischer Bericht 2021. Neuchâtel: Bundesamt für Statistik.

Ciccia, Rossella; Verloo, Mieke (2012). Parental Leave Regulations and the Persistence of the Male Breadwinner Model: Using Fuzzy-Set Ideal Type Analysis to Assess Gender Equality in an Enlarged Europe. Journal of European Social Policy 22(5), 507–28.

Häusermann, Silja; Bürgisser, Reto (2022). Familienpolitik. In: Papadopoulos, Yannis; Sciarini, Pascal; Vatter, Adrian; Häusermann, Silja; Emmenegger, Patrick; Fossati, Flavia (Hrsg.). Handbuch der Schweizer Politik. Basel: NZZ Libro. 931–954.

Lütolf, Meret; Lüssi, Pierre (2023). Egalitäre Vereinbarkeitspolitik — Das Modell der Zukunft. Zukunftsfähige institutionelle Kinderbetreuung und Elternzeit für die Schweiz. In: Eidgenössische Kommission für Familienfragen. (Hrsg.). Familien und Familienpolitik in der Schweiz – Herausforderungen im Jahr 2040. Sechs Diskussionsbeiträge. Bern: Bundespublikationen. 10–31.

Rubery, Jill (2015). Regulating for Gender Equality: A Policy Framework to Support the Universal Caregiver Vision. Social Politics 22(4), 513–538.

Valarino, Isabel (2020). Familienpolitik. In: Bonvin, Jean-Michel; Maeder, Pascal; Knöpfel, Carlo; Hugentobler, Valérie; Tecklenburg, Ueli (Hrsg.). Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich, Genf: Seismo. 162–165.

Dieser Text basiert auf dem Beitrag «Egalitäre Vereinbarkeitspolitik — Das Familienreferenzmodell der Zukunft», der am 5. Dezember in der EKFF-Sammelpublikation Familien und Familienpolitik in der Schweiz — Herausforderungen im Jahr 2040 erschienen ist.

Doktorand und Assistent am Institut für Politikwissenschaft (IPW), Universität Bern
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Doktorandin und Assistentin am Institut für Politikwissenschaft (IPW), Universität Bern
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