Familien im Wandel: Herausforderungen für alle föderalen Ebenen

Die Schweizerische Familienpolitik ist seit den 1990er-Jahren ein zunehmend bedeutungsvolleres Politikfeld, das mobilisiert und polarisiert. Auf Grund der grösser werdenden Verflechtungen drängt sich unter anderem eine Diskussion über die föderalistische Kompetenzordnung auf.
Astrid Wüthrich
  |  05. Dezember 2023
    MeinungRecht und Politik
  • Familie
Für die Familienpolitik sind in erster Linie Kantone und Gemeinden zuständig. Kita in Zürich. (Keystone)

Auf einen Blick

  • In der Familienpolitik widerspiegeln sich gesellschaftliche, aber auch volkswirtschaftliche oder arbeitsmarkt- und standortbezogene Trends.
  • Was die Interventionsmöglichkeiten zur Förderung und Unterstützung des Familienlebens betrifft, sind dem Bund verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt.
  • Angesichts der Herausforderungen in der Familienpolitik braucht es eine Debatte über die föderale Kompetenzordnung.

Familien galten bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als kleinste Einheit des Staates. Dies rechtfertigte etwa, dass Frauen kein Stimmrecht hatten oder das Bürgerrecht verloren, wenn sie einen ausländischen Staatsangehörigen heirateten. Was damals als unverrückbar und ewige Ordnung beschrieben wurde, hat sich mit dem gesellschaftlichen Wandel und unseren Vorstellungen von Familie sowie mit der Art und Weise, wie Familie gelebt wird, ab den 1990er-Jahren grundlegend verändert.

Neben der traditionellen Kernfamilie haben sich seit den 1980er-Jahren Patchwork- und andere Familienformen herausgebildet und die Zahl von Einelternhaushalten hat nicht zuletzt aufgrund der steigenden Scheidungsrate zugenommen. Politisch diskutierte Themen sind heute die wirtschaftliche und soziale Sicherheit von Familien, die Kinder- und Familienarmut sowie die Migration und die damit verbundenen Anforderungen an die Integration, insbesondere der Kinder.

Teil der politischen Debatte sind schliesslich auch Familienrechtsfragen wie zum Abstammungs-, Ehe- oder Erbrecht. Letztlich geht es dabei um die Bedeutung von «Familie» angesichts der sich diversifizierenden Lebenswelten und Realitäten und den damit verbundenen veränderten Familienkonstellationen. Getrieben ist die Debatte auch von bioethischen Fragen – etwa betreffend Samen- oder Eizellenspende sowie Leihmutterschaft (Bundesrat 2021; Expertinnen- und Experten-Gruppe 2021).

Mit Ausnahme der Familienrechtsfragen, die hauptsächlich durch Bundesrecht bestimmt sind, gilt in der Familienpolitik in erster Linie kantonales Recht. Ob und, wenn ja, wie die Kantone auf die damit verbundenen Herausforderungen reagieren, hängt von ihrer Finanzkraft, den politischen Kräfteverhältnissen und weiteren Faktoren ab. Dies zeigt sich beispielsweise bei den Familienzulagen, für die gesamtschweizerische Minimalansätze über das Familienzulagengesetz geregelt sind und die von den Kantonen in grosser Unterschiedlichkeit ausgebaut werden.

Auch ausserhalb der klassischen Sozialversicherungen – beispielsweise bei der Betreuung und Pflege von Kindern, von Menschen mit Behinderungen und von älteren Menschen, bei bedarfsabhängigen Sozialleistungen wie der Sozialhilfe oder den Ergänzungsleistungen für Familien, bei der Armutsbekämpfung oder bei Beratungs- und Förderangeboten für Bevölkerungsgruppen wie Zugewanderte – unterscheiden sich die Massnahmen von Kanton zu Kanton ebenfalls stark. Verschiedene Studien zeigen dies am Beispiel der Angebote zur familienergänzenden Kinderbetreuung, oder in Bezug auf Beratungs- und Begleitangebote für Familien sowie bei der Elternbildung (Stern und Ostrowski 2021; BSV 2021)

Subsidiäre Verfassungsgrundlage

Auf Bundesebene gehen die meisten familienpolitischen Massnahmen auf Artikel 116 der Bundesverfassung zurück, den das Stimmvolk 1945 angenommen hatte. Neben dem expliziten Auftrag, eine Mutterschaftsversicherung einzurichten und einer umfassenden Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Familienzulagen weist dieser dem Bund die Kompetenz zu, bestehende «Massnahmen zum Schutz der Familie» zu unterstützen (Häusermann und Bürgisser 2022: 932).

Ein weitergehender Verfassungsauftrag, um insbesondere im Bereich der familienergänzenden Kinderbetreuung eine aktivere Rolle zu erhalten, scheiterte 2013 in einer Volksabstimmung am Ständemehr. Er hätte dem Bund Kompetenzen zur Harmonisierung bestehender Leistungen in den Kantonen und zur Ausgestaltung eigener Massnahmen gegeben.

Bis vor Kurzem stellten sich Rechtslehre und Praxis meist auf den Standpunkt, dass sich aus dem Artikel 116 der Bundesverfassung nur unterstützende Kompetenzen in Bezug auf von Dritten getroffenen Massnahmen für den Bund ableiten lassen. Mahon und Huruy hielten 2021 in einem neuen Rechtsgutachten zu den Zuständigkeiten des Bundes im Bereich der familienergänzenden Kinderbetreuung jedoch fest, dass der Unterstützungscharakter unbeschränkt sei. Das Rechtsgutachten verweist dabei unter anderem auf die Artikel der Bundesverfassung zum Schutz der Arbeitnehmenden (Art. 110 Abs. 1) und zur Gleichstellung (Art. 8 Abs. 3). Auf beide Artikel könne sich der Bund für familienpolitische Massnahmen, insbesondere für einen besseren Schutz der Arbeitnehmenden sowie zur Gleichstellung der Geschlechter abstützen. Für beide Artikel gelte ausserdem, dass sie dem Bund umfassende Kompetenzen geben, ohne dass eine Verfassungsänderung nötig sei.

Lose Zusammenarbeitsformen

Die Zuständigkeiten liegen in der Familienpolitik somit vorab auf Ebene der Kantone und der Gemeinden. Unterstützende Massnahmen des Bundes können dabei als Elemente des föderalen Politikvollzugs betrachtet werden. So unterstützte der Bund in den vergangenen 20 Jahren beim Ausbau von familien- und schulergänzenden Kinderbetreuungsangeboten Betreuungsanbieter mit finanziellen Beiträgen. Erst mit den «neuen» Finanzhilfen zur Subventionserhöhung von Kantonen und Gemeinden zur Senkung der Elterntarife entstand ein direkter Bezug zu den Kantonen.

Während Politikfelder wie die Standortförderung oder die Integration sich stark auf eingespielte Kooperationsstrukturen zwischen Bund und Kantonen abstützen, bleibt die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen sowie zu Akteuren der Zivilgesellschaft in der Familienpolitik bis heute eher lose. Obwohl die Eidgenössische Kommission für Familienfragen (EKFF) kantonale Verantwortliche im Bereich der Familienpolitik unter Beizug des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) und der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) jährlich zu einem Austausch einlädt, vermag dieser Austausch weder auf eine Koordination noch aufeine Harmonisierung von Massnahmen für Familien in den Kantonen hinzuwirken.

Entsprechend prägen Fragen des Verhältnisses zwischen Bund und Kantonen sowie in Bezug auf die Strahl- und Steuerungskraft von Massnahmen beinahe jedes familienpolitische Geschäft auf Bundesebene. Dies soll im Folgenden an zwei konkreten Vorlagen exemplarisch skizziert werden.

Erwerbsarbeit, Vereinbarkeit und Beschäftigung

Die Politikwissenschaft – und auch die Politik – diskutieren familienpolitische Anliegen nicht mehr nur unter sozialpolitischen Aspekten, sondern messen ihr zusehends volkswirtschaftliche Bedeutung zu (Häusermann und Bürgisser 2022: 950). Als Beispiel sei auf die Parlamentarische Initiative «Überführung der Anstossfinanzierung in eine zeitgemässe Lösung» verwiesen, mit der das Parlament die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern und die Chancengerechtigkeit im frühen Kindesalter stärken will.

Im Unterschied zum Nationalrat, der die Vorlage im Frühling 2023 verabschiedete, legt die ständerätliche Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) den Fokus insbesondere auf arbeitsmarktpolitische Aspekte: Während der Nationalrat mit der Vorlage insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für alle Familienkonstellationen fördern will, möchte Letztere mit der Senkung der Elternbeiträge die Arbeitsmarkpartizipation der Eltern erhöhen, was wiederum dem Fachkräftemangel entgegenwirkt.

Blickt man auf die tatsächlich grossen Herausforderungen, die sich in einigen Branchen ergeben, so ist anzunehmen, dass seitens der Kantone, der Gemeinden und der Arbeitgebenden in den nächsten Jahren eine Vielzahl an Investitionen und verstärkte Innovation notwendig sein wird. Die Rolle des Bundes hierfür ist bislang nicht geklärt. Betrachtet man die nicht zuletzt dank Homeoffice grösser werdenden Distanzen zwischen Wohn- und Arbeitsort, lässt sich unschwer erahnen, dass Wirtschaftsstandorte wie der Grossraum Zürich oder die Genferseeregion zunehmend davon abhängig werden, wie Eltern in entfernteren Gebieten die Betreuung ihrer Kinder mit ihrer Erwerbstätigkeit vereinbaren können.

Materielle Sicherheit von Familien

Kinder bedeuten ein Armutsrisiko: Mehr als 10 Prozent der Familien mit Kindern in der Schweiz sind armutsgefährdet oder arm. Bei Einelternhaushalten sind es sogar über 20 Prozent. Dies schlägt sich auch in den Sozialhilfestatistiken nieder: Bei mehr als der Hälfte der Sozialhilfebeziehenden in der Schweiz werden auch Kinder mitunterstützt. Rund ein Drittel der Menschen, die von der Sozialhilfe leben, sind Kinder.

Die schweizerische Familienpolitik sieht zum einen staatliche Ausgaben zur Familienförderung vor und kennt zum andern über Transferzahlungen eine zumindest teilweise Kompensation der Erwerbsaufälle im Zusammenhang mit der Betreuung von Kindern. Beide Unterstützungsformen basieren stark auf der historischen Herangehensweise an die Familienpolitik, wonach diese privat sei.

Hier zeigt sich ein Spannungsfeld, das bereits die politische Debatte um die Mutterschaftsversicherung prägte und sich bis heute hält, nämlich das zwischen privater Verantwortung und einer solidarischen Abstützung von Familie. Aktuelle Beispiele sind die in mehreren Kantonen geführten Auseinandersetzungen um eine Elternzeit oder um die Höhe staatlicher Subventionierung für die familienergänzende Kinderbetreuung. Nach wie vor sind gezielte sozialpolitische Interventionen, die eine wirtschaftliche Absicherung der Familien oder eine gleichberechtigtere Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt zum Ziel haben, Aufgabe der Kantone und damit grossen kantonalen und kommunalen Unterschieden unterworfen (Häusermann, Bürgisser 2022: 934).

Die Debatte ist eröffnet

Das BSV hat sich im Rahmen einer Strategieüberprüfung mit der Rolle des Bundes in der Familienpolitik beschäftigt und sich gefragt, wie die Familienpolitik im Jahr 2040 aussehen könnte. Die Eidgenössische Kommission für Familienfragen (EKFF) hat auf dieser Grundlage die folgenden Fragen konkretisiert:

  • Gesellschaft: Wie sieht die Familie im Jahr 2040 aus? Verändert sich die Definition des Begriffes «Familie»? Welches sind die Werte, Bedürfnisse, Sorgen und Wünsche der Familien im Jahr 2040? Wie verändern sich die Rollenbilder in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Bringt die alternde Gesellschaft allenfalls neue Blicke auf die Familie und damit auf die Familienpolitik mit sich?
  • Umfeld: Wie ist der Lebenskontext von Familien im Jahr 2040 in Bezug auf Demografie, Umwelt, Raum, Wohnen, Arbeit, Mobilität, Gesundheit, wirtschaftliche Sicherheit und Armut?
  • Vereinbarkeit: Wie entwickelt sich der Bedarf an Arbeitskräften und die Bedürfnisse der Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden? Was ist deren Rolle? Welche Massnahmen werden dannzumal ergriffen, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern? Wie ist sie sichergestellt?
  • Familienrecht: Wie sind die heute bereits vielfältigen Familienkonfigurationen rechtlich zu fassen? Und wie gelingt es, ihnen eine Offenheit zu geben, damit auch neue sich noch herausbildende Familienformen integriert werden könnten? In welchem Gleichgewicht werden Recht und Verantwortung zwischen Kindern und Eltern sowie ihrer sozialen und biologischen Bezugspersonen rechtlich gefasst sein? Welche Rolle spielt die klassische Ehe künftig in der Definition von Eltern-Kind-Beziehungen (familialen Beziehungen) und für die Gleichstellung?
  • Föderalismus: Welche Aufgaben sollen dem Staat, welche der Zivilgesellschaft zugewiesen werden, um Familien optimal zu fördern? Welches wären mögliche Entwicklungen der heutigen Kompetenzordnung zwischen Bund und Kantonen? Wie würde eine Kompetenzordnung mit dreigeteilter staatlicher Verantwortung aussehen, die eine koordinierte, chancengerechte und zukunftsorientierte Familienpolitik ermöglicht? Was würde eine solche Kompetenzordnung begründen?
  • Politik-Koalitionen: Wie sehen familienpolitisch erfolgreiche Koalitionen im Jahr 2040 aus? Wird es gelingen, sozialpolitisch motivierte Ansätze mit volkswirtschaftlich und arbeitsmarktpolitisch begründeten Initiativen zu verbinden? Wer hat welche Interessen? Wie ist die Stellung der Familienpolitik in Vergleich zu anderen Politikfeldern? Was zeichnet eine erfolgreiche Familienpolitik aus?
  • Volkswirtschaft: Wie kann sich die Schweiz aus volkswirtschaftlicher Perspektive organisieren und auch künftig eine führende Volkswirtschaft in Europa sein? Was bedeutet dies für die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt, in Bezug auf neue Arbeitszeitmodelle und die wirtschaftliche Absicherung der Menschen in diesem Land?

Die EKFF hat verschiedene Autorinnen und Autoren beauftragt, mit Hilfe von Diskussionsbeiträgen zumindest einige dieser Fragen zu erörtern, um Überlegungen zur Familie und Familienpolitik im Jahr 2040 Raum zu geben. Wir freuen uns, dass die EKFF einige dieser Beiträge nicht nur an ihrer Tagung vom 5. Dezember 2023, sondern auch in der «Sozialen Sicherheit» (CHSS) in den kommenden Monaten veröffentlichen wird und wünschen uns, dass sie Ausgangspunkt für lebhafte Diskussionen sind.

Literaturverzeichnis

BSV (2021). Dienstleistungen für Familien: Systematik und Analyse der Begleit-, Beratungs- und Elternbildungsangebote. Forschungsbericht 1/21. Bern.

Bundesrat (2021). Reformbedarf im Abstammungsrecht. Bericht in Erfüllung des Postulats 18.3714 Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 21. August 2018.

EKFF 2023. Familien und Familienpolitik in der Schweiz – Herausforderungen im Jahr 2040. Sechs Diskussionsbeiträge. Bern

Expertinnen- und Experten-Gruppe «Abstammungsrecht» (2021). Empfehlungen der Gruppe zum Reformbedarf im Abstammungsrecht, im Auftrag des Bundesamtes für Justiz (BJ).

Häusermann, Silja; Bürgisser, Reto (2022). Familienpolitik. In: Handbuch der Schweizer Politik. Manuel de la politique suisse. 7. Auflage. Zürich, NZZ Libro, 931–954.

Mahon, Pascal; Huruy, Bathsheba (2021). Les compétences de la Confédération en matière d’accueil extrafamilial et parascolaire. Avis de droit établi à la demande de la Jacobs Foundation. Zürich.

Stern, Susanne; Ostrowski, Gisela. et al. (2021). Finanzierung der institutionellen Kinderbetreuung und Elterntarife, Bericht im Auftrag der EKFF, INFRAS Forschung und Beratung, Zürich und Evaluanda AG, évaluation et conseil, Genf.

Vizedirektorin, Leiterin des Geschäftsfeldes «Familien, Generationen und Gesellschaft», Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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