Erwerbspotenziale für die Altersvorsorge besser nutzen

Der demografische Wandel stellt eine Herausforderung für die Altersvorsorge dar. Gefragt sind deshalb Massnahmen in der Arbeitsmarkt-, Familien- und Bildungspolitik.
Malte Flachmeyer, Ilka Steiner
  |  28. Mai 2024
    Forschung und Statistik
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Ein ausreichendes Angebot an Kitaplätzen ist eine wichtige Voraussetzung, um das Erwerbspotenzial besser auszuschöpfen. (Keystone)

Auf einen Blick

  • Die Verschiebung im Verhältnis von erwerbstätiger und altersrentenbeziehender Bevölkerung wird oftmals als «Krise» der Altersvorsorge aufgefasst und ruft Zweifel an der Finanzierbarkeit hervor.
  • Ein differenzierter Blick auf die demografische Entwicklung zeigt allerdings deutliche Potenziale bei der Erwerbspartizipation und der Erwerbslebensdauer auf.
  • Gezielte arbeitsmarkt-, familien- und bildungspolitische Massnahmen stützen die Finanzierungsgrundlage der Altersvorsorge.

Die Sozialpolitik allgemein und insbesondere die Altersvorsorge sieht sich in letzter Zeit mit vielfachen Krisen konfrontiert. Dazu gehören neben den jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrisen auch die Corona-Pandemie, der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die Energie- und Inflationsschocks. Während die Sozialpolitik in diesem Kontext einerseits eine Stabilisierungsfunktion erfüllen soll, sieht sie andererseits auch ihre Finanzierungsgrundlagen gefährdet.

Eine weitere Herausforderung, die im Zusammenhang mit der Altersvorsorge häufig als «Krise» charakterisiert wird, ist die demografische Alterung. In Deutschland befasste sich das Forschungsnetzwerk Alterssicherung der Deutschen Rentenversicherung Anfang des Jahres mit der Altersvorsorge «in Zeiten der Polykrise». Katharina Spiess, Direktorin des deutschen Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, plädierte dort für einen differenzierten Blick auf die demografische Alterung und für eine «nachhaltige Demografiepolitik», um das vorhandene Erwerbspotenzial besser auszuschöpfen.

Deutschland: Bildung ist entscheidend

In Deutschland wird sich die demografische Alterung in den kommenden Jahrzehnten verschärfen. Sie spiegelt sich im Altersquotient, der in Deutschland von 37 Rentenbeziehenden auf 100 Erwerbstätigte im Jahr 2022 auf schätzungsweise 51 Rentenbeziehende auf 100 Erwerbstätige im Jahr 2050 steigt. Laut Spiess muss diese Entwicklung jedoch umfassender als lediglich anhand des Altersquotienten betrachtet werden. So gelte es, den Blick insbesondere auf die unterschiedliche Erwerbslebensdauer und -intensität verschiedener Bevölkerungsgruppen zu richten.

Dadurch rückt der enge Zusammenhang zwischen Ausbildungsniveau und Erwerbsverlauf in den Mittelpunkt der Betrachtung: je höher die formale Bildung, desto länger ist in Deutschland die Erwerbslebensdauer. Zum Beispiel arbeiten Frauen mit einem akademischen Abschluss über ihr Erwerbsleben hinweg in Deutschland im Durchschnitt rund zehn Jahre mehr als Frauen mit einem tieferen Bildungsabschluss. Der Anteil von Menschen ohne Berufsabschluss ist in Deutschland seit den 1990er-Jahren allerdings in etwa konstant geblieben. Das Anheben des Humankapitals durch geeignete Massnahmen im Bereich Bildungspolitik bedeutet also aus Sicht der Altersvorsorge einen effektiven Weg, dem abnehmenden Erwerbspotenzial zu begegnen.

Ausserdem besteht in Deutschland nach wie vor eine besonders hohe Diskrepanz zwischen den Geschlechtern – zum einen bezüglich der Arbeitsmarktpartizipation generell sowie zum anderen im Verhältnis von Voll- und Teilzeiterwerbstätigkeit. So waren im Jahr 2022 von den 20- bis 64-Jährigen gemäss Eurostat 88 Prozent der Männer, aber nur 70 Prozent der Frauen erwerbstätig. Und während nur 11 Prozent der Männer teilzeitbeschäftigt waren, betrug dieser Anteil bei den Frauen 47 Prozent.

Hier könnte laut Spiess die Familienpolitik mit Massnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf ansetzen, um die Erwerbslebensdauer zu steigern. Bezüglich der Erwerbstätigkeit von Müttern hat es in Deutschland einen Wandel in den Normen und Einstellungen gegeben – laut einer Befragung aus dem Jahr 2023 befürworten immer mehr Personen die Vollzeit- oder vollzeitnahe Erwerbstätigkeit von Müttern auch mit jüngeren Kindern (Gambaro et al. 2023). Zudem beabsichtigen 54 Prozent der Mütter, deren 1- bis 3-jährige Kinder trotz Bedarf keinen Kita-Platz haben, in den nächsten zwei Jahren wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen (Huebener et al. 2023).

Die sogenannte Einschulungsquote in frühkindlichen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen der 0- bis 2-Jährigen von knapp 40 Prozent deckt sich in Deutschland derzeit folglich mit einem bedeutenden ungedeckten Bedarf an institutioneller Betreuung. Dies gilt besonders für Familien, in denen zu Hause kein Deutsch gesprochen wird sowie bei armutsgefährdeten Familien und Alleinerziehenden (Schmitz et al. 2023). Der Ausbau und die erleichterte Zugänglichkeit frühkindlicher Bildungs- und Betreuungseinrichtungen hätte daher auch einen klaren Mehrwert in der Erhöhung der Bildungschancen benachteiligter Bevölkerungsgruppen. Ein höheres Ausbildungsniveau der Bevölkerung wirkt sich, wie oben erwähnt, langfristig ebenfalls positiv auf die Erwerbslebensdauer aus.

Schweiz: Anteil tertiärer Bildung höher

Sowohl die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als auch die frühkindliche Bildung sind Wege, die gesellschaftlichen Potenziale im Bereich des Erwerbsvolumens und der Erwerbsquoten besser zu nutzen und so die Finanzierungsgrundlage der Altersvorsorge zu festigen. Es stellt sich also die Frage, welche Chancen hierin auch für eine nachhaltige Demografiepolitik in der Schweiz liegen.

Zunächst ist festzuhalten, dass die demografische Alterung auch in der Schweiz stattfindet: Der Altersquotient steigt laut dem Bundesamt für Statistik voraussichtlich von 32 Rentenbeziehenden je 100 Erwerbstätigen im Jahr 2022 auf 47 Rentenbeziehende je 100 Erwerbstätige im Jahr 2050 (BFS STATPOP ; BFS Bevölkerungsszenarien). Der tiefere Altersquotient der Schweiz im Vergleich zu Deutschland ist dabei auf die höhere Zuwanderung jüngerer Arbeitskräfte zurückzuführen (Favre et al. 2023).

Das Ausbildungsniveau in der Schweiz ist höher als in Deutschland – was allerdings im Umkehrschluss bedeutet, dass hier weniger ungenutztes Potenzial besteht. So sank der Anteil von Personen ohne berufliche Grundausbildung von 34 Prozent im Jahr 2000 auf 27 Prozent im Jahr 2023. Gleichzeitig kam es zu einem grossen Zuwachs an Personen mit tertiärer Bildung von 19 Prozent auf 36 Prozent (BFS SAKE), was vor allem der Zuwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte geschuldet ist (Wanner und Steiner 2018).

Teilzeitarbeit bei Müttern verbreitet

Ein hohes Bildungsniveau scheint auch in der Schweiz einen positiven Einfluss auf die Erwerbslebenszeit zu haben, zumindest insofern, als Höherqualifizierte öfter auch nach Erreichen des Referenzalters noch erwerbstätig sind und nicht zu einem Vorbezug ihrer AHV- oder BV-Rente tendieren (Braun-Dubler et al. 2022). Allerdings findet bei ihnen aufgrund der längeren Ausbildungsdauer der Einstieg ins Berufsleben später statt, als bei Personen mit tieferen Bildungsabschlüssen (Wanner 2012).

Die Erwerbsbeteiligung in der Schweiz ist mit 89 Prozent bei den Männern und 82 Prozent bei den Frauen laut Eurostat bereits sehr hoch – wobei 60 Prozent der Frauen Teilzeit arbeiten, was einer der höchsten Werte in Europa ist (siehe Grafiken). Bei den Männern liegt die Teilzeitquote mit 18 Prozent deutlich tiefer.

Besonders hoch ist der Teilzeitanteil mit 78 Prozent bei den erwerbstätigen Müttern, während er bei Frauen ohne Kinder mit 35 Prozent deutlich niedriger ausfällt (BFS 2021). Interessant ist, dass der Anteil der teilzeitbeschäftigten Mütter in den letzten Jahren zwar stabil geblieben ist, ihr Beschäftigungsumfang sich jedoch erhöht hat. Während im Jahr 1991 nur 26 Prozent der Mütter in einem 50- bis 80-Prozentpensum arbeiteten, waren es 30 Jahre später 45 Prozent.

Dennoch deuten einige vom BFS ausgewiesene Zahlen auf einen ungedeckten Betreuungsbedarf hin. Über 90 Prozent der nichterwerbstätigen Mütter waren nicht auf Stellensuche, jedoch gaben drei Viertel von ihnen als Grund dafür Kinderbetreuung oder andere familiäre Verpflichtungen an. Etwa ein Drittel wäre grundsätzlich bereit gewesen, innerhalb der nächsten drei Monate wieder zu arbeiten.

Auch in der Schweiz besteht somit in Bezug auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen beträchtliches Potenzial. Die «Einschulungsquote» in frühkindlichen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen der 0- bis 2-Jährigen liegt in der Schweiz gemäss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bei knapp 37 Prozent. Dies ist vergleichbar mit den erwähnten 40 Prozent in Deutschland. Ein grösserer Unterschied besteht bei den 3- bis 5-Jährigen. Während in Deutschland 90 Prozent der Kinder dieser Altersgruppe eine Bildungs- oder Betreuungseinrichtung besuchen, sind es in der Schweiz lediglich 50 Prozent (OECD 2023).

Politik in verschiedenen Bereichen gefordert

Zusammenfassend ist festzuhalten: Um die Krisenfestigkeit der Altersvorsorge zu verbessern, sind Massnahmen in der Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Familienpolitik nötig. Nicht alle für Deutschland aufgezeigten Ansatzpunkte lassen sich uneingeschränkt auf die Schweiz übertragen. So liegt die Lohnquote, also der Anteil der Löhne an der Gesamtwirtschaftsleistung, in der Schweiz seit Jahrzenten relativ stabil bei etwa 55 bis 60 Prozent, während diese in Deutschland – und auch in den anderen Nachbarländern der Schweiz – bedeutend zurückgegangen ist  (Siegenthaler und Stucki 2014; Eurostat NAMA BIP und Hauptkomponenten). Somit sind die Finanzierungsvoraussetzungen in der Schweizer Altersvorsorge besser als in Deutschland.

Die Stossrichtung bleibt für die Schweiz jedoch dieselbe: Schlüsselelemente, um angesichts des demografischen Wandels das Erwerbsvolumen und die Erwerbsquoten zu erhöhen und damit die Finanzierungsgrundlage der Alterssicherung zu stützen, sind die institutionelle Kinderbetreuung und frühkindliche Bildung. Dies setzt jedoch auch entsprechende Werthaltungen und eine individuelle Bereitschaft zur Erwerbsbeteiligung voraus.

Angesichts des vorhandenen, ungenutzten Erwerbspotenzials bedeutet das: Der demografische Wandel ist keine Krise, sondern eine langfristige, politisch gestaltbare Herausforderung.

 

Literaturverzeichnis

 

Braun-Dubler, Nils; Frei, Vera; Kaderli, Tabea; Roth, Florian (2022). Wer geht wann in Rente? Ausgestaltung und Determinanten des Rentenübergangs. Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 5/22.

Favre, Sandro; Föllmi, Reto; Zweimüller, Josef (2023). Migration und Sozialversicherungen. Eine Betrachtung der ersten Säule und der Familienzulagen. Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 6/23.

Gambaro, Ludovica; Spiess, C. Katharina; Wrohlich, Katharina; Ziege, Elena (2023). Should Mama or Papa Work? Variations in Attitudes towards Parental Employment by Country of Origin and Child Age. In: Comparative Population Studies, 2023(48), 339–368.

Huebener, Mathias; Schmitz, Sophia; Spieß, C. Katharina; Binger, Lina (2023). Zugang zu Kindertagesbetreuung aus bildungs- und gleichstellungspolitischer Perspektive. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Schmitz, Sophia; Spieß, C. Katharina; Huebener, Mathias (2023). Weiterhin Ungleichheiten bei der KiTa-Nutzung. In: Bevölkerungsforschung Aktuell, 2023(2), 3–8.

Siegenthaler, Michael; Stucki, Tobias (2014). Dividing the Pie: The Determinants of Labor’s Share of Income on the Firm Level. KOF Working Papers 352.

Spiess, C. Katharina (2024). Langfristige Herausforderung Demografischer Wandel – Aspekte einer nachhaltigen Demografiepolitik. Vortrag auf der FNA-Jahrestagung, Berlin, 1.-2. Februar.

Wanner, Philippe (2012). Mortalité différentielle en Suisse 1990–2005. Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 10/12.

Wanner, Philippe; Steiner, Ilka (2018). Ein spektakulärer Anstieg der hochqualifizierten Zuwanderung in die Schweiz. Social Change in Switzerland, 2018(16).

Doktor in Soziologie, Projektleiter Forschung und Evaluation, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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Doktorin in Demografie, Direktionsadjunktin, Bundesamt für Sozialversicherungen; Lehrbeauftragte, Universität Neuenburg
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