Gemeinsam für qualitative Investitionen in die frühe Kindheit

Als Bilanzierung des TAK-Integrationsdialogs «Aufwachsen – gesund ins Leben starten» fand am 4. Mai 2017 eine Fachtagung statt. Rund 130 Fachleute diskutierten, welche Bedingungen geschaffen werden müssen, um Kindern einen guten Start ins Leben zu ermöglichen – und stellten Forderungen an die Zivilgesellschaft, an Fachpersonen und nicht zuletzt an die Politik.
Patricia Buser, Karin Augsburger
  |  01. September 2017
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Am 2. Mai 2017 hatte der Nationalrat als Zweitrat Subventionen von rund 100 Mio. Franken für die stärkere Unterstützung der familienergänzenden Kinderbetreuung und die Vergünstigung der Krippenplätze gesprochen. Zwei Tage später waren sich über 130 Fachleute an der Fachtagung zum Integrationsdialog «Aufwachsen – gesund ins Leben starten» der Tripartiten Agglomerationskonferenz (TAK, neu Tripartite Konferenz TK) einig, dass der Entscheid des Parlaments zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber weiterhin nur ein Tropfen auf den heissen Stein sei. Neben dem weiterhin hohen Bedarf an finanziellen Ressourcen brauche es bedeutend mehr, um allen Kindern – unabhängig von ihrer Herkunft – chancengleiche Startbedingungen ins Leben zu ermöglichen. Fachleute aus Praxis, Theorie und Verwaltung bilanzierten an der Tagung Erreichtes, diskutierten Herausforderungen und stellten Forderungen an Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger im Bereich der frühen Kindheit.

Ökonomische Chance und Notwendigkeit von Investitionen in die frühe Kindheit Investitionen in die Gesundheit, Integration und Bildung von Kleinkindern1 lohnen sich für die Familien, die Gesellschaft als Ganzes, den Staat und die Wirtschaft – dies wurde an der TAK-Fachtagung deutlich aufgezeigt. Prof. Dr. Martin Hafen von der Hochschule Luzern legte dar, dass es sich eine Volkswirtschaft überhaupt nicht leisten kann, nicht in die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung zu investieren (Hafen 2017, 33). Er bezog sich dabei auf Wirtschaftsnobelpreisträger James J. Heckman, der in seiner Forschung mehrfach nachgewiesen hat, dass Kleinkinder von gezielten Investitionen in ihre Entwicklung profitieren. Solche Kinder haben im Vergleich zu nicht geförderten Kindern einen besseren Schulerfolg und später bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Zudem begehen Kinder, in die in ihrer frühen Kindheit investiert wurde, als Jugendliche und Erwachsene weniger Straftaten, beziehen weniger Sozialhilfe und ihr Gesundheitszustand ist besser. Am meisten profitieren Kinder aus sozial benachteiligten Familien (Heckman/Masterov 2007, 31).

Durch Investitionen in die frühe Kindheit lassen sich aber nicht nur gesundheitliche, soziale und ökonomische Ungleichheiten bei der Geburt reduzieren. Auch die ganze Gesellschaft und dadurch deren Volkswirtschaft können davon profitieren. Für eines der bekanntesten US-amerikanischen Förderprogramme für sozial benachteiligte Kinder und ihre Familien, das sogenannte Perry Preschool Project wird eine Rate of Return (Ertragsrate) von 16 Prozent errechnet. Darin enthalten sind der wirtschaftliche Nutzen von reduzierter Kriminalität, gesunkene Kosten für Förderunterricht sowie höhere Einkommen der Teilnehmenden im Erwachsenenalter (Heckman/Masterov 2007, 35). Das Programm umfasst wöchentliche Hausbesuche bei den Kindern und deren Familien sowie intensive, hochqualitative Vorschulerziehung während ein bis zwei Jahren für Kinder aus sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten (Heckman/Masterov 2007, 12).

Zugänge zu Beratungsangeboten in der ­frühen Kindheit ermöglichen Fachpersonen stossen oft an Grenzen, wenn es darum geht, bestimmte Zielgruppen, deren Kinder nicht in Kitas oder anderen Institutionen integriert sind, zu erreichen. Seien dies nun Familien mit unmittelbarem Migrationshintergrund und fehlenden Kenntnissen der lokalen Sprache, Flucht- und traumatischen Erfahrungen oder sozioökonomischen Nachteilen. Damit ebendiese Kinder mit ihren Familien von Investitionen in die frühe Kindheit Gebrauch machen können, bedarf es der Sensibilisierung von Fachpersonen. Diese sollen allfällige Bar­rieren, wie zum Beispiel Angst vor Verständigungsschwierigkeiten, Diskriminierung oder auch praktische Hürden wie mangelnde Ortskenntnisse oder Unwissen über bestehende Angebote, frühzeitig erkennen. Entsprechendes Informationsmaterial und Schulungen für Fachpersonen über spezifische Zugangshindernisse sind hier nützlich.

Auch zivilgesellschaftliche Akteure können eine entscheidende Rolle dabei spielen, Familien an die richtigen Fachstellen zu verweisen. So können Hausärztinnen und Hausärzte, welche die Gesundheitsgrundversorgung von Kindern und ihren Familien gewährleisten, auf Angebote aufmerksam machen und weiterverweisen. Personen mit demselben kulturellen und sprachlichen Hintergrund können Familien mit unmittelbarer Migrationserfahrung darin unterstützen, Eintrittshürden abzubauen und entsprechende Beratungsangebote in Anspruch zu nehmen. Dieser sogenannte Peer-to-Peer-Ansatz, der Schlüsselpersonen mit eigener Migrations- und Fluchterfahrung involviert, eignet sich hierfür besonders gut.

Qualitätsstandards als Orientierungs­hilfen Beim Peer-to-Peer-Ansatz und weiteren Strategien zur Erreichung der betroffenen Familien scheint es sinnvoll, Qualitätsstandards und Richtlinien für die fachliche Beratung festzuhalten und flächendeckend zu fördern. Beispielsweise wurden Standards erarbeitet, die unter den Kinderärztinnen und Kinderärzten einheitliche Behandlungsrichtlinien schaffen und Informationslücken schliessen sollen (Bernhard et al. 2016). Oder im Rahmen der Mütter- und Väterberatung ist es sinnvoll, als Standardvorgehen festzuhalten, dass sich die Beratenden mit bestimmten Kulturen vertraut machen. Dadurch lassen sich die sogenannten Kulturalisierungsfallen beziehungsweise einseitige kulturelle Zuschreibungen vermeiden und die Problemstellungen und Bedürfnisse von Familien aus einem unterschiedlichen Kulturkreis besser einschätzen und nachvollziehen.2

Lokale Vernetzung zur Sicherstellung der Förderketten Um die Betreuungs- und Förderketten für sozial benachteiligte Kinder sicherzustellen, bedarf es auf lokaler Ebene der verstärkten Koordination und Kooperation zwischen den im Frühbereich tätigen Schlüsselpersonen wie Kita-Mitarbeitenden, Hebammen, Pädiaterinnen und Pädiatern oder Mütter- und Väterberatungspersonen. Durch den Aufbau von fachübergreifenden Netzwerken werden Synergien erzeugt und Informationen effektiver geteilt; die Fachpersonen profitieren gegenseitig davon, wenn sie über die Schnittstellen zu anderen Bereichen gut informiert sind und die entsprechenden Kontaktpersonen kennen. Dies erlaubt einen ganzheitlicheren und auch effizienteren Umgang mit den Problemstellungen, Fragen und Bedürfnissen derjenigen Personen, die sie beraten und behandeln. Der Gewinn an Zielorientierung, Effizienz und Wirksamkeit kompensieren den anfänglichen Mehraufwand, der sich aus der Investition zeitlicher, personeller und materieller Ressourcen in Vernetzungsarbeit ergibt, bei Weitem. Obschon die positive Wirkung von fachübergreifenden Netzwerken also erkannt und in der Praxis erprobt ist, gibt es kaum finanzielle und praktische Anreize, welche die lokale Vernetzung der Fachpersonen fördern würden.

Um noch mehr Fachpersonen vom Mehrwert der Vernetzungsarbeit zu überzeugen, sind Möglichkeiten zu prüfen, wie sich der dadurch entstehende Mehraufwand kompensieren lässt. Denkbar wäre zum Beispiel, dass die regelmässige Teilnahme an institutionalisierten lokalen oder regionalen Vernetzungstreffen als Weiterbildung angerechnet werden kann (für Kinderärztinnen und Kinderärzte z. B. durch die Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie).

Politische Mobilisierung von Fachkräften in der frühen Kindheit Bei Investitionen in die frühe Kindheit ist das Engagement von Fachpersonen aber nicht nur im beruflichen und zivilgesellschaftlichen Kontext, sondern auch für die politische Dimension ihrer Arbeit gefragt. Die politische Sensibilisierung lokaler Fachkräfte und deren Vernetzung muss vorangetrieben werden. Fachpersonen müssen darin befähigt und unterstützt werden, sich politisches Gehör zu verschaffen und ihre Interessen in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen. Sie sollen ihre Anliegen so diskutieren und formulieren können, dass sie von lokalen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern wahrgenommen werden. Organisationen wie das Netzwerk Kinderbetreuung Schweiz können mit ihrem politischen Know-how und ihrer langjährigen Erfahrung in Fragen der familienergänzenden Kinderbetreuung Unterstützung leisten.

Koordination zwischen föderalen Ebenen im Bereich der frühen Kindheit Die Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung für die Politik der frühen Kindheit sind horizontal auf mehrere verschiedene Behörden und vertikal über die drei Staatsebenen verteilt. Die Gesetzgebungskompetenz liegt bei den Gemeinden und bei den Kantonen. Eine Bestandsaufnahme der Angebote zeigt, dass die Kantone die Kleinkinder unterschiedlich intensiv und konsequent fördern und zahlreiche Strategien und Ansätze nebeneinander stehen (INFRAS 2017, 34). Um eine schweizweit breit abgestützte, wirkungsvolle Politik der frühen Kindheit zu gewährleisten, wäre ein entsprechender Austausch unter den Kantonen via EDK, SODK und GDK wünschenswert.

Auch die effektive und effiziente Umsetzung kantonaler Förderprojekte in den Gemeinden ist eine Herausforderung. Die Einrichtung kantonaler Koordinationsstellen für die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung, welche das Feld der frühen Kindheit als Querschnittsthema der Bereiche Gesundheit, Integration, Bildung und Soziales auffassen, kann zur Verbesserung der Koordination beitragen und es den Gemeinden erleichtern, stärker über ihre Grenzen hinweg zu kooperieren und regionale Netzwerke aufzubauen.

Der Bund, dem in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung nur unterstützende und ergänzende Kompetenzen zukommen, kann als facilitator für Vernetzungsarbeit und Kooperation eine wichtige moderierende Rolle einnehmen und für Gefässe sorgen, in denen sich Kantone, Gemeinden und nichtstaatliche Akteure austauschen und Kooperationsbedarf identifizieren können.

Sprache und Kultur als Herausforderungen Fachpersonen aus dem Frühbereich sehen sich in ihrer täglichen Arbeit mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen und sprachlichen Kompetenzen konfrontiert. Um diese Herausforderungen adäquat zu bewältigen, brauchen sie Unterstützung – z. B. durch Weiterbildungen in transkultureller Kompetenz und regelmässiger Supervision – und es müssen entsprechende Ressourcen bereitgestellt werden, etwa für interkulturelle Dolmetschende. Und wer Kinder mit traumatischen Erlebnissen oder Fluchterfahrungen betreut und begleitet, bedarf der besonders sorgfältigen Sensibilisierung durch Aus- und Weiterbildungen im Umgang mit traumatisierten Kindern.

Für Migrationsfamilien bestehen noch immer faktische Zugangshindernisse zu Informationen über Beratungs- und Unterstützungsangebote. Um diese Hürden abzubauen, kann auf innovative Konzepte (beispielsweise Video-Schwangerschaftskurse) und neue Informationskanäle (Plattformen wie YouTube) zurückgegriffen werden. Die Inhalte der Websites und Plattformen müssen aber nicht nur laufend an die Bedürfnisse und Kompetenzen der Familien angepasst, sondern auch in verschiedenen Sprachen bereitgestellt werden. Das Projekt migesplus des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) beispielsweise sammelt über eine Internetplattform Publikationen öffentlicher und privater Akteure, die sich zu den verschiedensten Gesundheitsthemen an die Migrationsbevölkerung richten, stellt sie in verschiedenen Sprachen zur Verfügung und gibt auch Finanzhilfen für Übersetzungen. Dadurch fördert das SRK den chancengleichen Zugang zu Gesundheitsinformationen.3 Für solche Vorhaben ist eine Strukturfinanzierung – im Gegensatz zur reinen Projektlogik, die heute bei der Finanzierung vielfach vorherrscht – wichtig. Erst so lassen sich beständige Strukturen aufbauen und dadurch Nachhaltigkeit gewährleisten.

Fazit Die jüngere Forschung legt nahe, dass Investitionen in die frühe Kindheit um ein Vielfaches effektiver und effizienter sind als spätere Eingriffe aufgrund verpasster Investitionen. Sie nützen nicht nur dem früh geförderten Kind, sondern sind vielmehr auch ein Integrationsmotor für die ganze Familie: Die Inanspruchnahme von Angeboten der frühen Förderung durch die Kinder führt nämlich dazu, dass auch die Eltern über die betreffenden Institutionen Kontakte ausserhalb ihres unmittelbaren sozialen Umfelds knüpfen. Trotz der gewichtigen gesellschaftlichen und ökonomischen Relevanz der frühen Kindheit kommt dem Thema in der politischen Agenda der Schweiz aber weder auf Bundes- noch auf kantonaler oder kommunaler Ebene genügend Bedeutung zu. Es wäre aber zu begrüssen, wenn die Politik das Engagement von Privaten und Fachpersonen mit der Einrichtung von tragfähigen und nachhaltigen Strukturen begleitete. Diese sind so auszurichten, dass Investitionen in die frühe Kindheit für alle Kinder – unabhängig von ihrer Herkunft – qualitativ verbessert und quantitativ ausgebaut werden. Davon profitieren alle – die Kinder, deren Familien und letztlich die gesamte Gesellschaft.

  • 1. Im Rahmen des TAK-Integrationsdialogs «Aufwachsen» sind zahlreiche Projekte entstanden, die sich für Investitionen in die frühe Kindheit einsetzen: www.dialog-integration.ch > Aufwachsen > Beispiele aus der Praxis.
  • 2. Vergleiche «Standards und Richtlinien 2017» des SF MVB: www.sf-mvb.ch > Qualitätssicherung > Standards und Richtlinien 2017 (PDF).
  • 3. www.migesplus.ch.
Dr. des. phil., Geschäftsführerin Netzwerk Kinder­betreuung Schweiz.
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BA in Zeitgeschichte, wissenschaftliche Mitarbeiterin Netzwerk Kinderbetreuung Schweiz.
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