Claudia Gruber, wie würden Sie Ihre Kundschaft beschreiben? Wir sind bei FAU spezialisiert auf hochqualifizierte Kundschaft, die einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss und/oder Kadererfahrung mitbringt. Unsere Kundinnen und Kunden kommen aus allen Branchen der Privatwirtschaft, öffentlicher Betriebe und des Non-Profit-Bereichs und waren in unterschiedlichen Funktionen tätig. Fast 100 Prozent unserer IV-Kundinnen und -Kunden haben eine psychische Beeinträchtigung. Sie kommen häufig im Anschluss an einen Klinikaufenthalt zu uns, um mit der Potenzialabklärung oder dem Belastbarkeitstraining den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt vorzubereiten.
Was dürfen IV-Kundinnen und -Kunden vom FAU-Einsatz erwarten? Wir unterstützen sie individuell bei der Weiterentwicklung der Selbst-, Methoden- und Sozialkompetenzen, beim Aufbau der Arbeitsmarktfähigkeit und der Wiedereingliederung in den 1. Arbeitsmarkt. Zudem profitieren sie vom Arbeitsumfeld an einem der vier FAU-Standorte Bern, Luzern, St. Gallen oder Zürich, wo sie mit anderen hochqualifizierten Kundinnen und Kunden arbeiten.
Was erwarten Sie von den Kundinnen und Kunden? Wir erwarten von ihnen, dass sie sich auf den Prozess und die Begleitung durch den persönlichen Coach einlassen und ihr Möglichstes geben, um die Wiederintegration in den 1. Arbeitsmarkt zu schaffen.
Inwiefern steigen für Ihre Kundschaft die Chancen, eine Stelle im 1. Arbeitsmarkt zu finden? Je nach Krankheitsverlauf, Diagnose und vorheriger beruflicher Tätigkeit verläuft der Integrationsprozess unterschiedlich, mal kürzer, mal länger. Im guten Fall stabilisiert sich eine Kundin oder ein Kunde durch die enge, ressourcenorientierte Begleitung innerhalb von drei bis sechs Monaten. Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit werden kontinuierlich aufgebaut. Die Kundinnen und Kunden können sich am Ende des Prozesses mit wiedergewonnenem Selbstvertrauen und geeigneten Strategien bewerben. Bestenfalls treten sie im Anschluss an den FAU-Einsatz eine Stelle an oder beginnen mit einem Arbeitsversuch, eine Art Praktikum im 1. Arbeitsmarkt.
Würden Sie uns am Beispiel eines konkreten Falls erzählen, was die Teilnehmenden bei FAU lernen können? Wie geht es nach dem Einsatz weiter? Ein Kunde, 29-jährig, Bereichscontroller, kam nach einem mehrmonatigen, erst stationären, dann ambulanten Klinikaufenthalt zu uns. Er startete mit einem dreimonatigen Belastbarkeitstraining seinen Einsatz. Nach einer guten Stabilisierungsphase im Belastbarkeitstraining konnte er direkt ins FAU-interne Arbeitstraining übertreten. Er machte, begleitet von seiner Coach, eine berufliche Standortbestimmung und optimierte seinen Bewerbungsprozess und sein Selbstmarketing. Zudem aktivierte er sein persönliches und berufliches Netzwerk, worüber ein Arbeitsversuch bei einem ehemaligen Arbeitgeber zustande kam. Bei gutem Verlauf ist eine Anstellung im Anschluss an den Arbeitsversuch vorgesehen.
Sie leiten seit 2016 das Aufbauprogramm für IV-Kundinnen und -kunden bei FAU – was bleibt für Sie ein unvergessliches Erlebnis? Wenn eine Kundin, oder ein Kunde noch sehr instabil und belastet, häufig auch stark verunsichert den Einsatz beginnt und nach nur wenigen Wochen sichtlich aufblüht, Mut und Zuversicht fasst und selber wieder an den Wiedereinstieg glaubt – das sind unvergessliche Momente.
Was bewegte FAU als Anbieter Arbeitsmarktlicher Massnahmen (AMM), sich im IV-Bereich zu engagieren? Eigentlich kam die Nachfrage nach unseren Angeboten von den IV-Stellen selbst. Wir integrieren seit über 20 Jahren hochqualifizierte Stellensuchende und sind auf dem AMM-Markt als nationaler Anbieter bekannt. Im Jahr 2009 erhielten wir erste Anfragen von IV-Beratenden, die uns baten, auch hochqualifizierte IV-Kundinnen und -Kunden zu begleiten.
Seit März 2016 besteht eine Leistungsvereinbarung mit der IV. Wie sah die Zusammenarbeit zuvor aus? Vor dem Abschluss der Leistungsvereinbarung mit der IV-Stelle der SVA Zürich arbeiteten wir seit 2010 im Einzelfall mit verschiedenen IV-Stellen zusammen. Die IV-Kundinnen und -Kunden waren damals in das AMM-Angebot integriert und absolvierten das gleiche Programm wie die RAV-Kundinnen und -Kunden. Mit der Leistungsvereinbarung wurde das Angebot erweitert. Das umfasst sechs Massnahmen, die von den IV-Stellen aller Kantone gebucht werden können.
Wie wirken sich die Sparmassnahmen bei der IV auf Ihre Arbeit mit Ihrer Kundschaft aus? Wenn die SVA Zürich die mit uns vereinbarten Monats- oder Fallpauschalen senken würde, müssten wir die Anzahl Betreuungsstunden durch den Coach herabsetzen. Das hätte eine geringere Betreuungsintensität zur Folge und würde sich bei gesundheitlich beeinträchtigten, noch instabilen Personen negativ auf den Integrationserfolg auswirken.
Wo sehen Sie als Bereichsleiterin FAU IV die grösste Herausforderung? Wir begleiten Menschen, die häufig seit vielen Jahren psychisch belastetet sind und aufgrund ihrer Krankheit vielleicht schon mehrmals die Stelle verloren oder schon längere Zeit nicht mehr gearbeitet haben. Auf der anderen Seite stehen die Anforderungen des «hochqualifizierten» Arbeitsmarktes, der initiative, belastbare und teamfähige Persönlichkeiten mit aktuellem Fachwissen verlangt. Unsere Kundinnen und Kunden so zu begleiten, dass sie wieder fit für eine Stelle sind, die sie auch behalten können, bleibt eine grosse Herausforderung.
Was muss ein Coach, der Ihre Kundinnen und Kunden berät, mitbringen? Unsere Coaches sind alle sehr gut qualifiziert, um auf Augenhöhe mit ihren Kundinnen und Kunden zu arbeiten. Neben langjähriger Berufserfahrung in unterschiedlichen Branchen, Führungs- und Fachpositionen bringen die Coaches verschiedene Studien- und Bildungshintergründe mit. Umfangreiche Weiterbildungen in den Bereichen Coaching, Beratung, Erwachsenenbildung und/oder Therapie ergänzen ihr Profil. Die Coaches verfügen zusätzlich über hohe Selbst- und Sozialkompetenzen, arbeiten zielorientiert und sind sehr belastbar.
Dialog auf Augenhöhe
Hans Meier , 57-jährig, Wirtschaftsinformatiker, kam nach einer Depression mit anschliessendem Klinikaufenthalt im Mai 2017 zu FAU IV. «Bevor ich mit dem Programm begonnen habe, war ich sehr nervös. Ich wusste nicht, was mich erwartet. Doch ich fühlte mich auf Anhieb sehr gut aufgehoben.» Meier betont, wie wichtig es für Menschen in seiner Situation sei, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Vor Programmantritt war er 15 Monate lang ohne Anstellung. «FAU hat mir klare Strukturen gegeben und einen Grund, morgens aufzustehen. Ich konnte wieder Kontakte knüpfen und fand in ein Arbeitsumfeld zurück mit dem Ziel, eine Stelle auf dem 1. Arbeitsmarkt zu finden.»
Die Standortbestimmung zu Beginn des Einsatzes brachte rasch Klarheit darüber, was Meier will und was nicht. Verhaltensmuster wurden analysiert und ein Motto erarbeitet, um in Krisensituationen bewusst anders zu reagieren als bisher. «Es ist immer noch mein Ziel, die gleiche Tätigkeit wie vor der Depression auszuüben, allerdings in einem 80 Prozent-Pensum und nicht mit derselben Verantwortung.»
Meier hat in sieben Monaten seine Präsenzzeit von 20 auf 80 Prozent aufgebaut, seine Konzentrationsfähigkeit steigern und Vertrauen gewinnen können. Dabei haben ihm auch zwei konkrete Projekte mit Projektauftrag und Dokumentation geholfen.
Meier lobt die professionelle Begleitung durch die Coaches. Die Fachpersonen seien nicht nur psychologisch kompetent geschult, sondern würden auch den Arbeitsmarkt bestens kennen. So sei ein Dialog auf Augenhöhe möglich. Jenen, die ganz am Anfang ihres FAU-Einsatzes stehen, empfiehlt er: «Finde heraus, wer du bist und wohin du gehen willst. Hier findest du die richtigen Ansprechpersonen, um diese Fragen zu klären.»
Wo liegen die grössten Herausforderungen für die Coaches? Die Herausforderungen variieren sehr, je nach Diagnose und gesundheitlicher Stabilität unserer Kundinnen und Kunden, die häufig an rezidivierenden Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, unter Ängsten und anderen psychischen Belastungen leiden. Die Coaches versuchen sehr schnell eine Vertrauensbasis zu schaffen, um die Kundinnen und Kunden zielorientiert in den 1. Arbeitsmarkt zurückzubegleiten.
Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen IV, FAU und Coach aus? Wir arbeiten eng mit den IV-Eingliederungsberatenden zusammen, die uns ihre Kundinnen und Kunden anvertrauen. Als Bereichsleiterin bin ich Ansprechperson für den Erstkontakt der Beratenden. Falls wir übereinkommen, dass ein FAU-Einsatz Sinn macht, übergebe ich das Dossier einem Coach des gewünschten Standortes. Es findet ein Kennenlerngespräch mit dem Coach und dem potenziellen Kunden oder der potenziellen Kundin, manchmal auch mit den zuständigen IV-Beratenden, statt. Während des Einsatzes werden Standortgespräche mit allen Parteien durchgeführt. Wir erstellen einen detaillierten Bericht zum Massnahmenverlauf mit Empfehlungen zum weiteren Vorgehen. Nach Rücksprache mit der Kundin bzw. dem Kunden stehen die Coaches auch mit den betreuenden Ärztinnen und Ärzten oder Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Kontakt.
Wann ist ein Einsatz erfolgreich? Im Endeffekt ist ein Einsatz erfolgreich, wenn die Kundin oder der Kunde wieder eine Stelle gefunden hat. Dauert der Aufbau länger, sehe ich es persönlich als Erfolg, wenn die Teilnehmenden in ihrer Schlussevaluation den FAU-Einsatz in unterschiedlichen Punkten positiv beurteilen und uns gestärkt und stabil für einen nächsten Schritt verlassen. Auch die positive Beurteilung der IV-Eingliederungsberatenden zeigt uns, dass der Einsatz erfolgreich war.
Nach welchen Kriterien wird der Erfolg der Coaches gemessen? In der Schlussevaluation der Kundinnen und Kunden werden unterschiedliche Kategorien abgefragt, beispielsweise Zusammenarbeit mit Coach, Fortkommen in der persönlichen und beruflichen Standortbestimmung, Verbesserung der eigenen Befindlichkeit wie Belastbarkeit, Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit. Auch die IV-Eingliederungsberatenden erhalten einen Fragebogen zum Einsatz, um unsere Arbeit zu beurteilen. In Prozentzahlen quantifizierbar ist die Steigerung der Präsenzzeit und der Leistungsfähigkeit.
Werden auch Zahlen erhoben, wie viele Teilnehmende nach Programmende eine Arbeitsstelle haben? Direkt nach Programmende dokumentieren wir die Stellenantritte. Häufig erfolgen diese auch einige Monate nach dem Austritt aus der FAU-Massnahme. Deshalb planen wir, Nachbefragungen durchzuführen, wie wir dies bereits seit Jahren im Bereich der RAV-Kundinnen und -Kunden machen. Unsere Auftraggeberin, die SVA Zürich, misst die Integrationsquote ebenfalls in einem definierten Zeitraum.
Wie müsste sich der Arbeitsmarkt verändern, um eine Zunahme von IV-Fällen zu verhindern? Gesamthaft hat die Anzahl der IV-Renten aufgrund von Erkrankungen in den letzten fünf Jahren kontinuierlich abgenommen. Die Renten bei psychischen Erkrankungen sind etwa gleichgeblieben. Der Arbeitsmarkt wird sich jedoch kaum zugunsten von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen verändern. Die Effizienz zu steigern bei gleichzeitigem Kostendruck bleibt eine grosse Herausforderung für die Unternehmensführung wie für die Mitarbeitenden. Von Seiten der Arbeitgebenden ist es daher wichtig, Führungskräfte und HR-Verantwortliche in der Erkennung von psychischen Erkrankungen besser zu schulen. Die IV-Stellen können dadurch rascher miteinbezogen und die Mitarbeitenden effizienter unterstützt werden. Auch wünsche ich mir, dass Arbeitgebende bereit sind, ihren erkrankten Mitarbeitenden Zeit und Möglichkeiten für eine Wiedereingliederung zu geben. Ebenso wäre hilfreich, wenn Unternehmen offen blieben für Anfragen von erkrankten Menschen, die den Wiedereinstieg über einen Arbeitsversuch erwägen. Auch kleinere Teilzeitpensen würden meines Erachtens die Chancen erhöhen, dass sich gut ausgebildete Menschen schneller integrieren können.