IV-Gutachten: Ärztemangel führt zu Wartezeiten

Wegen des Mangels an qualifizierten Sachverständigen kommt es zu längeren Wartezeiten für die IV-Versicherten. Dies zeigt eine statistische Auswertung für das Jahr 2022.
Michela Messi, Daniel Salamanca
  |  03. Juli 2023
    Forschung und StatistikRecht und Politik
  • Invalidenversicherung
In der Psychiatrie herrscht ein Fachkräftemangel. (Alamy)

Auf einen Blick

  • Die zur Verfügung stehenden Kapazitäten der Sachverständigen sind geringer als die Nachfrage nach medizinischen Gutachten der Invalidenversicherung, weshalb es für die Versicherten zu Wartezeiten kommt.
  • Im Jahr 2022 hat die Invalidenversicherung rund 11 000 medizinische Gutachten in Auftrag gegeben und dafür 87 Millionen Franken an Sachverständige bezahlt.
  • Die meisten Gutachten wurden von Psychiaterinnen und Psychiatern durchgeführt.
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In der Invalidenversicherung (IV) mangelt es seit Jahren an Gutachterinnen und Gutachtern (sogenannte Sachverständige). In der Folge entstehen oftmals lange Wartezeiten, bis die Aufträge vergeben werden können. Dies zeigen die statistischen Daten zu Gutachten, in die zwei oder mehrere Fachdisziplinen involviert sind (sogenannte bi- und polydisziplinäre Gutachten; vgl. Gutachterlisten erhöhen die Transparenz in der IV). Zu den Wartezeiten bei monodisziplinären Gutachten lassen sich keine statistischen Aussagen machen, da sie nicht über die Plattform Suissemedap zugeteilt werden.

Bei der Vergabe der polydisziplinären Gutachten hielten sich im Jahr 2022 die neu aufgenommenen Aufträge und die an Sachverständige zugeteilten Aufträge auf der Plattform Swissmedap zwar die Waage. Trotzdem befanden sich Ende 2022 noch rund 1600 Aufträge im System. Das liegt daran, dass in den Jahren zuvor mehr Aufträge hinterlegt als Begutachtungen zugeteilt worden waren und dass dieser Rückstand bis heute nicht aufgeholt werden konnte. Darüber hinaus mussten die Sachverständigen 2020 ihre Tätigkeit aufgrund der Covid-Pandemie teilweise einstellen. Rund 500 bidisziplinäre Gutachtensaufträge waren ebenfalls noch nicht zugeteilt.

Bezüglich der Kapazitätsengpässe gibt es zudem zwischen den Sprachregionen deutliche Unterschiede. So wurde in der Westschweiz beispielsweise bereits bei der Einführung der Vergabeplattform im Jahr 2012 ein Mangel an Sachverständigen festgestellt, dort mussten schon seit Längerem Wartezeiten in Kauf genommen werden.

Die Wartezeit hängt zudem von der Komplexität des Falls ab: Bei Gutachten, die mehrere Fachdisziplinen involvieren, dauert die Vergabe länger als bei einfacheren Aufträgen. Bei einigen seltenen Disziplinen (z. B. Gastroenterologie, Gynäkologie und Infektiologie) ist es ausserdem schwierig, verfügbare Sachverständige zu finden. Mit anderen Worten: Erfordert ein Gutachten eine Fachdisziplin, bei der die Gutachterstellen Kapazitätsengpässe aufweisen, bleibt der Auftrag auf der Plattform lange blockiert. 

Schliesslich hat sich der administrative Aufwand mit der Einführung der zufallsbasierten Verteilung von polydisziplinären Gutachten über Suissemedap im Jahr 2012 und von bidisziplinären Gutachten im Jahr 2022 für die Beteiligten erhöht.

Erstmalige Gutachtenübersicht

Im Juli 2023 hat die IV erstmals eine schweizweite Liste über die Vergabe der medizinischen Gutachten im Vorjahr veröffentlicht. Diese basiert auf den Daten, welche jede IV-Stelle im März 2023 publizieren musste. Für die Versicherten steigt damit die Transparenz, und für die Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung stellen diese Daten eine nützliche Informationsquelle dar. Darüber hinaus lassen sie sich aber auch statistisch auswerten, wie der erste Datensatz für das Jahr 2022 zeigt. Die Publikation der Liste ist eine gesetzliche Vorgabe in Folge der IV-Reform, die im Januar 2022 in Kraft getreten ist.

Insgesamt erteilten die IV-Stellen im vergangenen Jahr 11 293 Aufträge für medizinische Gutachten. Rund 44 Prozent der Aufträge betrafen polydisziplinäre Gutachten, 39 Prozent monodisziplinäre Gutachten. Weniger als 18 Prozent waren bidisziplinäre Gutachten (siehe Grafik 1).

Die Verteilung nach Art der Begutachtung (mono-, bi-, polydisziplinär) fällt je nach Sprachregion unterschiedlich aus. In der Deutschschweiz liegt der Anteil der polydisziplinären Gutachten insgesamt höher als in der Westschweiz oder im Tessin. In den beiden letztgenannten Regionen geben die IV-Stellen mehrheitlich monodisziplinäre Gutachten in Auftrag. Bidisziplinäre Gutachten werden über alle drei Sprachregionen hinweg am wenigsten vergeben.

Rund 500 Leistungserbringer

Im Jahr 2022 wurden 386 Sachverständige mit monodisziplinären und 79 Sachverständigen-Zweierteams mit bidisziplinären Gutachten beauftragt. Ausserdem erhielten 31 Gutachterzentren Aufträge für bi- oder polydisziplinäre Gutachten (siehe Grafik 2). In der Westschweiz gibt es dabei im Vergleich zur deutschen und italienischen Schweiz relativ wenige Zweierteams, weshalb dort die meisten bidisziplinären Aufträge (rund zwei Drittel) an Gutachterzentren vergeben werden.

Mehr als die Hälfte der mit einem monodisziplinären Gutachten beauftragten Sachverständigen waren Fachpersonen der Psychiatrie und der Psychotherapie, und 86 Prozent der zugeteilten monodisziplinären Aufträge betrafen die Fachdisziplin Psychiatrie und Psychotherapie. Diese Disziplin wird in allen Sprachregionen am meisten nachgefragt.

Von den insgesamt 2003 bidisziplinären Gutachtensaufträgen wurden im vergangenen Jahr 1354 an Gutachterstellen und 649 an Zweierteams vergeben. Bei 97 Prozent der an Zweierteams zugeteilten Aufträge waren Sachverständige aus der Disziplin «Psychiatrie und Psychotherapie» beteiligt. Als zweite Disziplin waren häufig die Rheumatologie, die Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparats, die Allgemeine Innere Medizin und die Neurologie vertreten.

Bei den polydisziplinären Begutachtungen waren die Psychiatrie und Psychotherapie (94 % der hinterlegten Aufträge), die Neurologie (57 %) und die Rheumatologie (44 %) am häufigsten gefragt, gefolgt von der Orthopädischen Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparats (36 %) und der Neuropsychologie (26 %). Dabei ist anzumerken: Die Allgemeine Innere Medizin muss gemäss Tarifvertrag bei polydisziplinären Gutachten immer vertreten sein.

Bei der Hälfte der polydisziplinären Gutachtensaufträge waren vier Disziplinen involviert; 28 Prozent der Aufträge umfassten drei Disziplinen,19 Prozent fünf Disziplinen und 3 Prozent sechs Disziplinen. Aufträge mit sieben oder mehr involvierten Disziplinen waren hingegen sehr selten.

Mehrheit der Aufträge an eine Minderheit von Sachverständigen

 Von den 386 monodisziplinären Sachverständigen erhielten 76 Prozent zwischen einem und neun Aufträgen (siehe Grafik 3). Insgesamt wurden an sie 812 Aufträge vergeben, was knapp 20 Prozent aller im Verlauf des Jahres erteilten monodisziplinären Aufträge entspricht. Die grosse Mehrheit der Aufträge ging dabei an eine kleine Zahl von Sachverständigen.

Von den Zweierteams erhielten 54 Prozent zwischen einem und vier Aufträgen und 20 Prozent zwischen fünf und neun Aufträgen. 26 Prozent der Zweierteams bekamen zwischen 10 und 55 Aufträge.

Die 4933 polydisziplinären Gutachtensaufträge gingen an 31 Gutachterstellen, die über einen Vertrag mit dem BSV verfügen (siehe Grafik 4). Dabei variiert die Anzahl der erteilten Aufträge zwischen den Gutachterstellen beträchtlich. Dies liegt vor allem daran, dass die einzelnen Gutachterstellen auf der Vergabeplattform unterschiedliche Kapazitäten zur Verfügung stellen. Wie erwähnt erfolgt die Vergabe der bi- und polydisziplinären Aufträge – aufgeschlüsselt nach Disziplin und Sprache des Gutachtens – nach dem Zufallsprinzip.

Mit je über 350 Aufträgen erhielten allein fünf Gutachterstellen 43 Prozent aller polydisziplinären Aufträge. 15 Stellen erhielten zwischen 100 und 300 Aufträge, 11 Stellen weniger als 100.

Im Jahr 2022 wurden 1354 bidisziplinäre Gutachtensaufträge an 22 Gutachterstellen vergeben, die über einen Vertrag mit dem BSV verfügen. Zwei Zentren erhielten über 250 Aufträge: BEM Riviera, Montreux, und Swiss Expertises Médicales, Aigle. Die anderen Gutachterstellen erhielten je um die hundert oder weniger. Auch hier hatten die auf der Plattform zur Verfügung gestellten Kapazitäten einen Einfluss auf die Anzahl der nach dem Zufallsprinzip erteilten Aufträge.

Gerichte stützen Gutachten mehrheitlich

Bei drei Viertel der bidisziplinären Gutachten, die Gegenstand eines Gerichtsentscheids waren, wurde den Gutachten Beweiskraft beigemessen (siehe Grafik 5). Bei den mono- und polydisziplinären Gutachten fiel dieser Anteil leicht tiefer aus, wobei es grosse kantonale Unterschiede gibt.

Die Gesamtvergütungen für Sachverständige, Zweierteams und Gutachterstellen beliefen sich 2022 auf über 87 Millionen Franken (siehe Grafik 6). 62 Prozent dieser Kosten entfielen dabei auf polydisziplinäre Gutachten. Drei Viertel der Vergütungen für Gutachten wurden an bi- und polydisziplinäre Gutachterstellen bezahlt. Zu beachten gilt: Während für die mono- und bidisziplinären Gutachten der Tarmed als Grundlage für die Vergütung dient, werden polydisziplinäre Gutachten nach einem speziellen Tarif abgerechnet (vgl. medizinische Gutachten in der IV).

Ein erster Schritt ist getan

Anlässlich der erstmaligen Veröffentlichung der Liste über die Vergabe der medizinischen Gutachten erfassten die IV-Stellen während des Jahres 2022 die Daten zu ihren Sachverständigen manuell. Parallel dazu wurde eine IT-Lösung für eine zentrale Datenerfassung entwickelt. Diese soll künftig die Datenerfassung vereinfachen, das Fehlerrisiko reduzieren, die Datenüberprüfung automatisieren und die Qualität der Angaben für öffentliche Listen verbessern – namentlich in Bezug auf die Gerichtsentscheide.

Diese verbesserte Datenlage wird in den nächsten Jahren genauere statistische Auswertungen und Jahresvergleiche ermöglichen.

Stv. Leiterin Verfahren und Rente, Invalidenversicherung, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Datengrundlagen und Analysen, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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