Medizinische Begutachtung: Qualität anhand von Indikatoren messen

Die Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung hat sechs Qualitätsindikatoren entwickelt. Diese geben Hinweise auf die Qualität der Gutachten.
Roman Schleifer, Markus Braun, Michael Liebrenz
  |  23. Januar 2024
    MeinungRecht und Politik
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Die Begutachtung muss medizinischen Standards entsprechen, um die Prozessqualität zu gewährleisten. (Alamy)

Auf einen Blick

  • Sechs Indikatoren dienen der Eidgenössischen Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung (EKQMB) als Anhaltspunkte für die Qualitätsmessung.
  • Ein Qualitätsindikator ist eine Messgrösse, die zur Überwachung und zur Identifizierung potenzieller Problembereiche dienen kann; der Indikator erlaubt jedoch keine endgültigen Schlussfolgerungen.
  • Nachdem die EKQMB Indikatoren definiert hat, wird sie Anfang 2024 Kriterien zur Messung der einzelnen Indikatoren festlegen.

In den Sozialversicherungen spielt die medizinische Begutachtung eine zentrale Rolle. Allein innerhalb der Invalidenversicherung wurden im Jahr 2022 über 11 000 externe medizinische Gutachten erstellt (BSV 2023). Die Qualität dieser Gutachten ist in den letzten Jahren immer stärker in den Fokus gerückt.

Kritiker monieren insbesondere die grosse Streubreite bei der Beurteilung einzelner Fälle, die teils geringe Übereinstimmung zwischen verschiedenen Gutachtern sowie mangelnde Kontrollen hinsichtlich der Einhaltung von Qualitätsstandards (Müller et al. 2020). Dennoch gibt es auch positive Entwicklungen: Die Einführung von Begutachtungsleitlinien durch die Swiss Insurance Medicine (SIM) und zahlreiche Fachgesellschaften, die vom BSV vorgegebene verbindliche Struktur von Gutachten, klare Qualifikationsanforderungen an Gutachter (Art. 7m ATSV) und die Möglichkeit von Tonaufnahmen (Art. 44, Abs. 6 ATSG) fördern die Qualität.

Im Jahr 2022 hat zudem die vom Bundesrat ernannte Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung (EKQMB) ihre Tätigkeit aufgenommen (siehe Kasten). Eine Kernaufgabe der Kommission ist es, transparente Kriterien zur Beurteilung der Qualität von medizinischen Begutachtungen zu formulieren. Indem die Kriterien für die breite Öffentlichkeit und für die Rechtsanwender verständlich und nachvollziehbar sind, wird das Vertrauen in die Qualität der medizinischen Begutachtung gefördert.

Die EKQMB

Im Rahmen der Weiterentwicklung der Invalidenversicherung hat der Bundesrat Ende 2021 die Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung (EKQMB) geschaffen. Sie spricht öffentliche Empfehlungen zur Erstellung von Gutachten aus und überwacht deren Einhaltung (Art. 44, Abs. 7 c ATSG).

Die Kommission besteht aus einem Präsidenten und zwölf Mitgliedern. Sie vertritt die unterschiedlichsten Akteure – von Sozialversicherungen und Gutachterstellen über Ärzte und Neuropsychologen bis hin zu Vertretern der Wissenschaft, Patienten- und Behindertenorganisationen. Als ausserparlamentarische Verwaltungskommission ist die EKQMB nicht weisungsgebunden und unabhängig (insbesondere vom Bundesamt für Sozialversicherungen, das den korrekten Vollzug der Invalidenversicherung überwacht).

Wie misst man Qualität?

Breits kurz nach ihrer Gründung befasste sich die EKQMB intensiv mit der Qualitätsmessung. Sie setzte eine Arbeitsgruppe ein, die Qualitätsindikatoren für die medizinische Begutachtung erarbeitet hat. Qualitätsindikatoren sind «Messinstrumente» zum Monitoring und zur Bewertung der Qualität medizinischer Gutachten. Sie dienen dazu, die Aufmerksamkeit auf potenzielle Problembereiche zu lenken, die einer vertieften Überprüfung bedürfen. Die Qualitätsindikatoren sollen die Qualität der Begutachtung verbessern, sie für die Öffentlichkeit transparent machen und den Qualitätsdialog der Auftraggeber mit den Gutachterstellen sowie den Sachverständigen fördern.

Da die Qualität nicht direkt messbar ist, muss diese mithilfe von zuvor definierten messbaren Anforderungen überprüft werden (Blumenstock 2011). Eine wichtige Grundlage liefert das Qualitätsmodell von Avedis Donabedian, welches Qualität anhand der drei Dimensionen «Struktur», «Prozess» und «Ergebnis» misst (Donabedian 2005). Die Strukturqualität bezieht sich auf die Rahmenbedingungen der Begutachtung, einschliesslich der Qualifikation der Gutachter. Die Prozessqualität betrachtet den eigentlichen Begutachtungsprozess, wobei Aspekte wie methodische Vorgehensweise, Einhaltung von Standards und interdisziplinäre Zusammenarbeit relevant sind. Schliesslich bezieht sich die Ergebnisqualität auf das Endergebnis der Begutachtung, einschliesslich der fachlichen Richtigkeit sowie der rechtlichen Verwertbarkeit.

Sechs Qualitätsindikatoren

Ausgehend vom beschriebenen Modell hat die EKQMB insgesamt sechs Qualitätsindikatoren erarbeitet. Als Auswahlkriterien dienten ihr dabei die Wichtigkeit des Indikators, die Beeinflussbarkeit durch die Gutachterinnen und Gutachter, die Messbarkeit, die wissenschaftliche Evidenz und die Verständlichkeit für die Öffentlichkeit (MacLean et al. 2018).

Drei Qualitätsindikatoren beziehen sich auf die Art und Weise, wie die medizinische Untersuchung durchgeführt wird und wie die Gutachten erstellt werden. Die drei weiteren konzentrieren sich auf die Ergebnisse der Begutachtung: Sie untersuchen, wie genau und zuverlässig die Beurteilungen des Gesundheitszustands oder der Arbeitsfähigkeit einer Person sind. Im Folgenden werden die sechs Qualitätsindikatoren vorgestellt:

#1 Kurze Bearbeitungsfristen

Ein Gutachtenbericht muss möglichst zeitnah nach der medizinischen Untersuchung erstellt werden. Längere Wartezeiten können Unsicherheiten verursachen, und Details können mit der Zeit in der Erinnerung verschwimmen – was die Qualität des Berichts zu beeinflussen droht. Auch die Situation der untersuchten Person kann sich ändern und so die Vollständigkeit des Gutachtens verringern. Der erste Qualitätsindikator misst deshalb, ob Gutachten innerhalb von 100 Tagen nach dem Untersuchungstermin erstellt wurden. Bei bi- und polydisziplinären Gutachten wird der Durchschnitt der Bearbeitungsdauer der Teilgutachten berechnet.

#2 Angemessene Dauer des Untersuchungsgesprächs

Der zweite Indikator erfasst, ob die Dauer der Untersuchung in einem angemessenen Verhältnis zur Komplexität des Falles steht. Dabei sollte die Länge des Untersuchungsgesprächs der Schwierigkeit und dem Umfang der zu besprechenden Themen entsprechen. Bei besonders komplexen Fällen ist es notwendig, das Gespräch zu verlängern oder sogar mehrere Gespräche zu führen. Ein zu kurzes Gespräch könnte bedeuten, dass nicht alle wichtigen Informationen erhoben wurden, was zu einer unvollständigen oder ungenauen Bewertung führen kann.

#3 Einen fairen Ablauf gewährleisten

Der dritte Qualitätsindikator prüft, ob ethische Grundprinzipien des Begutachtungsgesprächs beachtet wurden. Dazu gehört, dass die Gutachterinnen und Gutachter den Ablauf der Prüfung klar und verständlich erklären. Sie müssen dabei die zu untersuchende Person freundlich und respektvoll behandeln. Dennoch sollen sie alle Fragen stellen, die gestellt werden müssen, auch wenn sie für die zu untersuchende Person unangenehm sind. Der zu untersuchenden Person soll jedoch genügend Zeit eingeräumt werden, damit sie über ihre Probleme und Erfahrungen sprechen kann.

# 4 Diskrepanzen zu Vorberichten begründen

Werden in einem Gutachten die relevanten medizinischen, beruflichen und Eingliederungsberichte nachvollziehbar diskutiert? Dies misst der vierte Indikator. Stimmt das aktuelle Gutachten in Bezug auf Diagnosen und Arbeitsfähigkeit nicht mit früheren Beurteilungen überein, muss die Gutachterin oder der Gutachter diese Widersprüche klar und nachvollziehbar begründen. Eine fehlende Klärung von Diskrepanzen kann zu einer falschen Beurteilung der Arbeitsfähigkeit führen. Eine klare und nachvollziehbare Begründung sorgt für Fairness und Transparenz im Begutachtungsprozess und beugt möglichen Missverständnissen oder Fehlentscheidungen vor. Dies fördert die Akzeptanz des Ergebnisses.

#5 Ressourcen, Belastungen und Funktionseinschränkungen berücksichtigen

Der fünfte Indikator erfasst, ob sowohl die Ressourcen als auch die Belastungen und Funktionseinschränkungen der begutachteten Person im Rahmen der Begutachtung berücksichtigt und nachvollziehbar diskutiert werden. So sind bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit alle relevanten physischen und psychischen Gegebenheiten sowie die Persönlichkeit und die relevanten Umweltfaktoren einer Person zu berücksichtigen. Dazu gehören ihre Stärken und Fähigkeiten (Ressourcen) ebenso wie die persönlichkeitsbedingten Funktionseinschränkungen und die Herausforderungen sowie Belastungen, denen sie im Arbeitskontext begegnen kann.

#6 Konsistenz und Plausibilität begründen

Der sechste Indikator schliesslich erfasst, ob Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung vorgenommen und im Gutachtenbericht nachvollziehbar begründet wurden: Die Gutachterinnen und Gutachter müssen bei ihrer Beurteilung die Informationen aus den Vorakten, die Angaben der versicherten Person, die Beschwerden und die Befunde berücksichtigen. Bei der Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung wird untersucht, ob die medizinischen Informationen stimmig sind, ob die berichteten Symptome mit den Untersuchungsergebnissen und den erfolgten Therapien übereinstimmen. Wenn bestimmte Informationen widersprüchlich sind oder nicht logisch erscheinen, muss geklärt werden, worauf dies zurückzuführen ist. Es ist möglich, dass solche Widersprüche krankheitsbedingt sind oder andere Ursachen haben. Mögliche Widersprüche sind im Gutachten anhand konkreter Beispiele zu dokumentieren und zu diskutieren.

Messung mit Peer-Reviews geplant

Während die Indikatoren klar definiert sind, ist noch nicht abschliessend geregelt, wie gemessen werden soll. Diese «Operationalisierung» der Indikatoren will die EKQMB im Laufe des Jahres 2024 vornehmen.

Bei fünf der sechs Indikatoren wird die Operationalisierung in Form von sogenannten Prüffragen im Rahmen eines Peer-Review-Verfahrens erfolgen. Sprich: Unabhängige Fachexperten sollen die Gutachten anhand von Stichproben prüfen. Die EKQMB hat im Jahr 2023 eine Pilotstudie zur Anwendung des Peer-Review-Verfahrens durchgeführt und wird in den nächsten Monaten die Prüfungsfragen veröffentlichen. Sobald die Grundlagen für das Peer-Review-Verfahren veröffentlicht sind, kann die EKQMB mit der Messung der fünf entsprechenden Indikatoren beginnen. Dies dürfte frühestens in der zweiten Jahreshälfte 2024 der Fall sein.

Eine Ausnahme bildet der dritte Indikator, der den fairen Ablauf im Fokus hat. Hier plant die Kommission zur Validierung eine Versichertenbefragung anhand eines Fragebogens zum Erleben der Begutachtungssituation (siehe Gutachten von Muschalla et al. 2023). Nach Durchführung und Auswertung der ersten Erhebung soll dieser Indikator weiter präzisiert werden. Über das weitere Vorgehen wird die EKQMB im Verlauf des Jahres 2024 entscheiden.

Es ist denkbar, dass die EKQMB als Ergebnis der durchgeführten Evaluationen, beziehungsweise der Identifizierung von häufigen Fehlerpunkten, weitere Qualitätsindikatoren formulieren wird. Umgekehrt können einige Indikatoren aufgrund nachhaltiger Qualitätsverbesserungen an Bedeutung verlieren.

Ein Meilenstein in der Qualitätssicherung

Die von der EKQMB vorgelegten Qualitätsindikatoren stellen einen wichtigen Schritt hin zu einer zuverlässigeren und effizienteren medizinischen Begutachtung in den Sozialversicherungen dar. Ihre Umsetzung fördert die Einhaltung von Mindeststandards und ethischen Richtlinien im Begutachtungsprozess. Dies erhöht die Transparenz.

Sie bieten nicht nur eine Grundlage für die Qualitätssicherung innerhalb der Gutachterstellen, sondern sollen zukünftig auch externe Vergleiche ermöglichen, also den qualitativen Vergleich von Gutachtern und Gutachterinnen oder Gutachterstellen. Bei Abweichungen von den festgelegten Indikatoren kann ein Prozess initiiert werden, der auf eine konstruktive Auseinandersetzung und Verbesserung abzielt.

Gleichzeitig ist es wichtig zu betonen: Die Qualitätsindikatoren dienen als Ausgangspunkt, um die Qualität der Begutachtung kontinuierlich zu steigern und Qualitätsstandards zu etablieren. Sie liefern nur Anhaltspunkte für die Einhaltung der Qualitätsvorgaben. Selbstverständlich gehen für die EKQMB die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften beziehungsweise die Vorgaben des BSV für die Erstellung von sozialversicherungsrechtlichen Gutachten vor.

Die Qualitätsindikatoren können die Qualität der Begutachtung zwar unterstützen, aber nicht garantieren. Eine zu starke Fokussierung auf diese Indikatoren birgt zudem die Gefahr, den Einzelfall und andere wichtige Qualitätsaspekte zu vernachlässigen.

Literaturverzeichnis

Blumenstock, Gunnar (2011). Zur Qualität von Qualitätsindikatoren. Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz, 54(2), 154–159.

BSV (2023). Öffentliche Liste über beauftragte Sachverständige und Gutachterstellen in der Invalidenversicherung – 2022. 3. Juli.

Donabedian Avedis (2005). Evaluating the Quality of Medical Care. The Milbank Quarterly, 83(4):691–729.

MacLean, Catherine H.; Kerr, Eve A.; Qaseem, Amir (2018). Time out—charting a path for improving performance measurement. New England Journal of Medicine, 378(19), 1757–1761.

Müller Franziska; Liebrenz, Michael; Schleifer Roman; Schwenkel Christof; Balthasar Andreas (2020). Evaluation der medizinischen Begutachtung in der Invalidenversicherung. Bericht zuhanden des Generalsekretariats des Eidgenössischen Departements des Innern EDI. 10. August.

Muschalla, Beate; Fischer, Felix; Meier-Credner, Anne; Linden, Michael (2023). Nutzen von Probandenbefragungen für die Qualitätssicherung in der (versicherungs-) medizinischen Begutachtung und speziell in Bezug auf die Fairness bzw. Zufriedenheit mit dem Begutachtungsablauf.

Die Autoren danken Maria Cerletti, Isabelle Gabellon, Josef Grab, Andreas R. Gantenbein, Claudia Pascali, Boris Petermann und Marc Zürcher für ihre Inputs.

Dr. med., Leiter Fachstelle EKQMB
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Dr. phil., Mitarbeiter Fachstelle EKQMB
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Prof. Dr. med., Präsident EKQMB, ausserordentlicher Professor für Forensische Psychiatrie der Universität Bern
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