Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: Je früher handeln, desto besser

Immer mehr Kinder und Jugendliche berichten, dass sie sich psychisch belastet fühlen. Die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen empfiehlt unter anderem, Prävention und Früherkennung zu verstärken.
Annina Grob
  |  04. Juli 2024
    Meinung
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Die unmittelbare sowie die gesamtgesellschaftliche Umwelt beeinflussen die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. (Keystone)

Auf einen Blick

  • Die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ) hat in einem Positionspapier Empfehlungen zur nachhaltigen Förderung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen erarbeitet.
  • Nebst der Verbesserung der Datenlage und einem langfristigen Monitoring braucht es auch strukturelle Massnahmen, die bei den Lebensbedingungen und bei der Diskriminierung ansetzen.
  • Ausserdem empfiehlt die EKKJ Massnahmen zur Verbesserung des Angebots in den Bereichen Prävention, Früherkennung und Frühintervention sowie in der Versorgung.

Medienberichte, Zahlen der Nutzung von Notrufnummern wie die 147 und auch wissenschaftliche Daten zeigen auf, dass Kinder und Jugendliche sich psychisch stark belastet fühlen: Weltweit leiden zwischen 13 und 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen an psychischen Problemen (Polanczyk et al. 2015; WHO 2017; Sacco et al. 2022). Bereits vor der Covid-Pandemie zeichnete sich ab, dass sich Kinder und Jugendliche stärker belastet fühlen als frühere Generationen (Mojtabai et al., 2016).

Junge Menschen sind im Zusammenhang mit ihrer neurobiologischen Entwicklung besonders anfällig für psychische Probleme (Parker et al. 2020). Aber nicht alle Kinder und Jugendlichen haben die gleichen Risiken: Umfeldbezogene und soziale Faktoren wie Diskriminierungserfahrungen aber auch Genderaspekte – Frauen sind öfters betroffen –spielen eine Rolle bei der Entstehung und Entwicklung psychischer Probleme.

Daten zur Versorgungssituation zeigen zudem auf, dass in der Schweiz eine Versorgungslücke besteht. So erhält nur ein kleiner Teil der betroffenen Personen Unterstützung bei psychischen Problemen (Weisz et al. 2017).

Für diese Versorgungslücke gibt es zwei Erklärungsansätze: Auf individueller Ebene kann das Hilfesuchverhalten bei jungen Menschen sehr unterschiedlich sein und wird von geringer Gesundheitskompetenz, Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen negativ beeinflusst. Auf der Ebene des Gesundheitssystems gibt es weitere Barrieren wie zum Beispiel ein Fachkräftemangel im Bereich der Versorgung (Burla et al. 2023), oder ein Mangel an bedürfnisgerechten, skalierbaren alternativen Behandlungsmodellen wie digitalen Interventionen oder peerbasierten Ansätzen. Zudem kann der Umfang der Kostenübernahme durch die obligatorische Krankenversicherung (KVG) das Hilfesuchverhalten beeinflussen.

Unterschiedliche Betroffenheit  

Nicht alle Kinder und Jugendlichen sind gleich «gut» gewappnet für den Umgang mit psychischen Problemen. Umweltbezogene Faktoren beeinflussen den Zustand der psychischen Gesundheit in gewichtiger Weise. Studienergebnisse zeigen, dass der sozioökonomische Status, also beispielsweise die Höhe des Haushaltseinkommens, eine wichtige Rolle spielt. Ein höherer sozioökonomischer Status verringert tendenziell den Schweregrad der Symptomatik und das Risiko, überhaupt erst zu erkranken (Lund et al. 2010 und 2018; Reiss 2013; Peverill et al. 2021; Alegria et al. 2023). Damit geht auch einher, dass finanzielle Unsicherheiten, Arbeitslosigkeit oder unzureichende Arbeitsbedingungen die psychische Gesundheit negativ beeinflussen können (Li et al. 2023; Peter et al. 2023).

Ein weiterer Faktor ist der Bildungsstand: Personen mit einem tieferen Schulabschluss weisen mehr psychische Probleme auf als Personen mit einem höheren Schulabschluss (Alegria et al. 2023; Luo et al. 2023). Hinzu kommt, dass sich ihr Hilfesuchverhalten unterscheidet (Peter et al. 2023).

Darüber hinaus fallen auch die sozialen Beziehungen ins Gewicht: Kinder und Jugendliche, die unter herausfordernden Umständen – wie etwa Gewalterfahrungen, Konflikten zwischen den Eltern, Mobbing, Diskriminierung oder Fluchterfahrungen – aufwachsen, weisen ein erhöhtes Risiko für psychische Probleme auf. Ein zusätzlicher Faktor ist die direkte Umwelt: Lärm, Schadstoffbelastung, unsichere Nachbarschaft wirken sich ebenfalls negativ auf die psychische Gesundheit aus.

Praktische Empfehlungen

Aufbauend auf diesen Erkenntnissen hat die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ) im März 2024 in einem Positionspapier Empfehlungen formuliert. Diese sind das Resultat eines zweijährigen Prozesses, bei dem EKKJ-Mitglieder mit interdisziplinärer Expertise mitgewirkt haben. Die Kommission orientierte sich dabei am inhaltlich breiten Verständnis der psychischen Gesundheit der WHO (WHO 2001, 2022).

Die Empfehlungen bezwecken, das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmass an Gesundheit zu verwirklichen, so wie dies in Artikel 24 der Kinderrechtskonvention festgehalten ist. Sie sind auf vier Ebenen angesiedelt, wobei die Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen stets eine zentrale Rolle spielen muss.

Datenlage und Monitoring

Die erste Ebene betrifft die Datenlage und darauf aufbauend das Monitoring. Damit Entwicklungen im Bereich der psychischen Gesundheit aufgezeigt und Herausforderungen identifiziert werden können, sind ausreichend detaillierte und konstante Daten notwendig. Die EKKJ sieht quantitatives sowie qualitatives Potenzial für die Weiterentwicklung der Datenlage in diesem Bereich.

Ein Monitoring muss Kinder ab dem Vorschulalter erfassen, langfristig angelegt und standardisiert sein und sowohl Ist-Zustand als auch Veränderungen abbilden. Es muss auch Auskunft geben können über Einflussfaktoren wie Gender, Armut, Migrationserfahrung oder sexuelle Orientierung. Darüber hinaus ist ein Monitoring des Versorgungssystems an sich erforderlich, um das Angebot an den Bedarf anzupassen.

Strukturelle Massnahmen und Determinanten

Die zweite Ebene ist struktureller und gesellschaftlicher Natur: Die unmittelbare sowie die gesamtgesellschaftliche Umwelt beeinflussen die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen direkt. Zentral aus Sicht der EKKJ ist die Stärkung der Partizipation von Kindern und Jugendlichen. Wenn sie ihre Umwelt mitgestalten und ihre Meinung äussern können, steigert dies ihr Wohlbefinden. Sie brauchen mehr Gelegenheiten für Teilhabe, zum Beispiel durch die Förderung von Freizeitaktivitäten oder Quartiernetzwerken. Gewalt, Mobbing und Diskriminierung in Familie, Schule und Sozialraum müssen verhindert werden, um ein gesundes Umfeld zu schaffen.

Dem Staat kommt auf der strukturellen Ebene eine zentrale Rolle zu: So kann er Armutsbekämpfungsmassnahmen ergreifen oder Klimaschutzmassnahmen, damit Kinder und Jugendliche in einer gesunden und nachhaltigen Umwelt aufwachsen können. Weiter appelliert die EKKJ an Behörden, Politik und die Medien, Informationen über angstauslösende Themen kindgerecht und über geeignete Kanäle zu übermitteln. Wichtig ist auch, die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen weiter zu stärken, damit sie sich beispielsweise keine verzerrte Selbstwahrnehmung durch Social Media bilden. Im Sinne des Abbaus von Leistungsdruck empfiehlt die EKKJ, dass freies Spielen und unverplante Zeit wieder mehr Raum haben muss, im schulischen wie auch im ausserschulischen Bereich.

Prävention, Früherkennung und Frühintervention

Das dritte Empfehlungspaket fokussiert auf Prävention, Früherkennung und Frühintervention. Hier sieht die EKKJ Bedarf für ein verbessertes Angebot an niederschwelligen, gestuften und systematisierten Sensibilisierungsmassnahmen. Diese sollten ab der frühen Kindheit bestehen – je früher eine Massnahme durchgeführt wird, umso wirksamer ist sie.

Ergänzend zu den Präventionsprogrammen braucht es Angebote zur Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen und Freiwilligen im schulischen und ausserschulischen Bereich, damit psychische Schwierigkeiten erkannt und Angebote vermittelt werden können. Leicht zugängliche Frühinterventionsangebote können verhindern, dass sich Probleme verschlimmern.

Der Schule kommt aufgrund ihres Zugangs zu allen Kindern und Jugendlichen eine besondere Rolle zu. Es braucht Programme zur Förderung eines guten Schulklimas, zur Stärkung von Lebenskompetenzen oder im Bereich der Mobbing- und Suizidprävention. Ein Fokus muss auf besonders vulnerable Kinder und Jugendliche mit gezielten Präventionsmassnahmen und niederschwelligen Angeboten gelegt werden. Zudem muss der Stigmatisierung von psychischen Problemen entgegenwirkt werden.

Versorgung ausweiten

Schlussendlich empfiehlt die EKKJ, die Angebote im Bereich der Versorgung auszuweiten und zu diversifizieren. Damit das Angebot an Leistungen im ambulanten wie auch im stationären Bereich die Nachfrage erfüllen kann, braucht es mehr Ressourcen und mehr Personal. Gleichzeitig sieht die EKKJ Potenzial bei der Information über bestehende Angebote sowie einen einfacheren Zugang, beispielsweise mittels innovativer und alternativer Behandlungsmethoden wie digitaler Interventionen oder peerbasierter Ansätze.

Aus Sicht der EKKJ müssen die Angebote besser auf die Bedürfnisse der betroffenen Kinder und Jugendlichen abgestimmt sein. Die aufsuchende Jugendarbeit könnte vermehrt eine wichtige Rolle spielen. Auch die Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der Ausgestaltung von Angeboten für die psychische Gesundheit kann helfen, wirksamere Hilfestellungen anzubieten.

Nun geht es darum, diese Empfehlungen den Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern zu unterbreiten und aufzuzeigen, wie die Hebel für gestärkte und psychisch gesunde Kinder und Jugendliche wirksam und nachhaltig angesetzt werden können. Denn es geht um nichts weniger als die Zukunft unserer Gesellschaft und die Verwirklichung der Kinderrechte.

Literaturverzeichnis

Alegría, M.; Alvarez; K., Cheng, M.; Falgas-Bague, I. (2023). Recent Advances on Social Determinants of Mental Health: Looking Fast Forward. The American Journal of Psychiatry, 180(7), 473–482.

Burla, L.; Widmer, M.; Haldimann, L.; Zeltner, C. (2023). Zukünftiger Bestand und Bedarf an Fachärztinnen und -ärzten in der Schweiz. Teil 2: Total der Fachgebiete, Gynäkologie und Geburtshilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Ophthalmologie sowie Kardiologie. (Obsan Bericht 05/2023).

Dalsgaard, S. et al. (2020). Incidence Rates and Cumulative Incidences of the Full Spectrum of Diagnosed Mental Disorders in Childhood and Adolescence. JAMA psychiatry, 77(2), 155–164.

Li, K.; Lorgelly, P.; Jasim, S.; Morris, T.; Gomes, M. (2023). Does a working day keep the doctor away? A critical review of the impact of unemployment and job insecurity on health and social care utilisation. The European Journal of Health Economics, 24(2), 179–186.

Lund, C. et al. (2010). Poverty and common mental disorders in low and middle income countries: A systematic review. Social Science & Medicine (1982), 71(3), 517–528. a

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Luo, J.; van Grieken, A.; Kruizinga, I.; Raat, H. (2023). Longitudinal associations between socioeconomic status and psychosocial problems in preschool children. European Child & Adolescent Psychiatry,

Mojtabai, R.; Olfson, M.; Han, B. (2016). National Trends in the Prevalence and Treatment of Depression in Adolescents and Young Adults. Pediatrics, 138(6).

Parker, N. et al. (2020). Assessment of Neurobiological Mechanisms of Cortical Thinning During Childhood and Adolescence and Their Implications for Psychiatric Disorders. JAMA Psychiatry, 77(11), 1127–1136.

Peter, C.; Tuch, A.; Schuler, D. (2023). Psychische Gesundheit – Erhebung Herbst 2022. Wie geht es der Bevölkerung in der Schweiz? Sucht sie sich bei psychischen Problemen Hilfe? (Obsan Bericht 03/2023). Schweizerisches Gesundheitsobservatorium.

Peverill, M. et al. (2021). Socioeconomic status and child psychopathology in the United States: A meta-analysis of population-based studies. Clinical Psychology Review, 83, 101933.

Polanczyk, G. V. et al. (2015). Annual research review: A meta-analysis of the worldwide prevalence of mental disorders in children and adolescents. Journal of child psychology and psychiatry, and allied disciplines, 56(3), 345–365.

Reiss F. (2013). Socioeconomic inequalities and mental health problems in children and adolescents: a systematic review. Social Science & Medicine (1982), 90, 24–31.

Sacco, R. et al. (2022). A systematic review and meta-analysis on the prevalence of mental disorders among children and adolescents in Europe. European child & adolescent psychiatry, 1–18. Advance online publication.

Weisz, J. R. et al. (2017). What five decades of research tells us about the effects of youth psychological therapy: A multilevel meta-analysis and implications for science and practice. The American psychologist, 72(2), 79–117.

WHO (2001). The World Health Report-Mental Health: New Understanding, New Hope. 

WHO (2022). World health statistics : Monitoring health for the SDGs, Sustainable Development Goals.

Vizepräsidentin Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ)
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