Auf einen Blick
- Das strukturierte Beweisverfahren hat zu ergebnisoffeneren Abklärungen des IV-Rentenanspruchs und zu einer besseren Nachvollziehbarkeit des Rentenentscheids beigetragen.
- Die fachliche Kompetenz der Gutachterstellen, der regionalen ärztlichen Dienste, der IV-Stellen und der Gerichte bleibt weiterhin zentral.
- Dass die Rechtsänderungen die Wahrscheinlichkeit für eine IV-Rente bei psychischen Erkrankungen erhöht haben, ist plausibel, statistisch aber nicht nachweisbar.
Das Bundesgericht hat ab 2015 bei psychischen Erkrankungen schrittweise das strukturierte Beweisverfahren eingeführt. Dieses dient der Invalidenversicherung (IV) dazu, den Anspruch der Versicherten auf eine IV-Rente zu prüfen. Weil die Auswirkungen einer psychischen Erkrankung auf die Arbeitsfähigkeit schwieriger nachweisbar sind als bei somatischen Gebrechen, beurteilen die IV-Stellen die Arbeitsfähigkeit anhand von Indikatoren. Diese umfassen einerseits die Schwere der gesundheitlichen Schädigung, die Persönlichkeit und den sozialen Kontext der versicherten Person und deren Zusammenwirken. Und andererseits betrachten sie das Verhalten der Versicherten im Alltag, in Therapien und während der Eingliederungsbemühungen (sogenannte Konsistenz; siehe BSV 2024: Anhang 1).
Mit dem strukturierten Beweisverfahren liess das Bundesgericht zudem die Prämisse fallen, dass bestimmte psychische Krankheiten gar nicht oder nur ausnahmsweise invalidisierend sein können.
Paradigmenwechsel ab 2015
Zunächst führte das Bundesgericht das strukturierte Beweisverfahren im Jahr 2015 nur bei psychosomatischen Leiden ein (BGE 141 V 281). Davor war die IV bei psychosomatischen Erkrankungen von der Vermutung ausgegangen, dass diese nur ausnahmsweise zur Invalidität führen, weil sie grundsätzlich therapierbar sind (Überwindbarkeitsvermutung). Zwei Jahre später weitete das Bundesgericht das strukturierte Beweisverfahren auf alle psychischen Erkrankungen aus (BGE 143 V 409). Zudem war nun bei leichten bis mittelschweren Depressionen die Therapieresistenz keine zwingende Voraussetzung mehr für die nähere Prüfung eines Rentenanspruchs (BGE 143 V 418).
Im Jahr 2019 anerkannte das Bundesgericht schliesslich, dass es sich auch bei Sucht um ein «krankheitswertiges Geschehen» handle (BGE 145 V 215). Damit kommt seither das strukturierte Beweisverfahren auch bei Suchterkrankungen zum Einsatz. Zuvor war Sucht in der IV nur relevant, wenn sie invalidisierende Krankheiten oder einen Unfall verursachte oder umgekehrt, infolge einer Krankheit entstand.
Wie haben sich diese Rechtsänderungen ausgewirkt? Dieser Frage sind wir in einer Studie im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) nachgegangen (Bolliger et al. 2024). Erstens interessierten die Auswirkungen des strukturierten Beweisverfahrens auf die Arbeitsweise der IV-Stellen bei der Rentenprüfung. Dazu analysierten wir Dokumente der IV-Stellen und führten Leitfadengespräche mit Mitarbeitenden der IV-Stellen, der regionalen ärztlichen Dienste (RAD) sowie mit Rechtsberaterinnen und -beratern versicherter Personen in fünf Kantonen. Zweitens untersuchten wir mittels deskriptiver und multivariater statistischer Analysen, ob es Hinweise darauf gäbe, dass die Rechtsänderungen zu einer erhöhten Zunahme bei den Neurenten geführt hätten.
Bessere Nachvollziehbarkeit
Die Analysen zeigen: Die inhaltliche Herangehensweise der IV-Stellen an die Rentenabklärung hat sich mit dem strukturierten Beweisverfahren spürbar verändert. Die Befragten erleben die Abklärung der Arbeitsfähigkeit als aufwendiger, aber besser strukturiert.
Insgesamt haben die Rechtsänderungen zu ergebnisoffeneren Abklärungen und besser nachvollziehbaren Entscheiden beigetragen. Wenngleich IV-externe Befragte teils eine zu mechanische Anwendung der Indikatoren bemängeln, fällt die IV den Erfahrungen der Befragten zufolge – insbesondere bei Suchterkrankungen, aber auch bei psychosomatischen Erkrankungen und leichten bis mittelschweren Depressionen – insgesamt angemessenere Entscheide als zuvor. Den Grund dafür sehen die Befragten darin, dass der Zugang zur vertieften Rentenprüfung nicht mehr aufgrund der Diagnose ausgeschlossen oder erschwert wird.
Die bei der Einführung des strukturierten Beweisverfahrens erhoffte Annäherung der rechtlichen an die medizinische Perspektive (vgl. etwa Jeger 2015) macht sich somit auch in der täglichen IV-Praxis bemerkbar. Allerdings kritisieren einige Befragte, bei Depressionen gehe der Trend zurück in Richtung Diagnoserechtsprechung – also tendenziell hin zu einem Rentenentscheid allein aufgrund der vorliegenden Diagnose und ohne umfassende Analyse ihrer konkreten Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit im Einzelfall (vgl. auch Jeger 2022).
Fachliche Kompetenz bleibt ausschlaggebend
Auch mit dem strukturierten Beweisverfahren bleibt die Prüfung des Rentenanspruchs bei psychischen Erkrankungen komplex. Damit die notwendigen Informationen vollständig und unverzerrt erhoben, beschrieben und korrekt interpretiert werden, bleibt letztlich die fachliche Kompetenz der Gutachterstellen, der regionalen ärztlichen Dienste, der IV-Stellen und der Gerichte entscheidend.
Als herausfordernd erleben die befragten Akteure den Indikator «Persönlichkeit» (Persönlichkeitsdiagnostik, persönliche Ressourcen). Um das Zusammenwirken von Persönlichkeit und Krankheit sachgerecht zu würdigen, sind qualitativ hochwertige Gutachten besonders wichtig – auch weil die ansonsten verfügbaren Arzt- und Versicherungsberichte diesbezüglich oft lückenhaft sind.
Anspruchsvoll ist auch die Prüfung der Konsistenz. So ist es schwierig, aus den Aktivitäten in anderen Lebensbereichen wie etwa dem Haushalt oder der Freizeit Rückschlüsse auf die Arbeitsfähigkeit zu ziehen. Zudem ist es manchmal nicht einfach zu objektivieren, ob eine ungenügende Teilnahme an einer Therapie oder Eingliederung die Folge eines geringen Leidensdrucks oder Teil des Krankheitsbildes ist.
Sowohl IV-interne als auch IV-externe Befragte erwähnen, dass weiterhin auch individuelle Erfahrungen und Einstellungen der zuständigen Akteure die Abklärung und damit ihr Ergebnis beeinflussen. Als auffälligstes Beispiel wird die Schwelle für die Anerkennung von Sucht als einer Krankheit und die Interpretation ihrer Auswirkungen genannt.
Anstieg ist überproportional
In den Jahren nach der Einführung des strukturierten Beweisverfahrens hat der Anteil der psychisch bedingten Neurenten am Total der Neurenten zugenommen: Er stieg von 42 Prozent im Jahr 2017 auf 49 Prozent im Jahr 2021. Dieser Anstieg ist überproportional – auch wenn man die sich im Zeitverlauf verändernde strukturelle Zusammensetzung der Neurentenbeziehenden hinsichtlich Alter, Geschlecht, Nationalität und Sprachregion berücksichtigt.
Hinter der Verlagerung stehen hauptsächlich Renten aufgrund von psychogenen und milieureaktiven Störungen («Code 646» der Gebrechens- und Leistungsstatistik). Es ist davon auszugehen, dass sich in dieser Kategorie auch viele Personen mit psychosomatischen Erkrankungen und Depressionen finden, also jenen Diagnosen, bei denen das Bundesgericht ab 2015 den Zugang zu einer ergebnisoffenen Rentenprüfung erleichterte. In der statistischen Auswertung konnte dies jedoch nicht gesondert ausgewiesen werden.
Aber auch andere psychische Erkrankungen wie etwa Schizophrenie, manisch-depressives Kranksein oder Psychosen haben zur Zunahme der psychisch bedingten Neurenten beigetragen. Im Vergleich zu den Renten aufgrund von psychogenen und milieureaktiven Störungen ist die Zunahme in dieser Gruppe jedoch weniger ausgeprägt. Sie setzte erst etwas später, ab dem Jahr 2020, ein.
Die überproportionale Zunahme an psychisch bedingten Neurenten erfolgte rund zwei bis vier Jahre nach der Einführung des strukturierten Beweisverfahrens. Besonders ausgeprägt ist der Anstieg bei unter 35-Jährigen, wobei die verstärkte Zunahme bei den Frauen etwas früher stattfand als bei den Männern. Auch in der lateinischen Schweiz setzte der Trend früher ein (ab 2015) als in der Deutschschweiz (ab 2019).
Bessere Aussichten auf IV-Rente?
Es scheint plausibel, dass die untersuchten Rechtsänderungen und die damit verbundene ergebnisoffenere Rentenprüfung seit 2015 die Wahrscheinlichkeit für eine IV-Rente bei psychischen Erkrankungen erhöht haben. Darauf deutet die überproportionale Zunahme der psychischen Neurenten hin. Ein statistischer Nachweis, dass die Zunahme kausal mit den rechtlichen Änderungen in Zusammenhang steht, kann jedoch nicht erbracht werden. Dies, weil in den Daten weder Informationen zur Umsetzung des strukturierten Beweisverfahrens zur Verfügung stehen, noch die im Vordergrund stehenden Rentenzusprachen aufgrund von psychosomatischen Gebrechen und Depressionen verlässlich identifiziert werden können.
Um zukünftig mittels statistischer Analysen präzisere Antworten auf die Frage der Gründe für Veränderungen bei Neurenten wie beispielsweise der Verlagerung von nicht psychisch zu psychisch bedingten Neurenten erhalten zu können, wäre es erforderlich, die bestehenden Lücken in der Datengrundlage systematisch zu identifizieren und gezielt zu schliessen.
Literaturverzeichnis
Bolliger, Christian; Guggisberg, Jürg; Ganzeboom, Madleina; Kaderli, Tabea (2024). Entwicklung der Neurenten in der Invalidenversicherung: gemischte Methode, Sucht- und psychische Erkrankungen. Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 05/24.
BSV (2024). Kreisschreiben über Invalidität und Rente in der Invalidenversicherung (KSIR), Stand 1. Januar 2024, 31. Januar 2024.
Jeger, Jörg (2015). Die neue Rechtsprechung zu psychosomatischen Krankheitsbildern. Eine Stellungnahme aus ärztlicher Sicht. Jusletter, 13. Juli 2015.
Jeger, Jörg (2022). BGE 148 V 49: Ist das Bundesgericht rückfällig geworden? Gedanken aus medizinischer Sicht. Jusletter, 10. Oktober 2022.