Verstärkung der beruflichen Eingliederung

Durch eine konsequente und koordinierte Nutzung aller Instrumente der beruflichen Wieder­eingliederung sollen v. a. junge und psychisch erkrankte Versicherte künftig noch ziel­gerichteter und enger begleitet werden, um dadurch ihre Erwerbsperspektiven zu stärken.
Andrea Lüthi
  |  02. Juni 2017
    Recht und Politik
  • Eingliederung
  • Invalidenversicherung

Die Instrumente der beruflichen (Wieder-)Eingliederung wurden im Rahmen der IV-Revisionen 5 und 6a eingeführt, um die Anzahl der Neurenten zu begrenzen und die Entschuldung der IV einzuleiten. Die 5. Revision führte Instrumente zur Stärkung des Grundsatzes «Eingliederung vor Rente» ein, namentlich die Früherfassung und Frühintervention, die Erweiterung der Integrationsmassnahmen mit der sogenannten sozialberuflichen Rehabilitation und die Verschärfung der Kooperations- und Schadensminderungspflicht der versicherten Personen. Die 6. Revision war darauf ausgerichtet, IV-Rentnerinnen und -Rentner verstärkt ins Erwerbsleben zurückzuführen oder ihre Arbeitskapazitäten zu erhöhen. Mit den bisherigen Eingliederungsmassnahmen ist es zwar grundsätzlich gelungen, die Anzahl der Neurenten zu senken, nicht abgenommen haben aber die Rentenzusprachen an junge Erwachsene aufgrund psychischer Einschränkungen. Die Weiterentwicklung der IV konzentriert sich im Bereich der beruflichen Eingliederung deshalb auf die zwei Zielgruppen Jugendliche und junge psychisch erkrankte Erwachsene (Zielgruppe 2) sowie psychisch erkrankte Versicherte ab 25 bis 64 bzw. 65 Jahren (Zielgruppe 3). Dabei sollen die Betroffenen enger begleitet und betreut und die bestehenden Instrumente konsequenter genutzt und besser aufeinander abgestimmt werden.

Eingliederungsbemühungen in oder zurück in den (ersten) Arbeitsmarkt werden künftig nicht nur nach der noch zu erwartenden Dauer im Erwerbsleben, sondern auch nach dem Alter, dem Entwicklungsstand und den Fähigkeiten einer versicherten Person ausgerichtet (Art. 8 Abs. 1bis und 1ter E-IVG). Denn, je jünger eine Person ist, desto intensiver müssen die Eingliederungsbemühungen der IV sein und entsprechend höher sind ihre Eingliederungschancen. Das Eingliederungspotenzial einer versicherten Person wird stets konsequent und vollständig abgeklärt. Sollte eine Eingliederung – trotz intensiver Bemühungen – aus gesundheitlichen Gründen unmöglich sein, wird die Zusprache einer allfälligen (Teil-)Rente geprüft und je nach Alter und Gesundheitszustand der Person werden kürzere Revisionsfristen zur Überprüfung der Möglichkeit einer Wiedereingliederung aus der Rente zurück in die Erwerbstätigkeit (Art. 8a IVG) angesetzt. Falls es gesundheitlich zumutbar ist, werden entsprechende Massnahmen zur Wiedereingliederung eingeleitet bzw. verfügt. Und auch hier gilt, je jünger eine Person ist und je kürzer die Bezugsdauer der Rente, desto höher sind die Wiedereingliederungschancen.

Zusammenfassend strebt die Weiterentwicklung der IV das Ziel an, die Erwerbsperspektiven der Zielgruppen in teils linear, teils zirkulär verlaufenden Prozessen mit oftmals parallel angelegten Massnahmen der beruflichen Eingliederung zu stärken (vgl. Grafik G1). Die Erwerbsbiografien gefährdeter versicherter Personen sollen stabilisiert und Jugendlichen soll wenn immer möglich der Start ins Erwachsenenleben ohne Rente ermöglicht werden.

Erwerbstätigkeit als Gesundheitsfaktor Bei allen Personen, und bei psychisch Erkrankten im Besonderen, stellt die Erwerbstätigkeit einen wichtigen Gesundheitsfaktor dar, sowohl für die Erhaltung als auch für die Wiederherstellung der psychischen Gesundheit. Daher ist ein frühes und koordiniertes Eingreifen zum Erhalt der Erwerbstätigkeit und zur Wiedereingliederung entscheidend. Gerade bei Versicherten mit psychischen Schwierigkeiten ist der Krankheitsverlauf häufig ein schleichender Prozess, der lange vor Eintritt einer Arbeitsunfähigkeit beginnt und oftmals von psychosozialen Problemen begleitet ist. Bereits früh sollen daher Signale erkannt und Unterstützung angeboten werden, um einer psychischen Erkrankung oder Chronifizierung vorzubeugen.

Bereits heute sind die für die (Wieder-)Eingliederung notwendigen Massnahmen und Instrumente grösstenteils vorhanden. Mit der Weiterentwicklung der IV geht es nun darum, diese in ihrer Ausgestaltung zu optimieren sowie die Koordination der Massnahmen zu stärken und ein intelligentes Zusammenspiel, angepasst an die individuelle Situation der versicherten Person, zu etablieren. Gleichzeitig sollen auch die am Eingliederungsprozess beteiligten IV-externen Akteure (z. B. Arbeitgeber, Ärzteschaft, Fachpersonen aus Schule und Ausbildung, Privat- und Sozialversicherungen usw.) besser eingebunden werden.

Eine tragende Rolle in der Koordination der unterschiedlichen IV-Massnahmen und der beteiligten Akteure spielt die Beratung und Begleitung (Art. 3a und 14quater und 57 E- IVG), welche auf dem Prinzip des Case Managements basiert.

Herzstück der Eingliederung: Beratung und Begleitung Mittelpunkt des IV-Verfahrens ist die versicherte Person. Die Abklärungen und angeordneten Massnahmen und Leistungen müssen sich an ihren Ressourcen, Fähigkeiten und Neigungen ausrichten. Dazu braucht es eine kompetente, zielorientierte und transparente Beratung und Begleitung der versicherten Person und von ausgesuchten Dritten (z. B. Eltern, Fachpersonen aus Schule und Ausbildung, Arbeitgeber, Ärzteschaft).

Die Beratung und Begleitung basiert auf einer systemischen Sichtweise der gesundheitlichen und beruflichen Situation der versicherten Person. Eine solche möglichst ganzheitliche Beurteilung im Sinne einer Standortbestimmung findet zu einem oder mehreren Zeitpunkten im IV-Verfahren statt oder sie flankiert die Eingliederung und wird als ein permanenter Evaluationsprozess verstanden, bei dem die Ziele immer wieder überprüft und allenfalls angepasst werden. Der Rhythmus und die Intensität der Beratung und Begleitung werden entsprechend der individuellen Situation angepasst. Nur so kann zuverlässig eingeschätzt werden, welche Massnahmen zu welchem Zeitpunkt Erfolg versprechend und zielführend sind. Die Beratung und Begleitung dient auch der Koordination der IV-Leistungen und der medizinischen Behandlung. Sie stellt sicher, dass Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der jeweiligen Massnahmen von Beginn an im Auge behalten werden und das Risiko einer Berentung der versicherten Person bereits vor einer allfälligen Rentenprüfung so weit als möglich minimiert wird.

Bei den Eingliederungsbemühungen lässt sich das Eingliederungspotenzial nur so weit ausschöpfen, wie es der Entwicklungsstand und die Fähigkeiten einer jungen Person erlauben. Entsprechend will die IV den «Eingliederungsparcours» für jeden Versicherten individuell zusammenstellen. Es soll sichergestellt werden, dass eine junge versicherte Person zum Zeitpunkt einer allfälligen Rentenprüfung der IV bereits seit Längerem bekannt ist und dem Rentenentscheid vorgelagert bereits eine Vielzahl verschiedener Abklärungen bezüglich geeigneter Eingliederungsmassnahmen unternommen worden sind. Entsprechend ist die eigentliche Rentenprüfung die vorläufig letzte von mehreren «Weichenstellungen» im Leben einer jungen Person. Auf diese Weise wird auch gewährleistet, dass zu diesem Zeitpunkt alle relevanten Informationen zur Abklärung einer Rente der IV bekannt und zugänglich sind.

Wirkungsbereiche und Massnahmen Zur grundsätzlichen Stärkung des Wiedereingliederungsprozesses psychisch erkrankter Erwachsener soll neben der Konsolidierung von Beratung und Begleitung erstens die Früherfassung auf versicherte Personen ausgedehnt werden, die zwar noch nicht arbeitsunfähig, aber von Arbeitsunfähigkeit bedroht sind. Mit dem Ziel, die verbliebene Arbeitsfähigkeit zu fördern und zu verbessern, soll zweitens einer bereits erkrankten Person eine Integrationsmassnahme zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung auch mehrmals in ihrer Erwerbsbiografie zugesprochen werden können, d. h. ihr Lebenszeitkonto für Integrationsmassnahmen zeitlich nicht begrenzt sein. Zudem soll die Ausdehnung der finanziellen Kompensation von bisherigen auf neue Arbeitgeber von der Weisungs- auf Gesetzesstufe gehoben werden. Drittens soll die Möglichkeit geschaffen werden, eine versicherte Person im Anschluss an eine Integrationsmassnahme nicht nur wie bisher in einen Arbeitsversuch, sondern im Personalverleih an einen Arbeitgeber zu vermitteln.

Damit gefährdete, aber eingliederungsfähige junge Versicherte im ersten Arbeitsmarkt Fuss fassen können, ist es wichtig, dass sie den Übergang von der obligatorischen Schule in eine weiterführende Ausbildung – wenn immer möglich – im ersten Arbeitsmarkt absolvieren können. Gelingt ihnen die Integration ins Erwerbsleben nicht oder nur mangelhaft, kann auch ihre soziale Integration stark leiden und die Gefahr ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung ist gross. Die berufliche Integration Jugendlicher (und junger psychisch erkrankter Erwachsener) ist daher nicht nur aus volkswirtschaftlichen Gründen, sondern auch zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts notwendig.

Gerade bei Jugendlichen, die an der Schwelle von der Kindheit ins Erwachsenenalter stehen und durch den Übergang von der Schule in die Ausbildung bzw. ins Erwerbsleben vielfach gefordert sind, kommen Ab- und Unterbrüche einer Massnahme, beispielsweise einer erstmaligen beruflichen Ausbildung (ebA) sowie Neu- und Umorientierungen öfters vor. Gesundheitliche Probleme können diesen Effekt noch verstärken. Daher ist es hier besonders wichtig, dass Eingliederungsmassnahmen wiederholt werden können bzw. dass das Eingliederungsziel regelmässig überprüft und angepasst werden kann (Art. 8 Abs. 1bis und 1ter sowie Art. 57 Abs. 1 Bst. f E-IVG).

Jugendliche, die eine Sonderschule besuchen, sind der IV-Stelle in der Regel bekannt, und die IV bietet ihnen zur Vorbereitung des Ausbildungsantritts Berufsberatungsleistungen an. Hingegen kommen Jugendliche mit einer psychischen Erkrankung vergleichsweise spät mit der IV in Kontakt, da die Diagnose oft erst im Jugendalter, meistens sogar erst zwischen 20 und 25 gestellt wird. Die Betroffenen besuchen meistens die Regelschule und kennen häufig Zäsuren oder einen Abbruch der Berufsbildung. Aufgrund der späten Diagnosestellung setzen psychiatrische Behandlungen meist erst nach dem Ausbildungsabbruch ein. Mit einer angepassten psychotherapeutischen und medikamentösen Therapie sind sie eingliederungsfähig.

Mit den kantonalen Brückenangeboten und dem Case-
Management-Berufsbildung (CMBB) existieren im kantonalen Rahmen wichtige Ansätze zur raschen und koordinierten Unterstützung gefährdeter Jugendlicher. Die IV hat sie als wichtige Instrumente für ein rasches und koordiniertes Handeln zugunsten von Jugendlichen erkannt, die der IV noch nicht bekannt sind. Im Rahmen der Weiterentwicklung will sie sich folglich an den Personalkosten des CMBB beteiligen und die kantonalen Brückenangebote sowie die eingliederungsorientierte Beratung durch Fachpersonen aus Schule und Bildung mitfinanzieren. Die Ausweitung der Früherfassung und der Integrationsmassnahmen auf Jugendliche ab 13 Jahren sollen es der IV erlauben, gefährdete Jugendliche rascher zu erkennen und ihnen bei Ab- und Unterbrüchen die notwendige, an ihren gesundheitlichen Bedürfnissen orientierte Unterstützung bzw. Übergangslösung im Rahmen der Koordination mit den kantonalen Instanzen zu ermöglichen. Damit wird sichergestellt, dass der Übergang von der obligatorischen Schule in eine weiterführende Ausbildung – wenn immer möglich im ersten Arbeitsmarkt – und später in den (ersten) Arbeitsmarkt gelingt.

Um die Chancen eines Ausbildungsabschlusses zu erhöhen, soll die IV die hierfür nötigen medizinischen Eingliederungsmassnahmen fünf Jahre länger, neu bis zum Abschluss bzw. dem vollendeten 25. Lebensjahr übernehmen. Die Arbeitsmarktchancen der Jugendlichen in einer erstmaligen beruflichen Ausbildung (EbA) sollen zudem dauerhaft gestärkt werden, indem im Gesetz festgeschrieben wird, dass diese möglichst im ersten Arbeitsmarkt erfolgt. Das Taggeld für Versicherte in Ausbildung soll neu bereits ab Ausbildungsbeginn bezahlt, seine Höhe jedoch auf den für gesunde Lernende üblichen Lohn gesenkt werden. Mit finanziellen Anreizen sollen Arbeitgeber dazu motiviert werden, entsprechende Ausbildungen anzubieten.

Durch eine konsequente und koordinierte Nutzung aller vorhandenen Instrumente zur zielgerichteten, engen Begleitung und Betreuung der Betroffenen stellt die Weiterentwicklung der IV sicher, dass jungen Erwachsenen und psychisch erkrankten Versicherten nur dann eine Rente zugesprochen wird, wenn ihr Eingliederungspotenzial – auch medizinisch – abschliessend ausgeschöpft worden ist und die Eingliederung aus gesundheitlichen Gründen zum Abklärungszeitpunkt unmöglich ist.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Geschäftsfeld IV, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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