Auf einen Blick
- Eine Studie hat in Bezug auf Finanzhilfen für Leistungen im Bereich der sozialen Eingliederung von Personen mit Behinderung (Art. 74 IVG) die Möglichkeiten der sogenannten Subjektfinanzierung ausgelotet.
- Vorteile der Subjektfinanzierung sind mehr Wahlmöglichkeiten und Selbstbestimmung für Leistungsnutzende sowie die Förderung der Inklusion; hauptsächliche Nachteile liegen in hohen Anforderungen an die Nutzenden sowie bei der Herausforderung für regional ausgeglichene Angebote.
- Die Studie hat vier Varianten zur Subjektfinanzierung ausgearbeitet und deren Kombination mit Elementen der Objektfinanzierung geprüft.
Die Invalidenversicherung (IV) unterstützt die soziale Eingliederung von Menschen mit Behinderungen. Um eine eigenverantwortliche und selbstbestimmte Lebensführung zu fördern, gewährt die IV Finanzhilfen für Beratungen und Kurse, Treffpunkte, begleitetes Wohnen und Vermittlungsdienste. Zudem unterstützt sie Informationen sowie die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit von Fach- und Selbsthilfeorganisationen. Artikel 112 der Bundesverfassung sowie Artikel 74 und 75 des Invalidenversicherungsgesetzes (IVG) bilden die rechtlichen Grundlagen.
Das aktuelle Leistungssystem ist objektfinanziert. Das heisst, das BSV schliesst Verträge mit Dachorganisationen ab, die sprachregional oder schweizweit tätig sind und wiederum mit weiteren Organisationen Unterverträge abschliessen können. Grundsätzlich stehen die Leistungen allen Personen offen, die in den letzten zehn Jahren mindestens eine Massnahme der Invalidenversicherung erhalten haben. Die Leistungen sind grundsätzlich auch für Angehörige und Bezugspersonen zugänglich.
Evaluationen (Bolliger et al. 2016; Baumgartner et al. 2009) bemängeln am aktuellen System: Die Leistungen seien zu wenig bedarfsorientiert und die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen würde zu wenig gefördert. Diese Kritik ist auch im Zusammenhang mit der Finanzierungsform – der Objektfinanzierung – zu sehen.
Das Gegenstück zur Objektfinanzierung ist die Subjektfinanzierung. Diese Finanzierungsform gilt als Mittel zur Förderung der Selbstbestimmung und Inklusion, weil sie die finanziellen Mittel statt an Organisationen an die Nutzenden selbst ausrichtet. Dabei lassen sich vier Modelle unterscheiden (Enste und Stettes 2005): Einkaufsmodell, Gutscheinmodell, Leistungsentgelt und Mischform.
Beim Einkaufsmodell gehen die finanziellen Mittel direkt an die Leistungsberechtigten. Demgegenüber berechtigen beim Gutscheinmodell zweckgebundene Gutscheine zum Leistungsbezug. Beim Leistungsentgelt werden bezogene Leistungen durch die Finanzierungsinstanz direkt vergütet. Die Mischform kombiniert Elemente der Subjekt- und Objektfinanzierung.
Studie prüft Systemwechsel
Wie könnte das aktuelle Leistungssystem in Richtung Subjektfinanzierung umgestaltet werden? Diese Frage war Gegenstand einer Studie (Baumgartner et al. 2023), die im Auftrag des BSV an der Fachhochschule Nordwestschweiz und der Fachhochschule Westschweiz durchgeführt wurde.
In einem ersten Schritt beschreibt die Studie das aktuelle System und bereitet den aktuellen Wissensstand zur Subjektfinanzierung auf. In einem zweiten Schritt werden Praxisbeispiele der Subjektfinanzierung aus dem Behindertenbereich und verwandten Bereichen recherchiert und bewertet. Anschliessend werden ausgewählte Beispiele als Fallstudien genauer betrachtet. Auf diesen Grundlagen werden schliesslich Varianten für die Umgestaltung des aktuellen Leistungssystems entwickelt.
Nicht untersucht wurde, inwiefern eine Umstellung in Richtung Subjektfinanzierung auch einen Wechsel vom aktuellen Subventionscharakter der Finanzhilfen zu einer individuellen Versicherungsleistung und Anpassungen der verfassungsrechtlichen Grundlage bedingt. Die damit verbundenen weitreichenden Folgen waren nicht Teil des Mandates und wurden deshalb in der Studie ausgeklammert.
Bessere Lebensqualität
Die Subjektfinanzierung trägt grundsätzlich zu einer Verbesserung der Lebenssituation beziehungsweise der Lebensqualität der Nutzenden bei und führt zu einer Zunahme der Wahlmöglichkeiten. Dies ist eine zentrale Erkenntnis der Analyse von Literatur und Praxisbeispielen (Fleming et al. 2019). Ob weiterführende Zielsetzungen, wie die Inklusion, erreicht werden, hängt jedoch nicht nur von der Finanzierungsform ab, sondern hat massgeblich mit der Art und dem Inhalt der Leistungen zu tun.
Zur Subjektfinanzierung ist kritisch anzumerken: Sie ist für die Nutzenden mit erhöhten Anforderungen verbunden. Die Nutzenden müssen sich über Angebote informieren und eine Auswahl treffen sowie je nach Modell die finanziellen Mittel verwalten. Nicht alle wollen diesen Aufwand auf sich nehmen oder können ohne Unterstützung die Leistungen selber auswählen.
Mit der Subjektfinanzierung wird es anspruchsvoller, die Versorgung im bisherigen Mass zu gewährleisten, da sie nur über ein ausreichendes Angebot, Förderung individueller Kompetenzen zu dessen Nutzung sowie transparente und hinreichende Informationen zu den Angeboten erreicht wird. Insbesondere in abgelegenen oder ländlichen Regionen könnte eine hinreichende Versorgung problematisch werden, wenn keine Massnahmen ergriffen werden, die die Marktmechanismen abfedern.
Leistungen und Anbietende im Fokus
Ausgangspunkt für eine Umgestaltung in Richtung Subjektfinanzierung sind die aktuellen Vorgaben des Leistungssystems nach Art. 74 IVG. Dazu gehören insbesondere die Regulierungen zu den Anbietenden von Leistungen sowie zu den einzelnen Leistungskategorien: Leistungen können entweder vorgegeben, sprich in einem Leistungskatalog festgelegt, oder dahingehend frei wählbar sein, sofern sie zum Erreichen eines definierten Ziels dienen. Für Anbietende bestehen im aktuellen System unterschiedliche Vorgaben, die je nach Variante übernommen, angepasst oder aufgegeben werden können. Zu diesen Vorgaben zählt, dass sich Organisationen ganz oder in einem wesentlichen Umfang der Behindertenhilfe widmen, eigene finanzielle Mittel beisteuern sowie ein sprachregionales oder nationales Angebot gewährleisten müssen.
Aus der Kombination von steuernden Vorgaben und Freiheiten beziehungsweise Wahlmöglichkeiten, lassen sich für die Subjektfinanzierung vier Varianten ableiten (siehe Grafik).
Vier Varianten der Subjektfinanzierung
Bedarfsniveau und Bedarfsabmessung
Während das aktuelle Leistungssystem auf Bedarfsnachweise durch die leistungserbringenden Organisationen fusst, stellt sich die Frage des individuellen Bedarfs für ein subjektfinanziertes Modell in neuem Licht. Sowohl Bedarfsniveaus als auch eine individuelle Bedarfsbemessung sind Optionen, die sich dafür anbieten. Eine aufwendige individuelle Bedarfsabklärung lohnt sich insbesondere dann, wenn die Umstellung eine ausgeprägt individualisierte Leistungsnutzung erlaubt (Variante 4).
Die Variante 1 ist mit vorgegebenen Leistungskategorien und regulierten Anbietenden am nächsten am aktuellen System. Sie ist dementsprechend mit den geringsten Risiken verbunden, schöpft jedoch das Potenzial der Subjektfinanzierung im Hinblick auf die Ziele Selbstbestimmung und Wahlmöglichkeit nur in beschränktem Masse aus.
Mit einer Öffnung der Leistungskategorien wird in Variante 2 der Weg für neue Leistungsarten geebnet. Diese Öffnung bietet die Chance, dass sich sowohl die Wahlmöglichkeit der Nutzenden als auch die Bedarfsorientierung der Leistungen erhöht. Mit gelockerten Regulierungen für Anbietende werden mit Variante 3 ebenfalls neue Angebote zugänglich, beispielsweise Kurse bei inklusiven Vereinen.
Im Zentrum der Variante 4 steht schliesslich das Erreichen von Wirkungszielen, womit ein hoher Grad an Selbstbestimmung ermöglicht wird. Diese Variante bietet das grösste Potenzial für Inklusion, ist aber für die Nutzenden mit hohen Anforderungen verbunden.
Einzelnen Schwächen dieser Varianten kann eine partielle Objektfinanzierung entgegenwirken. Das Potenzial hierfür ist insbesondere im Hinblick auf die Gewährleistung eines räumlich und inhaltlich breiten Versorgungsangebotes zu sehen. Mittels Objektfinanzierung könnte zudem die Entwicklung von innovativen Angeboten angestossen und ein niederschwelliger, nicht an eine Bedarfsbemessung geknüpfter Zugang bei Treffpunkten weiterhin gewährleistet werden.
Literaturverzeichnis
Baumgartner, Edgar; Uebelhart, Beat; Baur, Roland; Berger, Daniela; von Fellenberg, Monika; Lage, Dorothea; Wegener, Robert (2009). Evaluation der Beiträge an Organisationen in der privaten Behindertenhilfe nach Art. 74 IVG; Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 2/09.
Baumgartner, Edgar; Hübscher, Robin; Oberholzer, Daniel; Widmer, Matthias; Margot-Cattin, Pierre; Froidevaux, Gaël (2023). Subjektfinanzierung Finanzhilfen Art. 74 IVG. Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit, Forschungsbericht Nr. 04/23.
Bolliger, Christian; Rüefli, Christian; Berner, Delia (2016). Bedarfs- und Angebotsanalyse der Dienstleistungen nach Art. 74 IVG; Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 15/16.
Enste, Dominik; Stettes, Oliver (2005). Bildungs- und Sozialpolitik mit Gutscheinen. Zur Ökonomik von Vouchers. Forschungsberichte aus dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Nr. 14.
Fleming, Pádraic; McGilloway, Sinead; Hernon, Marian; Furlong, Mairead; O’Doherty, Siobhain; Keogh, Fiona; Stainton, Tim (2019). Individualized funding interventions to improve health and social care outcomes for people with a disability: A mixed‐methods systematic review. Campbell Systematic Reviews, 15(1-2), 1–77.