Im Heim oder zu Hause wohnen?

Das betreute Wohnen wird mit unterschiedlichen Finanzierungsmodellen gefördert. Die grösste Wahlfreiheit ermöglicht die sogenannte Subjektfinanzierung.
Tobias Fritschi, Franziska Müller, Matthias von Bergen
  |  31. März 2023
    Forschung und Statistik
  • Behinderung
  • Invalidenversicherung
Frühstück in einer Wohngruppe von Menschen mit Behinderung in Appenzell. (Keystone)

Auf einen Blick

  • Kantone, die beim Wohnen von Menschen mit Behinderungen auf die Subjektfinanzierung setzen, übernehmen einen grösseren Kostenanteil im privaten Wohnen als Kantone, die auf die Objektfinanzierung setzen.
  • Aus Sicht von Menschen mit Behinderungen sind für den Wechsel in die private Wohnform der Zugang zu Unterstützungsangeboten, der Umfang der erhaltenen Leistungen, die Haltung der Institutionen, die Art der Behinderung, der Unterstützungsbedarf, die Eigenmotivation, unterstützende Begleitung durch Vertrauenspersonen und bezahlbarer, hindernisfreier Wohnraum ausschlaggebend.
  • Das Subjektfinanzierungsmodell scheint im Kantonsvergleich das private Wohnen am meisten zu fördern.

Was das Wohnen von Menschen mit Behinderungen anbelangt, so lassen sich in der Schweiz – je nach Kanton – drei Finanzierungsmodelle unterscheiden. Erstens gibt es Kantone, die die «Objektfinanzierung» anwenden: Bei diesem Modell werden die Institutionen pauschal für die angebotenen Wohnleistungen entschädigt. Zweitens gibt es Kantone mit einer «subjektorientierten Objektfinanzierung»: Hier findet die Kostenübernahme aufgrund des Bedarfs der Leistungsbeziehenden zuhanden der Institutionen statt. Und drittens verbreitet sich zusehends das Modell der «Subjektfinanzierung»: In diesen Kantonen werden Leistungen gemäss dem individuellen Bedarf finanziert, zudem können Menschen mit Behinderungen die Anbieter wählen.

Die Objektfinanzierung bezieht sich primär auf den institutionellen Bereich. Demgegenüber stellt die Subjektfinanzierung eine für private und institutionelle Wohnformen übergreifend gültige Finanzierungsform dar. Die Invalidenversicherung unterscheidet die beiden Wohnformen anhand mehrerer Elemente. Ein Indikator ist beispielsweise, ob eine Wohnung privat gemietet oder gekauft wird – oder ob sie durch eine Institution bereitgestellt wird (Fritschi et al. 2019). Gemäss der UNO-Behindertenrechtskonvention, die die Schweiz 2014 ratifizierte, soll Menschen mit Behinderungen die freie Wahl der Wohnform ermöglicht werden.

Vier Kantone analysiert

Die Berner Fachhochschule und das Forschungsbüro Interface haben im Auftrag des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB), des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) und der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) untersucht, inwiefern das Finanzierungsmodell eines Kantons die Wahl der Wohnform beeinflusst (Fritschi et al. 2022). Für die Studie wurden die Kantone Basel-Stadt, St. Gallen, Wallis und Zug ausgewählt, da sie unterschiedliche Finanzierungsmodelle aufweisen, und sie sich auch in Bezug auf das Angebot an kantonalen Leistungen der ambulanten Wohnunterstützung unterscheiden: Der Kanton Wallis wendet das Modell der Objektfinanzierung an und stellt punktuell kantonale ambulante Angebote bereit. St. Gallen wiederum praktiziert die subjektorientierte Objektfinanzierung und bietet ebenfalls punktuell ambulante Angebote an. Basel-Stadt schliesslich hat die Subjektfinanzierung eingeführt. Als Spezialfall wurde auch der Kanton Zug betrachtet, da er nebst der Objektfinanzierung Modellprojekte zur Subjektfinanzierung im Bereich des privaten Wohnens durchführt.

Als Datenquellen für die quantitativen Analysen zu Finanzflüssen wurden Individualdaten aus Registern des BSV zu Leistungen der Invalidenversicherung (IV) und zu Einkommen aus der AHV-Statistik verwendet. Die Fallstudienkantone stellten ihrerseits Daten zu kantonalen Leistungen bereit, teilweise in Form von Individualdaten oder in aggregierter Form. Für die qualitativen Analysen zur Frage nach den Beweggründen und Rahmenbedingungen für den Wechsel der Wohnform wurden vier Interviews mit Behindertenorganisationen und 14 Interviews mit Menschen mit Behinderungen durchgeführt. Zur Beschreibung der Grundgesamtheit von Menschen mit Behinderungen wurde die repräsentative Stichprobe SILC (Statistics on Income and Living Conditions) des Bundesamts für Statistik (BFS) verwendet.

Unterschiedliche Kantonsanteile

Besonders grosse Unterschiede zwischen den kantonalen Modellen gibt es bei der Unterstützung der privaten Wohnformen. Grundsätzlich gilt: Je stärker die Subjektorientierung praktiziert wird, desto grösser der Kantonsanteil am privaten Wohnen. Entsprechend ist der Finanzierungsanteil im Kanton Wallis, der das System der Objektfinanzierung kennt, am tiefsten: Der Kanton finanziert knapp einen Viertel der Gesamtausgaben (Kantonsbeitrag, Ergänzungsleistungen für Krankheits- und Behinderungskosten, Kantonsanteil an den periodischen Ergänzungsleistungen, Spitex und kantonale Beihilfen zu den Ergänzungsleistungen) im Bereich des privaten Wohnens (siehe Abbildung 1). Am anderen Ende des Spektrums findet sich der Kanton Basel-Stadt mit einem kantonalen Anteil von einem Drittel. Dazwischen liegen die kantonalen Finanzierungsanteile der Kantone St. Gallen und Zug mit Anteilen von 25 Prozent beziehungsweise 30 Prozent.

Auf Bundesebene sind neben den wohnspezifischen Leistungen der Invalidenversicherung (Hilflosenentschädigung, Assistenzbeitrag, berufliche Massnahmen wie beispielweise Internat und Hilfsmittel) hauptsächlich die Ergänzungsleistungen finanziell relevant. Die IV-Rente wird im Rahmen der Studie als (Ersatz-)Einkommen der Menschen mit Behinderungen betrachtet. Im Bereich des privaten Wohnens liegt der Bundesanteil ohne IV-Rente im Durchschnitt bei rund einem Fünftel. Während der Bundesanteil im Wallis und in St. Gallen nur wenig unter dem Kantonsanteil liegt, ist er in Basel-Stadt und in Zug deutlich (rund ein Drittel) tiefer. Im Durchschnitt tragen Menschen mit Behinderungen die Hälfte der Kosten im Bereich des privaten Wohnens selbst.

Im institutionellen Bereich sind die Unterschiede im Finanzierungsanteil der Kantone etwas geringer: Dieser reicht von zwei Dritteln (St. Gallen) bis zu rund drei Vierteln (Basel-Stadt und Zug, letzterer inkl. Kantonsbeitrag an ausserkantonal Wohnende); dazwischen liegt der Kanton Wallis mit einem Finanzierungsanteil von rund 70 Prozent.

Der Bundesanteil ohne IV-Rente liegt im institutionellen Bereich bei durchschnittlich 10 Prozent. In Kantonen mit höherem kantonalen Finanzierungsanteil tragen die Menschen mit Behinderungen mit 16 Prozent einen etwas geringeren Anteil zur Finanzierung des Wohnens bei gegenüber rund 20 Prozent in Kantonen mit einem geringeren Finanzierungsanteil.

Wechsel der Wohnform

In allen vier Kantonen können Menschen mit Behinderungen die Wohnform wechseln. Laut den befragten Menschen mit Behinderungen hängt diese Option jedoch zu einem guten Teil von den Grundhaltungen respektive Leitbildern der Institutionen, der Art der Behinderung und dem Unterstützungsbedarf ab. Eine wichtige Rolle spielen ihrer Meinung nach auch die Eigenmotivation, die unterstützende Begleitung durch Vertrauenspersonen (Fachpersonen oder Angehörige) sowie eine förderliche Haltung der Institutionen. Entscheidend seien aber letztlich der Zugang zu Unterstützungsangeboten (Assistenzbeitrag der IV, ambulante Wohnbegleitung, Beratungen von Fachstellen) und der Umfang der erhaltenen Leistungen.

Die interviewten Fachpersonen wiederum nennen als wichtige Determinanten für einen gelingenden Wechsel der Wohnform die individuellen Ressourcen der Betroffenen und ihres Umfelds (Angehörige etc.), vorhandene professionelle Angebote für die Unterstützung zuhause sowie Angebote der Institutionen.

Von grundlegender Bedeutung – sowohl aus Sicht der Menschen mit Behinderungen als auch der Fachpersonen – ist, dass es auf dem Wohnungsmarkt bezahlbare, angepasste Wohnungen gibt. Für eine gute Gewährleistung der freien Wahl der Wohnform brauche es «einfache, klare» Lösungen für das private Wohnen (weniger aufwendige Organisation, Sicherstellung von Notsituationen) und mehr Wahlmöglichkeiten (Betreuungspersonen selbst auswählen können, wirksame Suchplattformen für Assistenzen). Angebote, die das private Wohnen ermöglichen, sollten gestärkt werden, beispielsweise durch die Optimierung des Assistenzbeitrags. Insbesondere müssten Überwachungs- und Präsenzleistungen besser abgegolten werden.

Den Aufwand für die Einrichtung eines Assistenzbeitrags nach IVG schätzen die Befragten als recht hoch ein – was gerade für Personen mit kognitiver oder psychischer Behinderung eine grosse Hürde ist. Schliesslich wird eine Stärkung von ambulanten Leistungen für die Wohnbegleitung gefordert, zum Beispiel in Form von begleitenden Fachleistungen oder von Treffpunkten.

Privates Wohnen: Anteil in Basel-Stadt am höchsten

Im Kantonsvergleich liegt der Anteil der kantonalen Finanzierung am privaten Wohnangebot höher, wenn das Modell der Subjektfinanzierung angewendet wird (Basel-Stadt: 33 %) beziehungsweise getestet wird (Zug: 30 %). Dies ist unter anderem auf zusätzliche kantonale Leistungen zurückzuführen. Es gibt vorläufig (noch) keine Anzeichen dafür, dass die Kantone dank der Förderung der privaten Wohnform beim institutionellen Wohnen Kosten sparen können. Allerdings liegt der Systemwechsel in Basel-Stadt noch nicht lange zurück und entfaltet eventuell seine kostensparende Wirkung erst langfristig, und in Zug wurde die Subjektfinanzierung erst im Rahmen eines Modellprojekts durchgeführt. Die verbesserte Kontrolle der Leistungen bei einer Subjektfinanzierung wirkt tendenziell kostensenkend im Verhältnis zur erhaltenen Leistung. Die durchgehend positive Beurteilung der finanziellen Auswirkungen des Wechsels in die eigene Wohnung, insbesondere auch von jenen Personen, die einen Assistenzbeitrag nach IVG erhalten, stützt die Hypothese, dass Subjektfinanzierungsmodelle für Menschen mit Behinderungen finanzielle Verbesserungen bringen.

Zählt man im institutionellen Bereich Personen mit einem Kantonsbeitrag und im privaten Bereich Personen mit einer wohnbezogenen Leistung der IV, so wohnten im Jahr 2020 im Kanton Basel-Stadt (Subjektfinanzierungsmodell) 15 Prozent dieser Gruppe in einem institutionellen Wohnsetting (siehe Abbildung 2). Im Kanton St. Gallen (subjektorientierte Objektfinanzierung) lag der Anteil bei 20 Prozent. Im Kanton Wallis, der im institutionellen Bereich ein Modell der Objektfinanzierung kennt, bei 18 Prozent. Die Zahlen für den Kanton Zug (30 Prozent) sind nicht vergleichbar, da auch Personen in ausserkantonalen Institutionen enthalten sind.

Somit scheint das Subjektfinanzierungsmodell im Kantonsvergleich das private Wohnen am meisten zu fördern. Im Kanton Basel-Stadt (Subjektfinanzierungsmodell) ist der Anteil Menschen mit Behinderungen, die in einem institutionellen Setting wohnen, geringer als in Kantonen mit subjektorientierter Objektfinanzierung oder Objektfinanzierung. In diesem Kanton scheinen die Entscheidungsmöglichkeiten zum Wechsel der Wohnform am stärksten ausgeprägt zu sein.

Literaturverzeichnis

Fritschi, Tobias; von Bergen, Matthias; Müller, Franziska; Bucher, Noëlle; Ostrowski, Gaspard; Kraus, Simonina; Luchsinger, Larissa (2019). Bestandesaufnahme des Wohnangebots für Menschen mit Behinderungen. Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 7/19.

Fritschi, Tobias; von Bergen, Matthias; Müller, Franziska; Lehmann, Olivier; Pfiffner, Roger; Kaufmann, Cornel; Hänggeli, Alissa (2022). Finanzflüsse und Finanzierungsmodelle im Bereich Wohnangebote für Menschen mit Behinderung. Schlussbericht zuhanden des EBGB, des BSV und der SODK, 31. Oktober.

Dozent und Projektleiter, Departement Soziale Arbeit, Berner Fachhochschule
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Bereichsleiterin, Interface – Politikstudien Forschung Beratung
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Dozent und Projektleiter, Berner Fachhochschule, Departement Soziale Arbeit
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