Auf einen Blick
- Public Health Schweiz, die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV), UNICEF Schweiz und Liechtenstein, CIAO und Pro Juventute haben Ende Mai 2023 eine Tagung mit jungen Menschen durchgeführt, um den Ursachen der Zunahme psychischer Probleme bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen nachzugehen und gemeinsam Lösungsansätze zu erarbeiten.
- Schule und Arbeitsintensivierung stellen für viele junge Menschen die grösste Belastung dar; hinzu kommen globale Probleme wie die Corona-Pandemie, die Klimakrise oder Kriege sowie negative Einflüsse der sozialen Medien.
- Die Gespräche an der Tagung zeigten mögliche Lösungsansätze wie die Stärkung von Schutzfaktoren im Kindesalter, die Zusammenarbeit verschiedener Akteure im Präventionsbereich, die Entstigmatisierung psychischer Probleme in der Gesellschaft, die Stärkung niederschwelliger Angebote, die Verbesserung der Datenlage sowie die vermehrte Partizipation junger Menschen auf.
Die psychische Belastung von jungen Menschen in den letzten Jahren hat zugenommen. Gemäss der Swiss Corona Stress Study war damals ein Drittel der 14- bis 24-Jährigen von schweren depressiven Symptomen betroffen. Eine diesjährige Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) kommt für das Jahr 2022 zum Schluss, dass 30 Prozent der jungen Frauen zwischen 15 und 24 Jahren und 15 Prozent der jungen Männer zwischen 15 und 24 Jahren an mittelschweren bis schweren Depressionssymptomen litten.
Und in einer Unicef-Studie von 2021 geben 37 Prozent der 14- bis 19-Jährigen an, von psychischen Problemen betroffen zu sein: Jeder elfte Jugendliche hat schon versucht, sich das Leben zu nehmen. Auch Studien und Zahlen der Beratungsangebote von Pro Juventute zeigen, dass Kinder und Jugendliche stark belastet sind. Das Beratungstelefon 147 führt aktuell pro Tag sieben bis acht Beratungen wegen Suizidgedanken durch. Damit haben sich diese Gespräche im Vergleich zu vor der Pandemie fast verdoppelt.
Doch wo liegen die Ursachen dieser schon länger andauernden Zunahme psychischer Probleme bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen? Wie können junge Menschen bei der Bewältigung von psychischen Herausforderungen unterstützt werden? Und wie lassen sich Risikofaktoren minimieren und Schutzfaktoren maximieren, um der Entstehung psychischer Erkrankungen vorzubeugen?
Um diese Fragen zu beantworten, organisierte Public Health Schweiz Ende Mai 2023 zusammen mit der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV), Unicef Schweiz und Liechtenstein, CIAO und Pro Juventute sowie zentralen Jugendverbänden der Schweiz eine Tagung. Ziel war, nicht über junge Menschen zu reden, sondern mit ihnen. So gestalteten Jugendliche und junge Erwachsene die Tagung von Beginn an massgeblich mit, legten Themenfelder fest, führten Ateliers durch und präsentierten bereits bestehende, erfolgreiche Angebote.
Warum sind immer mehr junge Menschen psychisch krank?
Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiater berichteten an der Tagung, dass gemäss ihren täglichen Erfahrungen schulischer Druck, Prüfungsstress, Berufswahl und Stellensuche für viele junge Menschen die grösste Belastung darstellen. Dazu kommt die in den letzten Jahren entstandene Arbeitsintensivierung, worunter man eine Zunahme der bei der Arbeit geleisteten Anstrengung über die Zeit versteht. Die mit der immer stärkeren Digitalisierung einhergehenden Veränderungen in der Arbeitswelt führen zu neuen Anforderungen an Erwerbstätige. Der Job-Stress-Index 2022 zeigt auf, dass das Tempo der Arbeit in der Wahrnehmung der Beschäftigten seit 2016 deutlich zugenommen hat, was zu emotionaler Erschöpfung beitragen kann. Davon sind auch ältere Erwachsene betroffen, doch jüngere Erwerbstätige trifft die Arbeitsintensivierung in einer besonders vulnerablen Phase. In der Erhebung des Job-Stress-Index 2020 zeigen die 16- bis 24-jährigen Erwerbstätigen in der Schweiz mit 42 Prozent nicht nur den höchsten Anteil Erwerbstätiger im kritischen Bereich des Job-Stress-Index im Vergleich zu den anderen Altersgruppen, sondern auch den höchsten Wert bei der Gesamtskala der Arbeitsintensivierung.
Hinzu kommt, wie Pro Juventute in ihrem an der Tagung durchgeführten Atelier gezeigt hat: Krisen wie die Corona-Pandemie, der Klimawandel, der Krieg in der Ukraine oder die drohende Inflation sind in den sozialen Medien, die junge Menschen häufig nutzen, omnipräsent. Mit anderen Worten: Junge Menschen sind in den sozialen Medien ungefilterten und nicht verifizierten Nachrichten sowie einer Reizüberflutung ausgesetzt. Zudem kommen sie dort mit unzähligen Lebensformen in Berührung. Vergleiche mit anderen Lebensweisen bewirken, dass die eigene Persönlichkeit oder auch Werte und Einstellungen hinterfragt werden. Dies kann hilfreich sein, löst bei einigen aber auch Verunsicherungen aus. Beispielsweise werden sie mit Inhalten konfrontiert, die sich negativ auf das Selbstbild auswirken können, – etwa Ratschlägen zum Essverhalten, bestimmten Schönheitsidealen oder problematischen Rollenbildern.
Prävention fördern
Mehrere Fachpersonen machten an der Tagung deutlich: Die Förderung von Kompetenzen im Kindesalter hilft, psychische Störungen im Jugendalter zu vermeiden. Es ist wichtig, jungen Menschen bereits früh Selbstwirksamkeit zu vermitteln, sie bei der Ausbildung von Problemlösefertigkeiten zu unterstützen und ihnen beizubringen, sich abzugrenzen und zu lernen, was ihnen guttut. Präventionsprogramme, die auf die Stärkung solcher Schutzfaktoren abzielen, müssen junge Menschen bereits früh erreichen und die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure, wie beispielsweise Fachkräfte im Gesundheitswesen, Lehrpersonen und Eltern, sicherstellen.
Trotz präventiven Massnahmen kann es zu psychischen Belastungen kommen. Im «Manifest Kinder- und Jugendgesundheit», das Public Health Schweiz im Jahr 2019 verfasst hat, wird aufgezeigt, dass viele psychische Auffälligkeiten im Jugendalter beginnen und erst spät erkannt werden. Zwischen den ersten Krankheitszeichen, einer Diagnose und dem Therapiebeginn verstreichen oft Jahre. Dies kann zu Verfestigungen ungesunder Verhaltensmuster, zu weiteren Störungen und einer erhöhten Krankheitslast führen. Es ist daher wichtig, psychische Störungen frühzeitig zu erkennen und wirkungsvoll zu therapieren. Für eine erfolgreiche Früherkennung ist es von grosser Bedeutung, die Entstigmatisierung psychischer Probleme weiter voranzutreiben. Es ist noch viel Aufklärungsarbeit in der Gesellschaft notwendig, die sich sowohl an junge Menschen als auch an Erwachsene richten muss.
Die aktuelle Krise trifft auf ein überlastetes Versorgungssystem. Kinder und Jugendliche warten oft monatelang auf eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung. Allerdings sind bereits viele gute niederschwellige Angebote zur Unterstützung Betroffener verfügbar. Es wäre begrüssenswert, zu überprüfen, welche Angebote besonders wirksam sind, ein übersichtliches Register zu erstellen und die Bekanntheit der Angebote bei der Zielgruppe zu steigern. Niederschwellige Angebote, wie beispielsweise peergestützte Beratungen, können auch genutzt werden, um Wartezeiten bis zum Eintritt in eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung zu überbrücken. Dazu muss jedoch ein chancengerechter Zugang zu diesen Angeboten sichergestellt werden. Viele von psychischen Problemen betroffene Menschen nehmen diese nicht in Anspruch, da sie sich die Selbstzahlung nicht leisten können.
Während die Finanzierung von Leistungen im Versorgungssystem über das Krankenversicherungsgesetz (KVG) geregelt ist, fehlt es an gesetzlichen Grundlagen zur systematischen Regelung von wirkungsvollen Massnahmen mit wissenschaftlicher Evidenz, die nicht in diesen Geltungsbereich fallen. Über die Obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) können lediglich individuelle medizinische Leistungen, die durch KVG-anerkannte medizinische Fachpersonen erbracht werden und ärztlich durchgeführt oder angeordnet sind, abgerechnet werden. Welche Rolle nicht-medizinische Fachpersonen in der Prävention und niederschwelligen Versorgung von psychischen Erkrankungen übernehmen sollen, etwa im Bereich der psychosozialen Beratung und Begleitung, und wie die Kostenübernahme entsprechender Leistungen systematisch und nachhaltig geregelt werden kann, ist deshalb aus Sicht von Public Health Schweiz zu klären. Dies betrifft insbesondere auch die Frage nach Leistungsabgrenzung und Finanzierung von Leistungen an der Schnittstelle von der medizinischen Gesundheitsversorgung zum Sozial- und Gemeinwesen.
Mehr Daten sind nötig
Auch wenn bereits einige Studien zum Thema durchgeführt wurden, besteht eine grosse Datenlücke. Stetiges Monitoring ist essenziell. Die Situation der Jugendlichen und ihrer psychischen Gesundheit sollte regelmässig erhoben werden, um die Entwicklung über die Jahre hinweg beurteilen und Zusammenhänge sichtbar machen zu können. Es braucht ein besseres Verständnis dafür, warum so viele junge Menschen psychisch stark belastet sind und welche gesellschaftlichen Veränderungen notwendig sind, um dem entgegenzuwirken. Die Nutzung der verschiedenen Angebote sollte in diese Erhebungen integriert werden.
Zudem wäre es hilfreich, Faktoren der Problemstruktur quantitativ messbar zu machen. So könnten beispielsweise neue Masseinheiten bezüglich Arbeitsintensität oder Konsum sozialer Medien eingeführt werden, um deren Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit zu erheben und ein objektives Mass an die subjektiven Wahrnehmungen zu knüpfen. Dies würde die Dringlichkeit der Situation noch einmal verdeutlichen und die Formulierung konkreter Massnahmen erleichtern.
Partizipation ja, aber…
Klar scheint: Die Partizipation junger Menschen an der Erarbeitung von Lösungsansätzen ist unabdingbar. Gleichzeitig hat die Tagung gezeigt: Jugendliche und junge Erwachsene müssen dabei begleitet und unterstützt werden.
Aus Sicht von Public Health Schweiz sollte sichergestellt werden, dass die teilweise auf subjektiven Empfindungen basierenden Ideen in konkrete, sinnvolle und umsetzbare Forderungen und Aktivitäten «übersetzt» werden, die von politisch Verantwortlichen gehört und verstanden werden. Der Austausch mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen muss geplant, vorbereitet und umgesetzt werden. Wenn die Politik und Behörden auf junge Menschen hören wollen, so müssen sie entsprechende Prozesse einrichten und die Ressourcen dafür zur Verfügung stellen.
Disclaimer: Die in diesem Artikel präsentierten Ursachen und Lösungsansätze geben die Ansicht der Geschäftsstelle von Public Health Schweiz wieder und sind weder als abschliessender Ergebnisbericht der Tagung vom 24. Mai 2023 noch als wissenschaftlicher Bericht zu verstehen.