Familienarmut: Koordination in den Kantonen verbessern

Leistungen für armutsgefährdete und armutsbetroffene Familien müssen bedarfsgerecht und zugänglich sein. Dafür sind ein koordiniertes Vorgehen der Kantone sowie der Einbezug der Zielgruppe erforderlich.
Urezza Caviezel, Rafaela Catena, Michael Marti
  |  11. Februar 2025
    Forschung und Statistik
  • Armut
  • Familie
Wie können Kantone Perspektiven schaffen? Eine Studie zeigt Möglichkeiten für eine integrierte Prävention und Bekämpfung von Familienarmut auf. (Keystone)

Auf einen Blick

  • Für eine «integrierte» Prävention und Bekämpfung von Familienarmut müssen Kantone ihre Zusammenarbeitsstrukturen noch gezielter nutzen, wie eine Analyse des Forschungsbüros Ecoplan zeigt.
  • Die Kantone sollten strategische, bereichsübergreifende Ziele zur Prävention und Bekämpfung von Familienarmut festlegen, regelmässige Situationsanalysen durchführen und eine innerkantonale Zusammenarbeit pflegen.
  • Ein systematischer Einbezug von armutserfahrenen Familien hilft, sicherzustellen, dass kantonale Steuerungsgrundlagen auch relevantes Erfahrungswissen enthalten.

Trotz des hohen Lebensstandards in der Schweiz stehen viele Familien vor erheblichen finanziellen Herausforderungen. Der finanzielle Druck nimmt insbesondere nach der Geburt des ersten Kindes zu, oft durch die Reduktion der Berufstätigkeit der Mütter (Bischof et al. 2023). Besonders Einelternhaushalte, Familien mit mehreren Kindern und getrennt lebende Familien sind überdurchschnittlich von Armut betroffen.

Neben finanzieller Not und materiellen Engpässen leiden diese Familien oft unter sozialer Isolation sowie eingeschränktem Zugang zu Bildung, Erwerbsarbeit, angemessenem Wohnraum und Gesundheitsversorgung. Um die familiäre Lage langfristig zu verbessern, generationenübergreifende Armut zu vermeiden und Chancengerechtigkeit für Kinder zu fördern, sind neben finanziellen Hilfen auch Entlastungen in anderen Lebensbereichen notwendig.

Oft sind Unterstützungsangebote für armutsgefährdete und -betroffene Familien mit Herausforderungen in verschiedenen Lebensbereichen unzureichend, schwer zugänglich oder zu wenig aufeinander abgestimmt. Um diese Familien gezielter und nachhaltiger zu unterstützen, ist es notwendig, die Massnahmen auf ihre Bedürfnisse auszurichten und den Zugang zu den Massnahmen zu vereinfachen.

Worauf müssen Kantone somit achten, um eine integrierte Prävention und Bekämpfung von Familienarmut zu erreichen? Dieser Frage gehen wir in einer Studie im Auftrag der Nationalen Plattform gegen Armut (Catena, Caviezel und Marti 2025) nach. Die Studie knüpft an eine Untersuchung aus dem Jahr 2017 an, welche aufzeigte, dass sich viele Gemeinden unter anderem mehr strategische und koordinierende Aktivität auf der kantonalen Ebene wünschen (Stutz et al. 2017).

Konkret untersuchen wir Koordinationsbeispiele mit Bezügen zur Prävention und Bekämpfung von Familienarmut in den Kantonen Bern, Neuenburg, Genf, Tessin und Thurgau. Unter anderem stützen wir uns auf Dokumentenanalysen, Interviews mit Experten und Expertinnen sowie Workshops mit armutserfahrenen Personen in den fünf Kantonen.

Policy-Integration als zentrales Konzept

In der Studie betrachten wir Fallbeispiele aus der Optik des Policy-Integration-Ansatzes. Dieses theoretische Konzept zielt auf eine effizientere Zielerreichung durch Abstimmung und Koordination von Massnahmen und Strategien zwischen involvierten Verwaltungseinheiten und nicht staatlichen Akteuren. Angewandt auf kantonale «Familienarmutspolitiken», zeigt der Policy-Integration-Ansatz auf, wo Kantone ansetzen können, wenn sie ihre Massnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Familienarmut «integrierter» gestalten wollen.

Gemäss dem Policy-Integration-Ansatz muss ein Kanton an sechs Punkten ansetzen (siehe Kasten): Erstens sollte er mehr über die Zielgruppe und die innerkantonale Angebotslandschaft wissen. Zweitens sollte er sowohl die Ziele der Prävention und Bekämpfung von Familienarmut als auch deren Koordination strategisch verankern. Drittens sollte er seine Angebote auf die Bedürfnisse der Zielgruppe ausrichten und den Zugang zu diesen Angeboten erleichtern. Viertens muss er innerkantonal gezielter mit den relevanten Akteuren zusammenarbeiten und fünftens die Perspektive der Armutserfahrung direkt und systematisch einbeziehen. Der sechste Punkt zielt darauf ab, dass die Kantone den interkantonalen Austausch innerhalb bereits bestehender Strukturen systematischer nutzen sollten.

Kernelemente einer integrierten Prävention und Bekämpfung von Familienarmut (orientiert am Policy-Integration-Ansatz)

  1. Situation regelmässig analysieren
  • Situation der Zielgruppe und der Angebotslandschaft regelmässig erheben
  • Bedürfnisse unter Einbezug der Zielgruppe erkennen
  1. Ziele politikbereichsübergreifend abstimmen und strategisch verankern
  • Auftrag für eine «integrierte» und damit koordinierte Prävention und Bekämpfung von Familienarmut nachhaltig strategisch verankern, unter Einbezug relevanter Akteure inkl. armutserfahrener Familien und mit explizitem Fokus auf Zielgruppe
  • Strategische Ziele über Politikbereiche und Akteure hinweg abstimmen und Zielkonflikte vermeiden
  1. Bedarfsgerechte und einfach zugängliche Angebote
  • Bestehende Angebote am Bedarf von armutsgefährdeten und -betroffenen Familien orientieren und deren Perspektive dafür systematisch einbeziehen
  • Zugänge zu Angeboten für armutsgefährdete und -betroffene Familien erleichtern
  1. Innerkantonale Zusammenarbeit leben
  • Die innerkantonale Zusammenarbeit für armutspräventive und armutsreduzierende Tätigkeiten für Familien aktiv pflegen
  • Rollen und Aufgaben dieser Zusammenarbeit verbindlich regeln
  • Kantonale Ressourcen für diese innerkantonale Zusammenarbeit bereitstellen
  1. Perspektive der Armutserfahrung einbeziehen
  • Systematischer Einbezug der Perspektive der Armutserfahrung zugunsten bedarfsgerechterer, einfacher zugänglicher Angebote in Kantonen
  1. Interkantonalen Austausch verstärken
  • Bereits bestehende Strukturen nutzen, um den Dialog zu für viele Kantone ähnlichen Herausforderungen zu vertiefen und weiterzuentwickeln
  • Fortlaufendes gegenseitiges Lernen über koordinierte kantonale Ansätze zur Prävention und Bekämpfung von Familienarmut fördern

Quelle: Konzept der Policy-Integration (vgl. z.B. Trein et al. 2023), adaptiert auf Familienarmut; Darstellung: Ecoplan

Koordinationsbeispiele aus fünf Kantonen

Zusammenfassend zeigt die am Policy-Integration-Ansatz orientierte Analyse, dass die Themen Armut und Familie in den untersuchten Praxisbeispielen der fünf Kantone selten strategisch und operativ verknüpft werden. So werden Lebensbereiche jenseits von «Finanzen» oft nicht berücksichtigt. Dadurch ist die Unterstützung für armutsgefährdete und -betroffene Familien häufig fragmentiert.

In einigen Kantonen bestehen Kooperationsstrukturen wie Gremien oder Kommissionen und allenfalls koordinationsförderliche gesetzliche Rahmenbedingungen. Solche Strukturen sollten noch gezielter für eine «integriertere» Prävention und Bekämpfung von Familienarmut genutzt werden.

Im Folgenden erläutern wir anhand der Praxisbeispiele aus den fünf Kantonen, wie eine «Familienarmutspolitik» gemäss dem Policy-Integration-Ansatz aussehen könnte.

Situation analysieren

Grundlegend wichtig ist, sowohl die Situation armutsgefährdeter und -betroffener Familien als auch die Angebotslandschaft zu kennen. Unsere Analyse zeigt, dass einzelne Kantone durchaus Armuts- oder Sozialberichte erstellen, jedoch selten regelmässig aktualisieren. Diese konzentrieren sich auf Basis der Sozialhilfestatistik hauptsächlich auf die finanzielle Lage der Bevölkerung.

Weitere wichtige Lebensbereiche, die aufgrund multidimensionaler Herausforderungen der Familienarmut relevant sind, bleiben oft unberücksichtigt. So behandeln einzelne kantonale Berichte zwar Teilbereiche der Familienpolitik wie die frühe Förderung oder die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Häufige Herausforderungen in weiteren Lebensbereichen wie mangelnder Zugang zu Bildung und angemessenem Wohnraum, Gesundheitsversorgung oder soziale Ausgrenzung und die daraus entstehenden Wechselwirkungen werden hingegen nicht vertieft betrachtet. Auch fliesst die Perspektive der direkten Erfahrung von Armut noch zu selten in solche Berichterstattungen ein.

Um herauszufinden, wo Angebote für armutsgefährdete oder -betroffene Familien fehlen oder zu wenig auf deren Bedürfnisse ausgerichtet sind, sollten die Kantone ferner wissen, welche nicht staatlichen Angebote es auf ihrem Territorium gibt. Eine solche regelmässig aktualisierte Übersicht der Angebote fehlt manchmal. Einen guten Ansatz stellt hier beispielsweise das Tessiner Forum Genitorialità dar, das Angebote für Eltern auf einer Plattform bündelt, was unter anderem den Zugang erleichtert.

Ziele strategisch verankern

Damit die Bereiche Armut und Familie in eine «integrierte Familienarmutspolitik» münden, sind entsprechend Strategien und Ziele zu verfolgen, die die beiden Bereiche verknüpfen. Dies erfordert eine Koordination in politischer und administrativer Hinsicht, die idealerweise gesetzlich verankert ist. Auch Soft-Law-Optionen (wie Regierungsratsbeschlüsse, Verordnungen oder Leitfäden für Gemeinden) können bereits einen Beitrag leisten. Sie sind besonders wirksam, wenn sie über relevante Politikbereiche hinweg Kooperationsvereinbarungen zwischen zuständigen Akteuren fördern und die Perspektive armutserfahrener Familien bei ihrer Erarbeitung mit einbezogen wird. Wichtige Impulse können zudem regelmässige Treffen oder die Vergabe von Fördermitteln für Abstimmungs- und Koordinationsaktivitäten geben.

Vielversprechende Beispiele von vorgefundenen Gesetzen sind ein kantonales Harmonisierungsgesetz für Sozialleistungen, ein Familiengesetz oder ein Gesetz über die Sozialhilfe und zur Prekaritätsbekämpfung, das die Bedürfnisse von Familien berücksichtigt und intergenerationeller Armut vorbeugen will. Mehrere in der Studie befragte Fachpersonen aus den fünf Kantonen betonen allerdings, dass derzeit politische Aufträge für solche Ansätze fehlen.

Bedarfsgerechte und einfach zugängliche Angebote

Massnahmen sind dann «integrierter» (und damit wirkungsvoller), wenn sie sich am Bedarf der Zielgruppe orientieren und für sie einfach zugänglich sind. Um Angebote besser auf die Bedürfnisse von armutsgefährdeten und -betroffenen Familien abzustimmen, ist es für einen Kanton hilfreich, deren Perspektive systematischer einzubeziehen.

Um Zugänge für diese Familien zu vereinfachen, sollten vermehrt niederschwellige Ansätze etabliert werden. Ein Beispiel dafür ist die polyvalente Anlaufstelle Bureau d’Information Sociale im Kanton Genf, die der Bevölkerung einen Überblick über Angebote und Sozialleistungen für unterschiedliche Lebensbereiche bietet. Ein weiteres Beispiel sind die «guichets sociaux régionaux» im Kanton Neuenburg, wo verschiedene finanzielle Leistungen (Alimentenbevorschussung, Stipendien, individuelle Prämienverbilligung und wirtschaftliche Sozialhilfe) mit einem Antrag gebündelt beantragt werden können.

Zusammenarbeit leben

Die strategische Verankerung der Ziele reicht für eine «integrierte» Prävention und Bekämpfung von Familienarmut noch nicht aus. Es gilt auch, die operative Zusammenarbeit auf Ebene der kantonalen Verwaltungseinheiten sowie mit weiteren relevanten Akteuren, insbesondere Gemeinden, bewusst zu pflegen. Dabei müssen die Rollen der Zusammenarbeit verbindlich geregelt und Erwartungen geklärt werden.

Unsere Analyse zeigt klar: Feste Gremien und andere Formen der innerkantonalen Zusammenarbeit brauchen einen politischen Auftrag und Ressourcen für die Umsetzung. Wichtig ist bei der Zusammenarbeit, dass diese systematisch gepflegt wird und nicht rein ad hoc geschieht oder von einzelnen engagierten Personen abhängt. Die fünf Kantone haben unterschiedliche Rahmenbedingungen und Gremienstrukturen, die bestimmen, wie eine – bezogen auf die Prävention und Bekämpfung von Familienarmut – sinnvolle Zusammenarbeit zwischen beteiligten Akteuren im jeweiligen Kanton organisiert werden kann.

Im Kanton Neuenburg besteht etwa mit der Arbeitsgruppe CIPOS (Coordination Interdépartementale de la Politique Sociale) ein Rahmen, in dem sich Vertretungen aus allen Departementen zu sozialpolitischen Massnahmen austauschen und Vorschläge zur Verbesserung der Sozialpolitik hinsichtlich einer grösseren Kohärenz und einer verstärkten Koordination der Unterstützungsleistungen machen. Der Kanton Genf kennt wiederum eine Familienkommission, die den Regierungsrat berät.

Perspektive der Betroffenen

Für eine integrierte Prävention und Bekämpfung von Familienarmut ist entscheidend, die Perspektive der Armutserfahrung direkt und systematisch einzubeziehen. Die Perspektive der Armutserfahrung spielt eine zentrale Rolle, um Herausforderungen, mit denen armutsgefährdete und -betroffene Familien konfrontiert sind, besser zu verstehen, Veränderungen fortlaufend zu antizipieren und nicht zuletzt den Familien eine Stimme zu geben.

Die analysierten Fallbeispiele zeigen, dass die Perspektive von armutserfahrenen Familien teilweise noch nie direkt mit einbezogen wurde. Eine grosse Ausnahme bilden die «assises de la cohésion sociale» im Kanton Neuenburg, ein mehrstufiger Beteiligungsprozess, der darauf abzielte, Lücken im kantonalen Unterstützungssystem zu eruieren und Optimierungsvorschläge zu erarbeiten.

Interkantonalen Austausch verstärken

Trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen stehen die fünf Kantone bei der Prävention und Bekämpfung von Familienarmut teilweise vor ähnlichen Herausforderungen. Ein interkantonaler Austausch zur Koordination und Abstimmung von Strategien und Massnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Familienarmut findet noch nicht in ausreichendem Mass statt.

Um diesen Dialog zu vertiefen und weiterzuentwickeln, sollten bereits bestehende Strukturen auf interkantonaler und nationaler Ebene noch systematischer genutzt werden. Dadurch könnte ein fortlaufendes gegenseitiges Lernen über koordinierte kantonale Ansätze zur Prävention und Bekämpfung von Familienarmut gefördert werden.

Literaturverzeichnis

Catena, Rafaela; Caviezel, Urezza; Marti, Michael (2025). Prävention und Bekämpfung von Familienarmut in den Kantonen. Abstimmung und Koordination von Massnahmen und Strategien. Studie im Auftrag der Nationalen Plattform gegen Armut 2019–24.

Bischof, Severin; Kaderli, Tabea; Guggisberg, Jürg; Liechti, Lena (2023). Die wirtschaftliche Situation von Familien in der Schweiz. Die Bedeutung von Geburten sowie Trennungen und Scheidungen; Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 1/23.

Stutz, Heidi; Bannwart, Livia; Abrassart, Aurélien; Rudin, Melania; Legler, Victor; Goumaz, Margaux; Simion, Mattia; Dubach, Philipp (2017). Kommunale Strategien, Massnahmen und Leistungen zur Prävention und Bekämpfung von Familienarmut. Studie im Auftrag des Nationalen Programms gegen Armut 2014–18. Forschungsbericht 4/17.

Trein, Philipp; Fischer, Manuel; Maggetti, Martino; Sarti, Francesco (2023). Empirical Research on Policy Integration: a Review and New Directions, Policy Sciences, 56, 1, 29–48

Projektleiterin, Ecoplan
[javascript protected email address]
Projektleiterin, Ecoplan
[javascript protected email address]
Dr. rer. pol., Partner Ecoplan
[javascript protected email address]