Wohnen mit einer Behinderung: Wie misst man den Unterstützungsbedarf?

Viele Menschen mit Behinderung sind auf eine finanzielle Unterstützung beim Wohnen angewiesen. Aus Sicht der IV stellt sich die Frage: Wie eruiert man den Unterstützungsbedarf? Eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen empfiehlt, die Koordination zu verbessern und die Komplexität zu verringern.
Marina Abbas, Alan Canonica, Gaël Froidevaux, Pierre Margot-Cattin
  |  21. Februar 2023
    Forschung und Statistik
  • Behinderung
  • Invalidenversicherung
Eine zielgerichtete Unterstützung stellt die Bedürfnisse und Präferenzen des einzelnen Menschen ins Zentrum. Tänzerin mit Down-Syndrom. (Keystone)

Auf einen Blick

  • Eine Studie im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen hat die Bedarfsabklärungsinstrumente untersucht, die es in der Schweiz gibt, um Menschen mit Behinderung beim Wohnen zu Hause zu unterstützen.
  • Die Studie empfiehlt, die Leistungen der IV und der Kantone besser aufeinander abzustimmen.
  • Zudem sollte die IV die Hilflosenentschädigung, den Intensivpflegezuschlag für Minderjährige sowie den Assistenzbeitrag in einer einzigen Leistung zusammenfassen.

Wie kann der Staat – und insbesondere die Invalidenversicherung (IV) – das selbstbestimmte Wohnen für Menschen mit Behinderung fördern? Diese Frage gewinnt auch in der Schweiz zunehmend an Bedeutung. Wichtige Impulse dafür setzt die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, welche die Schweiz 2014 ratifizierte.

In der Schweiz gibt es verschiedene Unterstützungsangebote von diversen Leistungserbringenden, welche unterschiedlich finanziert werden. Die IV spielt eine wichtige Rolle, indem sie das selbstbestimmte Wohnen mit der Hilflosenentschädigung, dem Intensivpflegezuschlag für Minderjährige und dem Assistenzbeitrag fördert. Des Weiteren subventioniert das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) das Begleitete Wohnen als ambulante Dienstleistung durch Anbieter der privaten Invalidenhilfe gemäss Artikel 74 des Invalidenversicherungsgesetzes (IVG). In der Regel setzt die staatliche Abgeltung von Leistungen eine Abklärung und Festlegung des Unterstützungsbedarfs voraus.

In einer Studie im Auftrag des BSV haben wir die in der Schweiz verfügbaren Bedarfsabklärungsinstrumente für die Unterstützung beim Wohnen zu Hause und in Heimen untersucht (Canonica et al. 2023). In einem ersten Schritt machten wir eine Bestandesaufnahme der in der Schweiz verwendeten Abklärungsinstrumente für das ambulante und stationäre Wohnen in den Bereichen Behinderung sowie Alter und Pflege. Dabei verglichen wir die Abklärungsinstrumente miteinander. Aus Platzgründen beschränken wir uns im Folgenden auf die Abklärungsinstrumente im Bereich Behinderung.

In einem zweiten Schritt ermittelten wir das Weiterentwicklungs- und Optimierungspotenzial der IV-Abklärungsinstrumente für die Hilflosenentschädigung, den Intensivpflegezuschlag und den Assistenzbeitrag. Schliesslich zeigten wir Möglichkeiten für eine bessere Koordination und Harmonisierung der Abklärungsprozesse und -instrumente auf.

Die empirische Datengrundlage bilden eine schriftliche Befragung der Kantone, Unterlagen zu den analysierten Abklärungsinstrumenten, 24 leitfadengestützte Expertinnen- und Experteninterviews sowie vier Fokusgruppengespräche mit Leistungsbeziehenden und Angehörigen.

Komplexes Gebilde

Grundsätzlich sind mit der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) von 2008 die Kantone für die Finanzierung der Wohnangebote verantwortlich. In der Praxis findet man allerdings ein komplexes Gesamtbild mit verschiedenen Kostenträgern und zuständigen Akteuren (Fritschi et al. 2022).

In den vergangenen Jahren haben mehrere Kantone Reformprozesse zur Förderung des Wohnens zu Hause und zur Finanzierung von ambulanten Leistungen angestossen. Dabei setzen sie vermehrt auf subjektorientierte Finanzierungsmodelle, bei denen die finanziellen Mittel an die Nutzenden selbst ausgerichtet werden. Um den individuellen Unterstützungsbedarf zu ermitteln, haben einige Kantone zudem (unabhängige) Abklärungsstellen eingerichtet und neue Abklärungsinstrumente eingeführt.

Unterschiede zeigen sich auch zwischen den Sprachregionen: In der deutschsprachigen Schweiz werden die Abklärungsinstrumente für den Unterstützungsbedarf beim Wohnen zu Hause in der Regel vom Kanton vorgegeben und sie sind für die Finanzierung grundlegend. In der Westschweiz und im Tessin hingegen wird die Abklärung meist an private Organisationen delegiert, wobei die Abklärungsinstrumente nicht vom Kanton bestimmt werden.

In der Deutschschweiz hat sich im stationären Bereich das Einstufungssystem «Individueller Betreuungsbedarf» (IBB) durchgesetzt, welches den Kantonen erlaubt, die finanzrelevanten individuellen Betreuungsleistungen einer Einrichtung zu ermitteln. Im ambulanten Bereich etabliert sich in der deutschsprachigen Schweiz zusehends das ursprünglich aus Deutschland stammende Abklärungsinstrument Individuelle Hilfeplanung (IHP). Bei der IHP werden im Dialog mit dem Menschen mit Behinderung die individuellen Ziele und Wünsche ermittelt. In der Planung werden anschliessend die benötigten Unterstützungsleistungen für das Erreichen der Ziele festgelegt.

In der Westschweiz plant derzeit erst ein Kanton die Einführung von IHP. Grundsätzlich ist die Heterogenität in der lateinischen Schweiz grösser als in der deutschsprachigen Schweiz.

Acht Unterscheidungsmerkmale

Im Rahmen der Analyse der Abklärungsinstrumente wurden acht wesentliche Unterscheidungsmerkmale herausgearbeitet, mit denen die Tools charakterisiert werden können:

Unterscheidungsmerkmal

Beschreibung

Verständnis von «Behinderung»

Das Verständnis von Behinderung differiert je nach Abklärungsinstrument.

Grad der Standardisierung

Der Grad der Standardisierung variiert je nach Form der gestellten Fragen und dem gewährten Freiraum für die Antworten.

Gewichtung von Fremd- und Selbsteinschätzung

Der Bogen reicht von Abklärungsinstrumenten, die einzig auf eine Fremdeinschätzung basieren, bis zu solchen, die die Selbsteinschätzung in den Vordergrund stellen.

Bemessungsgrundlage

Je nach «Messung» bilden andere Inhalte die Grundlage für die Festlegung des Unterstützungsbedarfs.

Gegenwartsbezug und/oder Ziel- und Zukunftsorientierung

Für die Ermittlung des Unterstützungsbedarf werden einzig der Ist-Zustand oder auch Zielsetzungen und Entwicklungspotenziale einbezogen.

Verhältnis von Ressourcen- und Defizitorientierung

Einige Abklärungsinstrumente berücksichtigen nur Defizite, andere richten den Blick auch auf die Ressourcen der einzelnen Menschen.

Einbezug des Kontexts

Förderliche und beeinträchtigende Kontextfaktoren werden von den Abklärungsinstrumenten unterschiedlich einbezogen.

Berechnungsgrundlage für den Unterstützungsbedarf

Die Basis für die jeweilige Berechnung bilden abweichende Indikatoren oder Kombinationen von Indikatoren.

Mensch ins Zentrum stellen

Ein wichtiger normativer Referenzrahmen für die Bewertung der Abklärungsinstrumente bilden die Richtlinien des UNO-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen: Letztere verlangen, dass gesellschaftliche Hindernisse und Barrieren gegenüber den individuellen Beeinträchtigungen stärker in den Vordergrund gestellt werden. Zudem gelte es, die Präferenzen und die spezifischen Aktivitäten von Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen und diese in die Entscheidungsprozesse einzubinden. Zudem muss die Bedarfsermittlung gemäss den UNO-Richtlinien personenzentriert und primär auf Basis einer Selbsteinschätzung erfolgen.

Die Abklärungsverfahren der IV erfüllen diese Bedingungen nur unzureichend. So beziehen sie die individuellen Präferenzen und Aktivitäten nur geringfügig mit ein. Und Kontextfaktoren, die beeinträchtigend wirken können, bleiben mehrheitlich unbeachtet.

Der Fokus der Abklärungsverfahren der IV liegt derzeit stark auf der Behinderung. Sprich: Die IV-Abklärungsinstrumente sind defizitbasiert und verstehen Behinderung in einem medizinischen und nicht gesellschaftlichen Sinne. Das Verfahren verläuft heute standardisiert und bietet kaum Freiraum für einen personalisierten Zugang. Bei der Erfassung und vor allem bei der Festlegung des Unterstützungsbedarfs dominiert zudem die Fremdeinschätzung.

Offener und qualitativer Zugang

Für die Weiterentwicklung der IV-Abklärungsinstrumente empfehlen wir deshalb einen stärker personenzentrierten Zugang – wobei die Selbstbestimmung und die soziale Teilhabe die normativen Referenzpunkte bilden müssen. Im Zentrum einer Abklärung sollte verstärkt der Mensch mit seinen subjektiven Bedürfnissen und seinem individuellen behinderungsbedingten Unterstützungsbedarf stehen. Mit einem offeneren und qualitativen Zugang könnten die Sicht der versicherten Personen besser erfasst und spezifische behinderungsbedingte Einschränkungen sowie beeinträchtigende Kontextfaktoren ermittelt werden.

Eine Behinderung muss dabei als Wirkungszusammenhang zwischen gesundheitlichen und Kontextfaktoren betrachtet werden. Dafür eignet sich etwa das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF): Die ICF dient der Erfassung des funktionalen Gesundheitszustands, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren eines Menschen.

Schliesslich sollte sich eine Abklärung nicht auf den Ist-Zustand beschränken, sondern die Zukunft und Entwicklungspotenziale einbeziehen. In diesem Zusammenhang sind nebst den Defiziten auch die Ressourcen der Versicherten relevant.

Koordination verbessern

Abschliessend lässt sich sagen: Das Unterstützungssystem für das Wohnen zu Hause ist komplex. Allein die IV kennt mit der Hilflosenentschädigung, dem Intensivpflegezuschlag für Minderjährige und dem Assistenzbeitrag drei Leistungen mit je eigenem Abklärungsverfahren. Für viele Menschen mit Behinderung ist das System kaum zu überblicken und aus dem Blickwinkel der Sozialversicherungen und kantonalen Verwaltungen ist es aufwendig und ineffizient. Eine Komplexitätsreduktion erscheint deswegen angezeigt.

Für die künftige Unterstützung beim Wohnen zu Hause haben wir mehrere Szenarien skizziert, wobei wir uns auf das Verhältnis von IV und Kantonen fokussierten. Auf zwei Szenarien, die besonders zielführend scheinen, soll hier kurz eingegangen werden.

Das erste Szenario fasst die drei erwähnten IV-Leistungen zu einer einzigen Leistung zusammen: Indem die IV nur noch eine Abklärung durchführt, kann die Komplexität reduziert werden. Dazu wäre eine Neuentwicklung der IV-Abklärungsinstrumente nötig. In diesem Szenario agieren die IV und die Kantone allerdings weiterhin unkoordiniert.

Das zweite Szenario verlagert die Verantwortung stärker auf die Kantone. Die IV beteiligt sich einzig finanziell mit Individualbeiträgen oder kantonalen Pauschalbeiträgen an der Unterstützung für das Wohnen zu Hause, und die Abklärungsverantwortung geht vollständig auf die Kantone über. Bei diesem Szenario wird die Koordination zwischen der IV und den Kantonen gestärkt – und gleichzeitig die Komplexität reduziert.

Bessere Koordination

Unsere Empfehlungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Leistungen der IV und der Kantone sollten besser aufeinander abgestimmt werden. Dabei sollte das BSV festlegen, ob und in welcher Form sich die IV in Zukunft an der Unterstützung für das Wohnen zu Hause beteiligt. Diese Haltung sollte es im politischen Prozess vertreten. Weiter empfehlen wir der IV, die Hilflosenentschädigung, den Intensivpflegezuschlag für Minderjährige und den Assistenzbeitrag zu einer einzigen IV-Leistung zusammenzufassen. Dafür ist eine Neuentwicklung des Abklärungsverfahrens notwendig.

Ein besonderes Augenmerk muss die IV dabei auf die Personenzentrierung, die Selbsteinschätzung sowie einen qualitativen Zugang mit (mehrheitlich) offenen Fragen und geringerem Standardisierungsgrad legen. Als Grundlage sollte der IV ein bio-psycho-soziales Modell von Behinderung dienen, das auch auf Ressourcen eingeht und Entwicklungspotenziale miteinbezieht.

Literaturverzeichnis

Canonica, Alan; Margot-Cattin, Pierre; Stalder, René; Abbas, Marina; Froidevaux, Gaël (2023). Unterstützung beim Wohnen zu Hause: Instrumente zur Bedarfsabklärung. Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 11/22.

Fritschi, Tobias; von Bergen, Matthias; Müller, Franziska; Lehmann, Olivier; Pfiffner, Roger; Kaufmann, Cornel; Hänggeli, Alissa (2022). Finanzflüsse und Finanzierungsmodelle im Bereich Wohnangebote für Menschen mit Behinderung. Schlussbericht zuhanden des EBGB, des BSV und der SOD.  Berner Fachhochschule / Interface, 31. Oktober.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
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Dozent und Projektleiter, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
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Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Hochschule und Höhere Fachschule für Soziale Arbeit, HES-SO Wallis
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Assoziierter Professor, Hochschule und Höhere Fachschule für Soziale Arbeit, HES-SO Wallis
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