Die Konferenz vom 22. November 2016 versammelte Verantwortungsträger, Fachpersonen und Armutsbetroffene aus allen Landesteilen in Biel, um eine Zwischenbilanz zum Nationalen Programm gegen Armut zu ziehen, auf interessante Strategien und Projekte der Armutsprävention hinzuweisen und um die aktuellen Herausforderungen und Lösungsansätze sowohl aus fachlicher als auch aus politischer Perspektive zu diskutieren.
Es war ein Kernanliegen der Konferenzorganisation, Armutsbetroffene aktiv in die Konferenz einzubinden. Dadurch liessen sich eigene Anliegen direkt einbringen und die Debatte der Fachleute blieb nahe an der Lebensrealität betroffener Menschen. Eine wichtige Rolle hatten dabei die Betroffenenorganisationen, die in der Begleitgruppe des Nationalen Programms gegen Armut vertreten sind und die sich zu Beginn der Konferenz an das Plenum richteten. Im Zentrum ihres Manifests stand die Forderung, armutsbetroffene Menschen an der Ausarbeitung, Umsetzung und Evaluation von Entscheidungen zu beteiligen, die sie betreffen. Die Aufgabe des Staats sei es, eine aktive Partizipation sicherzustellen. Akteure aller drei Staatsebenen müssten sich dafür einsetzen, auch diejenigen Personen zu erreichen, die noch nicht gehört werden.
Das Nationale Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut wurde im Jahr 2014 lanciert. Getragen wird es gemeinsam von Bund, Kantonen, Städten, Gemeinden und privaten Organisationen. Es stellt gesichertes Wissen zu den verschiedenen Themen der Armutsprävention und -bekämpfung bereit, gibt Impulse zu ihrer Weiterentwicklung und fördert die Vernetzung und Zusammenarbeit der beteiligten Akteure. Das Programm ist bis Ende 2018 befristet.
Weiterführende Informationen:
– «Soziale Sicherheit» Nr. 2/2016: Schwerpunkt (www.soziale-sicherheit-chss.ch).
Politische Bilanz Armut hat vielfältige Ursachen. Daher ist deren Prävention und Bekämpfung ein komplexes Unterfangen. Betroffen sind verschiedene Politikbereiche und alle Staatsebenen. Bei der Erarbeitung zielgerichteter und wirkungsvoller Massnahmen ist die Koordination aller Akteure und ihrer Aktivitäten zentral. Infolgedessen gehörte das Schlusspodium der Konferenz den Vertretern aller Staatsebenen und von Nichtregierungsorganisationen.
Die Podiumsteilnehmer waren sich einig, dass weiterhin viel zu tun sei, um die Lage armutsbetroffener Menschen zu verbessern. Das Nationale Programm gegen Armut habe erreicht, was von ihm erwartet werden konnte: Das Thema Armut sei fundiert aufbereitet worden und werde stärker beachtet. Das Programm biete wertvolle Diskussionsgrundlagen und gebe allen Akteuren die Gelegenheit, die eigenen Aufgaben zu prüfen.
Caritasdirektor Hugo Fasel betonte, dass die Zusammenarbeit in der Armutsprävention und -bekämpfung unbedingt über die Laufzeit des befristeten Programms hinaus weitergeführt werden soll. Jörg Kündig wünschte sich als Vertreter der Gemeinden mehr Unterstützung durch die Kantone und den Bund. Letztere sollen die Kosten langfristig mittragen und dabei über die üblichen Anschubfinanzierungen hinausgehen. Bundesrat Alain Berset betonte, dass es ein zentrales Anliegen des nationalen Programms sei, der föderalen Aufgabenteilung Rechnung zu tragen, die Kräfte zu bündeln und die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Staatsebenen zu stärken. Alle Beteiligten müssten in ihrem Aufgabenbereich Verantwortung übernehmen und zugleich die aktive Mitwirkung der anderen Staatsebenen beobachten und wenn nötig einfordern. Regierungsrat und SODK-Präsident Peter Gomm betonte die Bedeutung der interkantonalen Zusammenarbeit beim Aufbau und der Sicherung der sozialen Netzwerke in der Schweiz.
Mit der gemeinsamen Erklärung vom 22. November 2016 bekräftigen Bund, Kantone, Städte und Gemeinden ihren Willen, die aktive Zusammenarbeit im Rahmen des Nationalen Programms gegen Armut bis Ende 2018 fortzusetzen. Sie erklären gleichzeitig ihre Absicht, die Programmempfehlungen zum Anlass zu nehmen, bestehende Strategien und Massnahmen der Armutsprävention zu überprüfen und gegebenenfalls weiterzuentwickeln.
Fachliche Bilanz Die fachliche Annäherung an die verschiedenen Handlungsfelder der Armutsprävention – Chancengleichheit, soziale und berufliche Integration sowie allgemeine Lebensbedingungen – erfolgte einerseits über Referate, andererseits über Projektpräsentationen und -besichtigungen im Rahmen von Workshops. Zentrale, im Rahmen der Konferenz diskutierte Aspekte werden in den folgenden Abschnitten zusammengefasst.
Betroffene Menschen mit Hilfsangeboten erreichen Ein Referat der Fachdebatte richtete den Blick auf die wenig erforschte und verstandene Tatsache, dass viele Personen keine sozialstaatlichen Leistungen beziehen, obwohl sie darauf Anspruch hätten. Dies führt zu unsichtbarer Armut und dazu, dass die Lage armutsbetroffener Personen durch das bestehende System weniger als möglich verbessert wird. Das gilt für Geldleistungen genauso wie für andere Angebote wie Beratungsstellen, Treffpunkte oder Wohnhilfe. Anbieter müssen folglich den Gründen für die begrenzte Reichweite ihres Angebots nachgehen.
Chancengerechtigkeit gewährleisten Chancengerechtigkeit ist ein zentrales Ziel. Mehrere Workshops und Referate thematisierten mit der frühen Förderung und der Elternzusammenarbeit wichtige Instrumente zur Sicherung von Chancengerechtigkeit. Die frühe Förderung von Kindern ab der Geburt bis zum Eintritt in die obligatorische Schulzeit verhilft Kindern aus sozial benachteiligten Familien zum Ausbildungs- und Berufserfolg. Auch wirtschaftlich lohnen sich Investitionen in die frühe Förderung: Zum einen erzielen die geförderten Kinder als Erwachsene ein höheres Einkommen, zum anderen erhöhen vor allem ihre Mütter oft das Arbeitspensum, wenn sie ihre Kinder betreut wissen. Dadurch steigt das Einkommen der Familie, der Unterstützungsbedarf sinkt. Frühe Förderung ist dann wirksam, wenn die Qualität der Angebote stimmt. Hierfür müssen diese allen Kindern gleichermassen zugänglich sein. Das Personal muss ausgebildet sein und sich laufend weiterbilden. Die Lernangebote müssen zum Kind passen und die Eltern einbeziehen.
Eltern kommt eine Schlüsselrolle für die (früh-)kindliche Entwicklung zu. Für armutsbetroffene Eltern ist es schwierig, ihren Kindern ein anregendes Umfeld und gute Startchancen zu bieten. Sie sollen deshalb in ihren Beziehungs-, Betreuungs- und Erziehungskompetenzen gestärkt werden. Für eine gelingende Elternzusammenarbeit werden die Bezugspersonen zunehmend in die Bildungsprogramme einbezogen und Förderangebote zusammen mit den Eltern konzipiert. Zudem sollen diese befähigt werden, ihre Kinder bei der Berufswahl besser zu begleiten. Elternzusammenarbeit soll deshalb in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen mehr Gewicht erhalten.
Soziale und berufliche Integration fördern Bei erwerbsfähigen Erwachsenen verfolgt die Armutsprävention u. a. die gezielte Förderung der beruflichen und sozialen Integration armutsbetroffener oder -gefährdeter Menschen. Die Schulung von mathematischen und sprachlichen Grundkompetenzen bei Personen ohne Berufsabschluss, aber auch die Nachholbildung sind wichtige Instrumente hierzu.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass erwachsene Personen in der Nachholbildung andere Bedürfnisse haben als junge Auszubildende; insbesondere dann, wenn Verwandte in ihrem Haushalt leben, die wirtschaftlich von ihnen abhängig sind. Hier ist staatliche Unterstützung gefragt. Um den Lebensunterhalt während der Nachholbildung zu sichern, müssten z. B. Stipendien oder andere Unterstützungsleistungen in angemessener Höhe ausgerichtet werden. Zudem kann die Nachholbildung für Erwachsene oft auf Vorwissen aufbauen. Für Zugewanderte kann bereits die Anerkennung ausländischer Diplome eine grosse berufliche Verbesserung bedeuten. Ein Coaching kann dazu beitragen, solche Möglichkeiten individuell abzuklären und zu nutzen.
Bei der beruflichen Integration spielen die Arbeitgeber eine entscheidende Rolle. In der Berufsbildung sind sie zusammen mit den Kantonen bereits stark engagiert.
Lebensbedingungen armutsbetroffener und -gefährdeter Menschen verbessern Günstiger Wohnraum und das Abwenden von Schulden, insbesondere in Familienhaushalten sind wichtige Instrumente zur Verbesserung der Lebensbedingungen Armutsbetroffener. Die Stiftung Casanostra beispielsweise bietet am Konferenzort Biel gut ausgebaute Wohnungen preisgünstig an. Ihre Mieterinnen und Mieter sollen mehr als ein Dach über dem Kopf haben und sich in ihrer Wohnung zu Hause fühlen. Dadurch sollen nachbarschaftliche Kontakte und die Integration im Quartier gefördert werden.
Eine günstige Wohnung entlastet das Budget für andere Fixkosten wie Steuern und Krankenkassenprämien. Sie sind die häufigsten Gründe für Zahlungsrückstände. Von Verschuldung und Armut sind Haushalte mit Kindern deutlich häufiger betroffen als Haushalte ohne Kinder. Das gilt umso mehr für Einelternhaushalte und Familien mit drei und mehr Kindern. Um der Überschuldung privater Haushalte vorzubeugen, wäre etwa an die Verbesserung der finanziellen Bildung zu denken.
Einiges ist in der Schweiz darüber bekannt, welche Gruppen wie stark von Armut betroffen sind und was dagegen zu tun ist. Rund zehn Kantone publizieren hierzu Sozialberichte, die sich jedoch im Inhalt und in der Nutzung stark unterscheiden. Manche beschreiben vor allem die Armutslage, andere beinhalten auch eine Sozialplanung. Das Interesse an den Sozialberichten als Grundlage für die politische Steuerung der Armutsprävention und -bekämpfung nimmt schweizweit zu und damit auch die Überlegungen, wie die Berichte harmonisiert und für politische Entscheidungen genutzt werden könnten.