Kommunale Strategien und Massnahmen gegen Familienarmut

Gegen eine Viertelmillion Kinder und deren Eltern sind von Armut betroffen. Viele von ­ihnen leben in Einelternhaushalten oder Migrationsfamilien. Die Gemeinden können ­dieses Problem nicht im Alleingang lösen. Aber sie haben in der Prävention und ­Bekämpfung von Familienarmut wichtige Aufgaben.
Heidi Stutz
  |  03. März 2017
    Forschung und Statistik
  • Armut
  • Familie

Familienarmut steht oft im Fokus, weil sie ein Risikofaktor ist für die Entwicklungschancen von Kindern und dazu führen kann, dass auch sie lebenslang armutsgefährdet bleiben. Städte und Gemeinden prägen die Lebensbedingungen und Chancen von armutsgefährdeten Familien und ihren Kindern vor Ort. Deshalb kommt ihnen eine wichtige Rolle zu. Häufig können und müssen sie sich bei ihren Leistungen auf den Kanton, regionale Zusammenarbeit oder private Anbieter und Hilfswerke stützen, aber grundsätzlich haben sie einen grossen Gestaltungsspielraum. Um für Gemeinden geeignete Strategien und Massnahmen zu identifizieren, gab das Nationale Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut eine Studie in Auftrag.

Forschungsansatz Die Bestandsaufnahme (Stutz et al. 2017) in 15 grösseren Gemeinden und Städten1 in der ganzen Schweiz zeigt, was diese bereits für die Prävention und Bekämpfung von Familienarmut tun und wo sie Handlungsbedarf orten. Armut und deren Prävention umfassen viele Lebensbereiche. Entsprechend vielfältig sind die in der Bestandsaufnahme untersuchten Themen. Sie umfassen Geldleistungen, Wohnen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Förderung der Erwerbsintegration von Eltern mit Kinderbetreuungsaufgaben, soziale Teilhabe und Integration, Nachholbildung für Eltern mit Kinderbetreuungsaufgaben, Information, Beratung und Begleitung sowie Chancengerechtigkeit für die Kinder. Die Bestandsaufnahme wurde ergänzt durch eine Aufarbeitung der Fachliteratur.

Erkenntnisse aus der Literatur Gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Empfehlungen internationaler Gremien wie UNICEF, OECD und EU lassen sich folgende Strategien zur Prävention von Familienarmut identifizieren:

  • Erwerbschancen armutsgefährdeter Eltern verbessern:Damit Eltern langfristig dank besseren Löhnen ihren Lebensunterhalt selbstständig bestreiten können, sind Investitionen in ihre Berufsausbildung und gute Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf wichtig.
  • Gutes Aufwachsen und Chancengerechtigkeit für die Kinder: Empfohlen wird, deutlich mehr Mittel in den Vorschulbereich und die frühe Förderung zu investieren, und in der Schulzeit die Mittel stärker auf benachteiligte Kinder zu fokussieren. Auch die Wohnverhältnisse und das unmittelbare Lebensumfeld im Quartier prägen die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern. Zudem sind die Chancen sozialer Teilhabe davon beeinflusst, ob Sport- und Freizeitangebote vorhanden und für einkommensschwache Familien zugänglich sind.
  • Nicht ohne die Eltern: Massnahmen erreichen mehr, wenn sie auch die Eltern fördern, unterstützen und sie konsequent einbeziehen.
  • Frühzeitig in Menschen investieren, um langfristige Probleme zu vermeiden: Empfohlen werden präventive, integrierende und begleitende Massnahmen für armutsgefährdete Familien.
  • Kräfte bündeln und vernetzen: Gute Einzelprojekte können ihre volle Wirkung nur entfalten, wenn sie sich auf Grundstrukturen stützen können, die allen Familien Chancen eröffnen, und wenn alle relevanten Angebote aufeinander abgestimmt sind. Dies bedingt Koordination und Kooperation über die Angebots- und Departementsgrenzen hinaus.
  • Zugangsprobleme im Auge behalten:Unterstützende Angebote erreichen oft jene Familien schlecht, die am meisten darauf angewiesen wären. Diesem Phänomen ist die nötige Beachtung zu schenken.
  • Potenzial in der Nachbarschaft und im Quartier mobilisieren: Chancen für Gemeinden bieten die gegenseitige Unterstützung und das zivilgesellschaftliches Engagement in den Quartieren. Durch Mitsprache und Beteiligung der örtlichen Bevölkerung kann eine Gemeinde die Selbsthilfe fördern, statt Programme von oben herab umzusetzen.

Diesen Erkenntnissen aus der Literatur werden im Folgenden die Ergebnisse der Bestandsaufnahme aus den 15 untersuchten Gemeinden gegenübergestellt.

Kommunale Stossrichtungen und Struk­turen Viele Gemeinden verfügen nicht über Gesamtstrategien gegen Familienarmut, aber über konzeptionelle Grundlagen in einzelnen Bereichen, die im Kampf gegen Familienarmut relevant sind. Meistens ist auch keine einzelne Fachstelle oder Behörde für Familienarmut zuständig. Teilweise hat jedoch eine Verwaltungsstelle die Federführung und sorgt dafür, dass die nötigen Kooperationsnetzwerke quer durch die Departemente und bis hin zu den involvierten privaten Akteuren entstehen und aufrechterhalten werden. Klar geregelte Strukturen der Zusammenarbeit kennt nur die Stadt Zürich. In anderen Gemeinden sind es die zuständigen Fachpersonen, die sich über die Grenzen ihrer Dienste hinweg austauschen und miteinander kooperieren. Die Gemeinden beurteilen das bei ihnen vorhandene Fachwissen in Sachen Familienarmut und die Qualität der Angebote generell als gut. Aber die Massnahmen greifen nicht immer ineinander, zielen nicht gebündelt in die gleiche Richtung und entfalten dadurch nicht ihr volles Potenzial.

Monetäre Leistungen auf Gemeindeebene In der Sozialhilfe sind die Spielräume der Gemeinden meistens begrenzt. Es sind mehrheitlich die Kantone, welche die Regeln der Existenzsicherung definieren. Darüber hinaus können die Gemeinden Armutsbetroffenen jedoch ermöglichen, an Fördermassnahmen teilzunehmen. Die Praxis ist sehr unterschiedlich und hängt auch mit der Finanzkraft einer Gemeinde zusammen. Weiteren familienbezogenen Geldleistungen auf Gemeindeebene kommt von der Gesamtsumme her keine grosse Bedeutung zu. Aber die punktuellen Hilfen zur Vermeidung von Verschuldung, die Verbilligung von Sport- und Freizeitaktivitäten für Kinder und Jugendliche sowie objektfinanzierte Treffpunkte und Freizeitanlagen sind für einkommensschwache Familien wichtig. Solche Unterstützungen bestehen in praktisch allen Gemeinden und sind politisch weitgehend unbestritten.

Zugang zu Wohnraum Familien mit tiefem Einkommen finden nur mit grosser Mühe eine geeignete Wohnung. Daher betreiben alle grossen Städte eine aktive Wohnpolitik, die auch Hilfe bei der Wohnungssuche und Wohnbegleitung umfasst. Genf, Basel und Lausanne zahlen bei Bedarf Mietzinsbeiträge. Die untersuchten Regionalstädte und sonstigen grossen Gemeinden engagieren sich seltener. Teils haben sie ausreichend freie Wohnungen. Teils bestehen politische Vorbehalte, weil bei einem grösseren Angebot an günstigen Wohnungen Neuzuzüge von Personen mit Unterstützungsbedarf befürchtet werden.

Vereinbarkeit von Familie und Beruf Besonders im Vorschulbereich fehlen noch an verschiedenen Orten Betreuungsplätze für Kinder. Im Schulalter ist die Betreuung während der Schulferien nicht überall kompatibel mit einer Erwerbsarbeit. Ansonsten sind für einkommensschwache Familien in gewissen Gemeinden vor allem hohe Preise für Kinderbetreuung ein Problem. Die Betreuungsquoten unterscheiden sich stark. Zürich deckt im Vorschulalter mit einer Betreuungsquote von 68 Prozent den Bedarf noch nicht. Daran lässt sich ermessen, dass auf viele Gemeinden mit teils bedeutend tieferen Quoten eine grosse Aufgabe zukommt.

Förderung der Erwerbsintegration von Eltern mit Kinderbetreuungsaufgaben Insbesondere Mütter mit Kinderbetreuungsaufgaben werden bei der Förderung der Erwerbsintegration durch Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe oft übersehen. Man konzentriert sich auf Personen, die sofort ein hohes Pensum antreten können. Mütter haben vielerorts kaum Zugang zu arbeitsmarktlichen Massnahmen und berufsbezogener Förderung. Die Bestandsaufnahme zeigt, dass diesbezüglich nur ein langsames Umdenken einsetzt. Die fehlende Förderung widerspricht jedoch einer Armutspolitik, die auf eine bessere Erwerbsintegration abstützen will, wie dies nun auch die neuen SKOS-Richtlinien 2017 tun. Sie verlangen eine Erwerbstätigkeit von Alleinerziehenden, sobald das jüngste Kind ein Jahr alt ist. Bisher waren es drei Jahre.

Soziale Integration Die untersuchten Gemeinden tun viel, um auch Kindern und Jugendlichen aus ärmeren Familien gute Freizeitmöglichkeiten zu bieten und dadurch auch eine gute soziale Integration zu fördern. Auch sozialräumliche Ansätze der Quartierentwicklung werden von etlichen Gemeinden als sehr wichtig für die Teilhabe und den Zusammenhalt insgesamt erachtet. Sie setzen auf nutzernahe, von der Bevölkerung mitgestaltete, vernetzte Angebote und Begegnungsmöglichkeiten.

Integrationsförderung und Nachhol­bildung für Eltern mit Kinderbetreuungs­aufgaben Praktisch in allen untersuchten Gemeinden bestehen Integrations- und Basissprachkurse für Eltern. Oft vermitteln diese Kurse auch Informationen zum Funktionieren der Schule. Deutlich seltener finden sich auf Eltern mit Kinderbetreuungsaufgaben ausgerichtete Massnahmen, um arbeitsmarktrelevante Ausbildungen nachzuholen. Ein fehlender Zugang zu Ausbildungschancen wirkt hier als Armutsfalle.

Information, Beratung und Begleitung Die Informations- und Beratungsangebote sind in den untersuchten Gemeinden gut ausgebaut. Sie erreichen jedoch sozial benachteiligte und fremdsprachige Familien oft nur schwer. Um dies zu verbessern, setzen die Gemeinden auf interkulturelle Übersetzung, eine allgemein zugängliche Sozialberatung, eine bessere Vernetzung der Angebote, den Zugang zu Familien über Kinderbetreuungsstrukturen und Schulen, den Einbezug von Schulsozialarbeit und Integra­tionsfachstellen sowie das Zusammenlegen von Angeboten am gleichen Ort im Quartier. Je schwieriger die Situation einer Familie ist, desto wichtiger werden intensivere und entsprechend teurere Massnahmen der Entlastung und Begleitung. Viele Gemeinden kennen freiwillige Angebote von aufsuchender Familienarbeit und Familienbegleitung. Sie verweisen aber diesbezüglich auch auf Finanzierungsprobleme.

Chancengerechtigkeit für die Kinder Gute Tagesbetreuungsstrukturen werden am häufigsten als wirksame Massnahme für mehr Chancengerechtigkeit genannt. Die Bestandsaufnahme dokumentiert darüber hinaus zahlreiche neue Massnahmen der frühen und über die ganze Schulzeit fortgesetzten Förderung benachteiligter Kinder in den Gemeinden. Klar ersichtlich ist, dass die Haltung und das Engagement der Schule eine sehr wichtige Rolle spielen. Es zeichnet sich ab, dass mit der gezielten Förderung benachteiligter Kinder ein Weg beschritten wurde, der sich aus Sicht der Verantwortlichen bewährt und der politisch kaum bestritten ist, wenngleich immer die Gefahr besteht, dass in Sparrunden finanzielle Mittel gestrichen werden, da es sich bislang nicht um eine gesetzliche Aufgabe handelt.

Zusammenfassende Einschätzungen Die meisten der untersuchten Gemeinden setzen sich intensiv mit der Prävention und Bekämpfung von Familienarmut auseinander. Es ist viel Wissen vorhanden, mancherorts bestehen vielversprechende Einzelprojekte. Es hat sich einiges bewegt. Gleichzeitig erweist es sich als eine anspruchsvolle Aufgabe, eine präventiv wirkende Politik gegen Familienarmut über verschiedene Verwaltungsbereiche hinweg aufzubauen. Dies stellt hohe Anforderungen an Kooperation und Koordination. Verantwortliche sind auf Unterstützung anderer Stellen angewiesen, die ihre Aufgabe nicht a priori in der Armutsbekämpfung sehen. Dazu gehören beispielsweise Kinderbetreuungsstrukturen, Schulen oder die Stadt- und Raumplanung. Überall ist dieser Umbauprozess von einem versorgenden zu einem präventiver wirkenden Ansatz jedoch zumindest ein Stück weit im Gang.

Das Tempo des Umbaus wird vielerorts gebremst durch Finanzprobleme. Mangels Finanzierung können oft Projekte nicht realisiert werden, die an sich wirtschaftlicher wären und eine bessere Kosten-Nutzen-Bilanz aufweisen würden als das bestehende System. Je knapper die Mittel, desto wichtiger ist, dass die Prioritäten richtig gesetzt sind. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD empfiehlt zwei Punkte zu priorisieren, nämlich 1. Familien möglichst schnell aus potenziell langfristigen Problemlagen zu holen sowie 2. benachteiligte Kinder früh und fortgesetzt zu fördern. Die untersuchten Gemeinden legen grösseres Gewicht auf den zweiten Ansatz als auf den ersten. Die grössten Gruppen von Familien mit langfristigen Problemen sind Alleinerziehende und Migrationsfamilien mit tiefqualifizierten Eltern. Hier fehlt eine wirksame Unterstützung für Alleinerziehende. Und es bestehen kaum Bildungschancen für Eltern ohne Berufsabschluss. Zu ergänzen ist, dass es nicht an den Gemeinden alleine ist, die Schwierigkeiten besser zu lösen. Die Gemeinden fordern denn auch wiederholt die engagiertere Kooperation von Bund und Kantonen im Kampf gegen Familienarmut.

  • Literatur
  • Stutz, Heidi (2017): Kommunale Strategien und Massnahmen gegen ­Familienarmut; [Bern: BSV]. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht in Vorb.: www.bsv.admin.ch > Publikationen & Service > Forschung und Evaluation > Forschungspublikationen.
  • 1. Die Erhebung umfasst die fünf grossen Städte Zürich, Genf, Basel, Lausanne und Lugano, die fünf Regionalstädte Biel, La Chaux-de-Fonds, Fribourg, Wil SG und Olten sowie die fünf grossen Gemeinden Kriens, Dietikon, Glarus Nord, Martigny, Herisau. Vertiefende Gruppengespräche mit den wichtigsten involvierten Akteuren wurden in Zürich, Lausanne, Lugano, Biel, Kriens und Martigny geführt.
Lic. phil. hist., Mitinhaberin, und Bereichsleiterin 
Familienpolitik und Gleichstellung von Frau und Mann, Bürs für arbeits- und sozialpolitische 
Studien BASS AG.
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