Im Mai dieses Jahres hat der Bundesrat die Botschaft zum Bundesgesetz über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung an das Parlament überwiesen (Bundesrat 2019). Diese schlägt u. a. auch Massnahmen zur Unterstützung von Eltern mit einem schwer behinderten oder kranken Kind vor. Der Fokus ist dabei auf besonders pflegeintensive Phasen gerichtet, etwa medizinische Notfälle oder lange Spitalaufenthalte. In solch belastenden Situationen sind mehr Flexibilität vonseiten der Arbeitgeber und finanzielle Verbesserungen für Familien dringend nötig; sie schützen die Gesundheit der Betroffenen und erleichtern auch die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Betreuungspflichten.
Die Frage, ob und in welchem Umfang Eltern mit Pflegeaufgaben berufstätig bleiben können, stellt sich jedoch auch für die Zeit, in der das Kind zu Hause ist. Erste Weichen werden hier bei Bekanntwerden der Diagnose gestellt, bei angeborenen Behinderungen nach der Geburt und manchmal auch schon während der Schwangerschaft. Ist das Baby erst einmal auf der Welt, erleben die Eltern einen hektischen Alltag, der mit Terminen für Untersuchungen, Therapien und Abklärungen, Anträgen für Hilfsmittel oder baulichen Anpassungen der Wohnung und vielen weiteren Verpflichtungen gefüllt ist. Dazu kommt die Sorge um die Gesundheit des Kindes und die Ungewissheit über seine Entwicklung. Hilfe von Familienangehörigen oder Entlastungsdiensten wäre sehr willkommen, ist jedoch vor allem zu Beginn oft schwierig zu organisieren. Die Eltern müssen die Diagnose zuerst verarbeiten, sich mit ihrem Kind und seinen Bedürfnissen vertraut machen und lernen, damit umzugehen. Häufig ist die Beanspruchung derart hoch, dass ein Elternteil – in den meisten Fällen die Mutter – über kurz oder lang die Erwerbstätigkeit aufgibt, um sich voll der Betreuung des beeinträchtigten Kindes und allenfalls vorhandener gesunder Geschwister zu widmen. Der Austritt aus dem Erwerbsleben verschafft zwar Zeit, kann eine betroffene Familie aber auch in finanzielle Not bringen. Für Alleinerziehende mit einem schwerbehinderten Kind ist ein solcher Einkommensverzicht meist gar nicht verkraftbar.
Eltern als Experten in eigener Sache Die im Verein visoparents schweiz organisierten Eltern kennen die Anforderungen, welche die dauerhafte Pflege und Betreuung eines schwerbehinderten oder chronisch kranken Kindes mit sich bringt, aus eigener Erfahrung. Neben der optimalen und integrativen Förderung ihres Kindes war für diese Eltern Entlastung von jeher ein existenziell wichtiges Thema. Mit betreuten Nächten, Wochenenden und einer bis zwei Ferienwochen im Jahr sowie einem wöchentlichen Spieltreff für behinderte Kinder in Winterthur und einem zweiten Spieltreff am Sitz der Geschäftsstelle in Dübendorf konnte visoparents schweiz dieses Bedürfnis ab Beginn der Nullerjahre wenigstens zum Teil abdecken.
Doch das genügte nicht. Eine Umfrage bei den Mitgliedern zeigte, dass vielen Eltern nur mit einem Krippenplatz wirklich geholfen wäre. Krippenplätze waren zu jener Zeit jedoch generell noch Mangelware. Und in den vorhandenen Krippen waren Kinder mit Behinderung nicht vorgesehen, schon gar nicht solche mit schweren Beeinträchtigungen, die nicht nur bei einem medizinischen Notfall intensiv betreut werden müssen.
Integration mit umgekehrten Vorzeichen Das Fehlen von ausserfamiliären Betreuungsmöglichkeiten für Kinder mit Behinderung führte im Vorstand von visoparents schweiz zur Idee, eine eigene Kita zu gründen. Schnell zeigte sich jedoch, dass eine Krippe nur für behinderte Kinder nicht zu finanzieren war. Statt nun aber weiter zu warten, bis die regulären Kitas vielleicht doch eines Tages ihre Türen auch für behinderte Kinder öffnen würden, beschloss der Vorstand, den Spiess umzudrehen: Der Elternverein visoparents schweiz würde sein Ideal einer Kita für alle Kinder selbst verwirklichen.
Optimale Startbedingungen des Projekts «Kinderhaus Imago» haben zweifellos massgeblich zu seinem späteren Gelingen beigetragen: Mit dem Spieltreff in Dübendorf waren bereits geeignete Räumlichkeiten am Sitz des Vereins vorhanden. Auch personell waren die Voraussetzungen ideal: Die mit der Umsetzung des Vorhabens beauftragte Fachfrau, Sonja Kiechl, war beruflich nicht nur bestens für diese Aufgabe qualifiziert, sondern auch selbst Mutter eines behinderten Kindes. Dadurch kannte auch sie die Bedürfnisse betroffener Eltern genau. Das Projekt wurde zielstrebig und in guter Zusammenarbeit mit der Gemeinde Dübendorf vorangetrieben. Im Sommer 2008 konnte das erste Kinderhaus «Imago» für Kinder mit und ohne Behinderung sein Eröffnungsfest feiern. 2016 folgte das zweite Kinderhaus «Imago» in Baar im Kanton Zug.
Die Kita als flexible, ständig lernende Organisation Von wenigen Anpassungen abgesehen, hat sich das Konzept seit 2008 nicht verändert. Ein freier Platz vorausgesetzt, nehmen die Kinderhäuser «Imago» grundsätzlich jedes Kind auf, sofern sein Gesundheitszustand den Transport in die Kita erlaubt. Dahinter stehen das Wissen und die Erfahrung, dass regelmässige und vielseitige soziale Kontakte zu gleichaltrigen Kindern umso wichtiger sind, je schwerer ein Kind in der Erkundung der Welt durch seine Behinderung eingeschränkt ist (Sarimski 2004).
Die Betreuung aller Kinder erfolgt weitestgehend durch das eigene interdisziplinäre «Imago»-Team. Dieses deckt folgende Fachbereiche ab:
- FaBe Kind
- FaBe Behinderung
- Sozialpädagogik (FH und HF)
- Kindererziehung (FH)
- (Kinder-)Krankenpflege
- Heilpädagogische Frühförderung
In diesen Berufen bieten die Kinderhäuser «Imago» auch Ausbildungs- und Praktikumsplätze an. Der Anteil diplomierter Fachkräfte beträgt mindestens zwei Drittel. Externe Fachressourcen werden gezielt und nur dann eingeholt, wenn ein Kind eine medizinisch-pflegerische Massnahme benötigt, die von einer entsprechend ausgebildeten Fachperson ausgeführt werden muss, die intern nicht verfügbar ist. In der Praxis kommt dies selten vor und betrifft immer Kinder mit schweren, komplexen gesundheitlichen Einschränkungen. Bei diesen Kindern ist der Betreuungsschlüssel häufig 1:1; hier arbeiten die Kinderhäuser «Imago» bei Bedarf eng mit der Kinderspitex zusammen.
Um möglichst viele behinderungsspezifische Betreuungsaufgaben kompetent erfüllen zu können, absolvieren die Mitarbeitenden der «Imago»-Teams regelmässig Schulungen und Fortbildungen, beispielsweise in Sondenernährung oder im Umgang mit Trachealkanülen.
Leitgedanke ist, dass jedes Kind, ungeachtet der Schwere und der Art seiner Behinderung, so gut betreut wird, wie es zu Hause der Fall wäre. In der Familie durchgeführte alltägliche Fördermassnahmen werden auf Wunsch der Eltern auch in den Kinderhausalltag eingebaut.
Sprachliche und kulturelle Vielfalt Der letztgenannte Anspruch hat zur Folge, dass das zuständige Team bei Bedarf eine bestimmte Schulung oder Fortbildung eigens für ein neu eintretendes Kind absolviert. Auf diese Weise entsteht ein immer grösseres Fach- und Erfahrungswissen im Umgang mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen, von seltenen Syndromen über Hirnverletzungen bis zum Wachkoma.
Rund 50 Prozent der bewilligten Kita-Plätze sind für Kinder mit Behinderungen vorgesehen. Den grössten Anteil bilden zurzeit Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen. Aufgenommen werden Kinder ab drei Monaten bis zum Eintritt in den Kindergarten. Bei schwer beeinträchtigten Kindern findet sich nicht immer sofort eine Anschlusslösung. In solchen Situationen kann das betroffene Kind auch länger im Kinderhaus «Imago» bleiben.
Die Kinderhäuser «Imago» verfügen auch über eine breite Palette an Hilfsmitteln sowie über ein stetig wachsendes Know-how darüber, wie ein solches jeweils ohne grossen Aufwand an die spezifischen Bedürfnisse und Fähigkeiten eines bestimmten Kindes angepasst werden kann.
Alle Mitarbeitenden und auch die Kinder wenden in der Kommunikation im Alltag ergänzend Gebärden und Piktogramme an. Dies kommt auch jenen Kindern mit und ohne Behinderung zugute, die eine andere Muttersprache als Deutsch haben.
Das Konzept der konsequent kindzentrierten Bedarfsanalyse führt dazu, dass in den Kinderhäusern «Imago» nicht nur das pädagogische und heilpädagogische sowie das behinderungsspezifische Fach- und Erfahrungswissen permanent erweitert wird, sondern auch das Wissen über den Umgang verschiedener Kulturen mit Behinderung. Zurzeit kommen die Kinder der Kinderhäuser «Imago» aus zwanzig Nationen.
Diese Vielfalt erfordert eine hohe organisatorische Flexibilität und gleichzeitig – im Idealfall – personelle Stabilität, insbesondere bei den Mitarbeitenden mit Leitungsfunktion. Da die Eltern in alle Entwicklungsschritte einbezogen werden, trägt die Arbeitsweise der Kinderhäuser «Imago» auch zum Empowerment (Befähigung) der Eltern bei. All dies deckt sich weitgehend mit den Anforderungen des «Index für Inklusion», der speziell für die praktische Umsetzung von Inklusion in Tageseinrichtungen für Kinder eine wertvolle Arbeitshilfe darstellt (Booth et al. 2004).
Kind als Ausgangs- und Mittelpunkt Ob zur optimalen Betreuung und Teilnahme eines Kindes an allen Aktivitäten eine Schulung und organisatorische, infrastrukturelle oder andere Massnahmen nötig sind, wird vor dem Eintritt jedes Kindes von der Kinderhausleitung gemeinsam mit allen Beteiligten abgeklärt. Neben den Eltern sind dies je nach Situation der Haus- oder Kinderarzt, Ärzte des Kinderspitals bzw. des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes, Fachleute der Ergo- und Physiotherapie sowie der Ernährungsberatung, externe und interne heilpädagogische Früherzieherinnen sowie allenfalls Mitarbeitende der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB).
Auf der Grundlage dieser Besprechungen entscheidet die Kinderhausleitung, ob und was das Kinderhaus ergänzen oder anpassen muss, um den eigenen Anspruch zu erfüllen: die bestmögliche Betreuung und Förderung des eintretenden Kindes. Die Frage lautet somit nicht: «Können wir dieses Kind aufnehmen?», sondern: «Was müssen wir tun, damit dieses Kind bei uns optimal betreut werden kann?».
Richtung stimmt Mit seinen Grund- und Handlungsleitsätzen liegt visoparents schweiz nahe an den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK), die im Gründungsjahr des ersten «Imago»-Kinderhauses in der Schweiz allerdings noch kaum ein Thema war. Notwendig – im Sinn einer inklusionsorientierten Qualitätsentwicklung – wäre in Zukunft auch eine systematische Auseinandersetzung des Personals aller Stufen mit den Bedingungen von Inklusion und Exklusion im eigenen Setting und ebenso in der Gesellschaft. Für eine Auseinandersetzung auf dieser Stufe sowie überhaupt mit dem theoretischen Überbau des Inklusionsgedankens fehlt es im Alltag der Kita jedoch an Ressourcen. Für die Kinder spielt dieser Überbau überdies keine Rolle. Sie wollen einfach sicher und geborgen mit anderen spielen, lernen, streiten, weinen und lachen, wie alle Kinder dieser Welt.
Bemerkenswert ist, dass die konsequente Teilhabe auch der schwerstbeeinträchtigten Kinder an sämtlichen Aktivitäten der Kinderhäuser «Imago» für die Eltern der nichtbehinderten Kinder kein Thema zu sein scheint. Im Gegenteil: Manche Eltern wählen für ihr Kind gerade deshalb das Kinderhaus «Imago» als Kita. Auch die Eltern der behinderten Kinder erleben keine Ablehnung: «Wenn ich zum Beispiel an einem Elternabend auf das Anderssein meines Jüngsten angesprochen wurde, dann geschah dies immer aus positivem Interesse und nicht, weil seine Anwesenheit als etwas Besonderes wahrgenommen wurde», erinnert sich eine Mutter, deren drei Kinder alle das Kinderhaus «Imago» besucht haben.
Finanzierung als bleibende Herausforderung Nach den Erfahrungen in den Kinderhäusern Imago ist es somit nie die mitunter sehr anforderungsreiche Vielfalt der Kinder, die eine integrative Kita an ihre Grenzen bringt, sondern die Finanzierung der teilweise hohen Betreuungsschlüssel und des fachlichen Know-hows im Umgang mit unterschiedlichsten, auch sehr schweren Beeinträchtigungen.
Ein Kita-Platz für ein Kind mit komplexem Betreuungsbedarf kostet durchschnittlich rund 450 Franken pro Tag. Die Eltern bezahlen den regulären Grundbeitrag. Dessen Höhe hängt vom Einkommen und vom Finanzierungsmodell der Wohngemeinde der Familie ab. An den behinderungsbedingten Kosten beteiligen sich die Gemeinden ebenfalls unterschiedlich: Einige übernehmen die ganzen effektiven Kosten bis hin zu 800 Franken pro Tag, andere beteiligen sich nur teilweise oder nur unter bestimmten Bedingungen. Bei den Finanzierungsgesuchen hilft die zuweisende Stelle (z. B. Sozialdienst, Kinderspital, Kinder- und Jugendhilfezentrum, Mütter-/Väterberatung) oder die Eltern- und Fachberatung von visoparents schweiz, die sich am Standort der Kita in Dübendorf befindet. Es kommt immer wieder vor, dass Finanzierungslücken durch Spenden gedeckt werden müssen. Grundsätzlich soll die Finanzierung kein Hinderungsgrund für den Besuch des Kinderhauses «Imago» sein.
Entlastung als unverzichtbarer Teil der Vereinbarkeit Die Entlastungsmöglichkeiten, welche die Kinderhäuser «Imago» über Nacht, an Wochenenden und in den Schulferien anbieten, sind sehr gefragt. Auch dieses zusätzliche Angebot wird grösstenteils über Spenden finanziert. Es ist ein weiterer unverzichtbarer Baustein für die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Betreuungsaufgaben für Eltern von Kindern mit schweren Behinderungen.
Insgesamt spielt auch die Qualitätsentwicklung eine zentrale Rolle. Damit Eltern ihr Baby oder Kleinkind – erst recht eines mit einer schweren Behinderung – vorübergehend loslassen können, müssen sie darauf vertrauen können, dass es in jeder Hinsicht kompetent betreut wird. Qualitätslabels sind hierfür eine Bestätigung von aussen (beide Kinderhäuser «Imago» sind «Quali-Kita»-zertifiziert.) Für das Vertrauen der Eltern ist jedoch letztlich entscheidend, was im Alltag geschieht. Freut sich ein Kind am Morgen auf die Kita, ist dies ein gutes Zeichen.
- Literatur
- Bundesrat (2019): Botschaft zum Bundesgesetz über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung vom 22. Mai 2019, in BBl 2019, 4103: www.admin.ch > Bundessrecht > Bundesblatt > 2019.
- Booth, Tony; Ainscow, Mel; Kingston, Denise (2015): Index für Inklusion. Lernen, Partizipation und Spiel in der inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln, Frankfurt am Main: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.
- Sarimski Klaus (2009): Frühförderung behinderter Kleinkinder. Grundlagen, Diagnostik, Intervention, Stuttgart: Hogrefe.
- SR 0.109 Übereinkommen [der Vereinten Nationen] über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention), abgeschlossen in New York am 13. Dezember 2006, in Kraft getreten für die Schweiz am 15. Mai 2014.