Betreuende Angehörige entlasten

Die Angehörigenbetreuung spielt für das Gesundheitssystem eine wichtige Rolle. Das ­Förderprogramm «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige 2017–2020» erforscht die Situation von betreuenden Angehörigen und leistet einen Beitrag, um die Rahmen­bedingungen zu verbessern.
Facia Marta Gamez, Pia Oetiker, Regula Rička
  |  23. Dezember 2019
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Betreuende Angehörige sind für eine hochwertige Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen in der Gesellschaft unverzichtbar. Es sind Menschen aller Altersgruppen, von Kindern bis zu Hochbetagten, denen es zu verdanken ist, dass ältere oder Kranke so lange wie möglich zu Hause leben können. Dies ist oft der Wunsch der Hilfsbedürftigen und wird vielfach auch von den betreuenden Angehörigen positiv gesehen.

Laut der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (2018) leisteten Angehörige in der Schweiz 2016 insgesamt 80 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit, indem sie nahestehende Personen ohne Entgelt betreuten oder pflegten. Nimmt man durchschnittliche Arbeitskosten von 45,50 Franken pro Arbeitsstunde an, entspricht dies einem Betrag von jährlich 3,7 Milliarden Franken (BFS 2016).

Auch wenn die Angehörigenbetreuung eine wichtige gesellschaftliche Ressource ist, kann nicht vorausgesetzt werden, dass Angehörige ihre unterstützungsbedürftigen Familienmitglieder so weit wie möglich selbst betreuen oder pflegen. Zumal viele betreuende Angehörige einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Sind sie zur Erfüllung dieser Aufgabe aber bereit, sollten sie gute Rahmenbedingungen vorfinden. Deshalb hat der Bundesrat 2014 den «Aktionsplan zur Unterstützung und Entlastung von betreuenden und pflegenden Angehörigen» ins Leben gerufen, der u. a. durch das Förderprogramm «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige» unterstützt wird. Das Förderprogramm hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 2016 im Rahmen der Fachkräfteinitiative-plus von Bund und Kantonen lanciert.

Förderprogramm «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige» Im Zeitraum von 2017 bis 2020 untersucht das Förderprogramm die Situation und die Bedürfnisse von betreuenden Angehörigen mit dem Ziel, Unterstützungs- und Entlastungsangebote bedarfsgerecht (weiter-)zuentwickeln. Denn betreuende Angehörige ­sollen in der Lage sein, ihre Erwerbstätigkeit weiterführen zu ­können.

Das Förderprogramm besteht aus zwei Teilen:

  • In Programmteil 1 werden anhand eines Forschungskatalogs Wissensgrundlagen erarbeitet. Im Vordergrund stehen dabei u. a. die Bedürfnisse betreuender Angehöriger, die finanzielle Tragbarkeit von Entlastungsangeboten sowie Massnahmen für eine bessere Vereinbarkeit von Angehörigenbetreuung und Erwerbstätigkeit (vgl. Tabelle T1).
  • In Programmteil 2 werden vorbildliche Angebote, Massnahmen und Instrumente zur Unterstützung betreuender Angehöriger dokumentiert. Zurzeit stehen auf einer Online-Datenbank Informationen zu rund 40 Beispielen guter Praxis zur Verfügung (www.bag.admin.ch/betreuende-­angehoerige > Suche Modelle guter Praxis). Bestimmte Themenschwerpunkte werden zusätzlich vertieft analysiert, so etwa der Tag der betreuenden Angehörigen und die Sorgekultur in Gemeinschaften (vgl. Informationen am Schluss des Beitrags).

Das Förderprogramm liefert somit Grundlagen und Orientierungshilfen für eine verstärkte Unterstützung der betreuenden Angehörigen in der Arbeits- und Bildungswelt. Ausserdem werden Planungsgrundlagen für Kantone, Städte und Gemeinden für die Weiterentwicklung bedarfsgerechter Strukturen geschaffen.

Erste Ergebnisse aus dem Programmteil 1 Das BAG hat im Rahmen des ersten Programmteils verschiedene Forschungsmandate vergeben. Mehr als die Hälfte der Mandate sind inzwischen abgeschlossen und ihre Forschungs­ergebnisse publiziert worden.

Ausgehend von den Schlussberichten der Forschungsberichte, die bereits vorliegen, werden nachfolgend ausgewählte erste Resultate zu den zentralen Fragen aus dem Forschungskatalog des ersten Programmteils vorgestellt. Sie geben erste Hinweise auf die Bedürfnisse Angehöriger und die wirtschaftliche Situation ihrer Haushalte und zeigen, dass auch die Arbeitgeber sich häufiger als vermutet mit den Herausforderungen konfrontiert sehen, die sich stellen, wenn Angestellte neben der Erwerbsarbeit Angehörige betreuen.

Situation und Bedürfnisse betreuender ­Angehöriger Den ersten Studienergebnissen zufolge gibt es in der Schweiz schätzungsweise 592 000 betreuende Angehörige. Davon sind 543 000 mindestens 16 Jahre alt, was einem Anteil an der ständigen Wohnbevölkerung von rund 7,6 Prozent entspricht. Im Alterssegment zwischen Mitte 40 und ca. 60 Jahren ist die Anzahl der betreuenden Angehörigen überproportional hoch (vgl. Grafik G1). Die Forschung bestätigt hier die Ergebnisse früherer Erhebungen, wonach erwachsene Angehörige während mehrerer Stunden pro Woche Betreuungsaufgaben übernehmen, und dies oft über mehrere Jahre hinweg. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Erwerbstätigkeit mit steigender Betreuungsintensität sinkt.

Betreuende Angehörige wenden viel Zeit für Koordinationsaufgaben auf. Neben den eigenen Verpflichtungen kümmern sie sich um finanzielle Angelegenheiten, vereinbaren Arzttermine, koordinieren Spitex-Einsätze oder organisieren Fahrdienste. Diese Aufgaben wollen Angehörige möglichst lange selbst erledigen. Sie wünschen sich aber eine Vereinfachung des Zugangs zu Informationen, Begleitung und Entlastung – besonders bei Verwaltungsbelangen und juristischen Angelegenheiten. Oft stimmen aber Angebot und Nachfrage nicht überein: Viele betreuende Angehörige finden keine passende Unterstützung oder die professionelle Hilfe erreicht sie nicht. Wie eine weitere Studie zeigt, wird Entlastung erst angenommen, wenn es nicht mehr anders geht. Der Einstieg in die Betreuung erfolgt deshalb meistens erst in einer kritischen Situation, etwa wenn ein Angehöriger schwer erkrankt. Es ist daher wichtig, dass die betreuenden Angehörigen rechtzeitig entlastet werden, damit ihre eigene Gesundheit erhalten bleibt.

Finanzielle Situation von Haushalten mit ­Angehörigenbetreuung Haushalte, in denen Angehörige betreut werden, verfügen oft über ein überdurchschnittlich tiefes Einkommen. Die Gründe dafür sind vielfältig, wie eines der Forschungsmandate zeigt: Ein massgebender Faktor sind die Kosten für Betreuungs- und Entlastungsangebote. Inwieweit die Betreuungsaufgaben zu finanziellen Engpässen führen, ist jedoch von Kanton zu Kanton sehr unterschiedlich. Im Tessin werden diese Kosten beispielsweise zu einem grossen Teil vom Kanton abgegolten. Ausschlaggebend für die prekäre finanzielle Situation der Haushalte sind aber grundsätzlich Einbussen beim Erwerbseinkommen, sei es, dass ein Familienmitglied seine Erwerbsarbeit für die Übernahme von Betreuungsaufgaben einschränkt, sei es, dass ein Erwerbseinkommen wegfällt, weil ein Haushaltsmitglied arbeitsunfähig wird, sei es, weil beide Fälle zusammenkommen. Da ein grosser Teil der regelmässig betreuenden Angehörigen erwerbstätig ist, spielt die Vereinbarkeit von Betreuung und Erwerbsarbeit für deren finanzielle Situation also eine grosse Rolle.

Angehörigenbetreuung aus Arbeitgebersicht Die Umfrage im Rahmen eines weiteren Forschungsmandats zeigt, dass Angehörigenbetreuung auch aus Sicht der Arbeitgebenden kein Randphänomen ist: Ein Fünftel aller Betriebe in der Schweiz mit mindestens fünf Angestellten hat bereits Erfahrungen mit Mitarbeitenden gemacht, die Angehörige betreuen oder pflegen. Trifft der konkrete Fall ein, bemühen sich die Unternehmen aktiv, eine Lösung für die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung zu finden. Wenn aber kein solcher Fall vorliegt, befasst sich nur ein kleiner Teil der Betriebe mit der Thematik. Eine frühzeitige Sensibilisierung der Unternehmen ist deshalb von grosser Bedeutung.

Infobox zum Programmteil 2: Modelle guter Praxis

Porträts ausgewählter Schwerpunkte zur Entlastung betreuender Angehöriger

Sensibilisierungs- und Informationskampagne: 
Tag der betreuenden Angehörigen

Der Kanton Waadt lancierte 2012 am 30. Oktober den «Tag der betreuenden Angehörigen». Seither hat sich der Aktionstag zu einem interkantonalen, mehrtägigen Anlass entwickelt. Weitet sich das Format weiterhin aus, könnte der Tag in Zukunft auch schweizweit durchgeführt werden. Dies würde den Weg bahnen für die Würdigung und Sichtbarmachung des Engagements der betreuenden Angehörigen auf nationaler Ebene sowie eine Gelegenheit für die Sensibilisierung und Information der Öffentlichkeit bieten.

Sorgekultur in Gemeinschaften: betreuende Angehörige im Fokus

Privatwirtschaftliche, gemeinnützige und öffentliche Einrichtungen sowie Personen aus dem familiären Umfeld gehören zum Unterstützungssystem, das zum Tragen kommt, wenn Menschen wegen Krankheit oder aus Altersgründen auf Hilfe angewiesen sind. Die Dokumentation gibt Aufschluss darüber, wie aus diesen Elementen eine sozialräumlich orientierte Sorgekultur entstehen kann, und zeigt anhand von Initiativen aus der Schweiz, wie betreuende Angehörige dadurch entlastet werden.

Zusammenarbeit mit betreuenden Angehörigen: 
Aus- und Weiterbildungsangebote für Fachpersonen aus der Pflege und der Sozialen Arbeit

Betreuende Angehörige haben mit Fachpersonen aus dem Gesundheits- und Sozialbereich zu tun. Das Handeln dieser Fachpersonen kann entscheidend dazu beitragen, betreuende Angehörige in ihrer Rolle zu bestärken und bei ihrem Engagement zu unterstützen. Das Porträt zeigt auf, wie Bildungsinstitutionen Fachleute aus den Bereichen Pflege und Soziale Arbeit für diese Aufgabe aus- und weiterbilden.

Mobil trotz Einschränkung: 
begleitet unterwegs im privaten und öffentlichen Verkehr

Alter, Krankheit oder Behinderung können die eigenständige Mobilität stark einschränken. Damit Betroffene trotzdem mobil bleiben, sind sie auf Unterstützung und Begleitung angewiesen. Häufig können sie dabei auf das Engagement von Angehörigen zählen. Die Dokumentation zeigt auf, welche ergänzenden Angebote Betroffenen und ihren Angehörigen zur Verfügung stehen.

Anfang 2020 wird zudem ein Porträt zur Förderung des Selbstmanagements ­publiziert. Die vollständigen Porträts finden sich unter: www.bag.admin.ch/­betreuende-angehoerige > Programmteil 2: Modelle guter Praxis.

Weiterführende Informationen

Alle Studien des Programmteils 1, die in Tabelle T1 zusammengestellt sind bzw. in der Rubrik Literatur zitiert werden, sind über die Website des BAG als Projektbeschrieb und nach Projektende in einer Kurzfassung und/oder als Schlussbericht greifbar: www.bag.admin.ch > Strategie & Politik > Nationale Gesundheitspolitik > Förderprogramme der Fachkräfteinitiative plus > Förderprogramm «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige» > Programmteil 1: Wissensgrundlagen.

Die Datenbank aller dokumentierten Modelle guter Praxis finden sich unter: ­www.bag.admin.ch > Strategie & Politik > Nationale Gesundheitspolitik > Förderprogramme der Fachkräfteinitiative plus > Förderprogramm «Entlastungs­angebote für betreuende Angehörige» > Programmteil 2: Modelle guter Praxis.

Programmausblick bis Ende 2020 Bis zum Pro­gramm­ende 2020 werden noch vier weitere Forschungs­mandate abgeschlossen (vgl. Tabelle T1). Anschliessend wird das BAG einen Synthesebericht über alle im Rahmen des Förderprogramms durchgeführten Studien erstellen und Handlungsempfehlungen erarbeiten.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Sektion Nationale Gesundheitspolitik, Bundesamt für Gesundheit BAG.
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Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Sektion Nationale Gesundheitspolitik, Bundesamt für Gesundheit BAG.
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Programmkoordinatorin, Sektion Nationale Gesundheitspolitik, Bundesamt für Gesundheit BAG.
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