Zunächst zeigte sich Adrian Schmitter ziemlich enttäuscht. «Stellen Sie sich den Effizienzgewinn vor, wenn sich ein Arzt mit wenigen Klicks einen Überblick über die Krankengeschichte machen und anschliessend entsprechend handeln kann», schrieb der CEO des Kantonsspitals Baden während der Coronakrise im November 2020 in einem Gastkommentar in der «Aargauer Zeitung». «Gerade in der jetzigen Pandemie wäre ein elektronisches Patientendossier sehr hilfreich für Ärzte und Pflegefachleute.» Viele Coronapatienten seien polymorbid, das heisst, sie weisen mehrere andere Krankheiten auf. Mit einem raschen Zugang auf die wichtigsten Informationen «kämen die Vorteile der Digitalisierung voll zum Tragen.» Aber eben – «wäre», «hätte», «käme». Denn der Start mit dem elektronischen Patientendossier (EPD) im Spital Baden hatte kurz vorher verschoben werden müssen.
Einen Monat später war es dann soweit. Am 11. Dezember 2020 eröffnete der Aargauer Regierungsrat Jean-Pierre Gallati im Kantonsspital Baden das erste EPD der Schweiz. Er gab damit den Startschuss für die schrittweise Einführung in allen Versorgungsregionen. Auch für den Spital-CEO ein wichtiger Moment. «Jetzt können wir EPDs eröffnen und Daten ablegen», hielt Adrian Schmitter fest. «Was wir damit noch nicht haben, ist eine lebendige Datenbank, mit der wir im Alltag arbeiten können.»
Bis diese «lebendige Datenbank» schweizweit Realität ist, wird es aber noch etwas dauern. Zusammen mit dem Aargauer Projekt werden gegen zehn dezentrale Umsetzungsprojekte das EPD anbieten (siehe Übersichtskarte). Diese sog. Gemeinschaften sind organisatorische Verbünde von Gesundheitsfachpersonen und ihren Einrichtungen – z. B. Spitäler, Pflegeheime, Geburtshäuser, Arztpraxen, Apotheken, Spitex-Dienste, Reha-Kliniken oder Therapeuten. Es gibt regionale und nationale Gemeinschaften. Diese werden erst in die schweizweite EPD-Vernetzung aufgenommen, wenn eine Zertifizierungsstelle bestätigt hat, dass sie alle rechtlichen Vorgaben erfüllen. Ziel der Zertifizierung ist es auch, die hohen Anforderungen an den Datenschutz und die Datensicherheit zu überprüfen. Den Anfang machte im Dezember 2020 mit dem Kantonsspital Baden das Projekt «eHealth Aargau». Bis zum Abschluss der Verfahren zur Zertifizierung in allen Versorgungsregionen dürfte es Sommer 2021 werden.
In immer mehr Bereichen des Alltags haben die Menschen in der Schweiz dank digitaler Angebote ständig Zugang zu wichtigen Unterlagen und Informationen. So haben zum Beispiel drei Viertel der Bevölkerung mit E-Banking Zugang zum eigenen Bankkonto und bezahlen Rechnungen elektronisch. Im Gesundheitswesen aber sind Patienten häufig ohne Unterlagen oder unvollständig dokumentiert unterwegs. Das betrifft zum Beispiel den Austrittsbericht eines Spitals, den Pflegebericht der Spitex, die Übersicht der Medikamente oder Röntgenbefunde. Weil die Patienten ihren Behandelnden keinen Zugang zu den entsprechenden Informationen geben können, müssen sie in unterschiedlichen Versorgungsbereichen stets die gleichen Fragen beantworten. Erst wenn jeder an der Behandlung beteiligte Akteur – vom Arzt über die Apothekerin bis zur Spitex – über die nötigen Informationen verfügt, lassen sich zum Beispiel bei der Medikation Fehler verhindern. Aber auch in anderen Behandlungssituationen ist es für die Patienten wichtig, dass Ärzte, Apotheker oder Therapeuten bei ihren Entscheiden die wichtigsten Unterlagen zur Verfügung haben.
Kommunikation über veraltete Kanäle Gesundheitseinrichtungen und -fachpersonen arbeiten zunehmend digital. Allerdings zeigt der «eHealth-Barometer 2020», dass die interne Vernetzung – also der Datenaustausch innerhalb einer Institution – insgesamt immer noch doppelt so hoch ist wie die externe Vernetzung, der Austausch mit anderen Gesundheitsakteuren (GFS Bern 2020). Gesundheitsakteure tauschen sich untereinander nach wie vor häufig über analoge Kanäle wie das Fax oder Telefon über Behandlungen aus, obwohl in vielen Fällen mehrere Gesundheitsfachpersonen aus verschiedenen Institutionen an einer Behandlung beteiligt sind. Der Austausch per Mail hat zwar in den letzten Jahren zugenommen, aber damit ist nicht sichergestellt, dass auch die Patienten Zugang haben auf die relevanten Unterlagen. Der Austrittsbericht eines Spitals, der per Mail zum Hausarzt geschickt wird, nützt der Spitex-Mitarbeiterin nichts, wenn sie einen Patienten nach dem Spitalaustritt zu Hause betreuen muss. Es ist deshalb eines der Ziele des EPD, den Informationsaustausch zwischen verschiedenen Gesundheitseinrichtungen zu verbessern.
Die Einführung des EPD ist ein komplexes Zusammenspiel von rechtlichen, organisatorischen und technischen Voraussetzungen und zahlreichen Akteuren. Gemäss Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier (EPDG; SR 816.1) können alle Menschen in der Schweiz ein EPD eröffnen. Das Dossier ist freiwillig und kann jederzeit wieder gelöscht werden. Obwohl es «Patientendossier» heisst, muss man nicht krank sein, um ein EPD zu eröffnen. Auch eine gesunde Person kann ein EPD eröffnen. Ab dem Start in den Versorgungsregionen sind Akutspitäler, psychiatrische Kliniken und Reha-Kliniken verpflichtet, wichtige Informationen im EPD zu erfassen, wenn die Patienten das möchten. Pflegeheime sowie Geburtshäuser müssen sich bis Mitte April 2022 anschliessen. Für Arztpraxen, Apotheken, freischaffende Hebammen oder Spitex-Dienste ist die Teilnahme am EPD freiwillig.
Die an einer Behandlung beteiligten Gesundheitsfachpersonen können auf die im EPD verzeichneten Informationen nur zugreifen, wenn ihnen die Patienten ein Zugriffsrecht auf ihr EPD erteilt haben – denn sie bestimmen, wer welche Dokumente wann einsehen kann. Alle Zugriffe auf das EPD werden protokolliert und lassen sich von den Patienten nachverfolgen. Sie können ihr EPD online einsehen und selber Dokumente ablegen, z. B. einen Organspendeausweis, eine Patientenverfügung oder einen Operationsbericht, den sie bei sich zu Hause auf Papier aufbewahrt haben.
Zweckartikel im Bundesgesetz weist den Weg Mit der Beschreibung des EPD könnte dieser Text enden, wenn das Parlament im Zweckartikel des EPDG nicht Ziele verankert hätte, die über eine einfache digitale Datenablage als Ersatz von Fax- und Briefdokumenten hinausgehen. Demnach soll das EPD zusammen mit ergänzenden Massnahmen:
- die Qualität der medizinischen Behandlung stärken;
- die Behandlungsprozesse verbessern;
- die Patientensicherheit erhöhen;
- die Effizienz des Gesundheitssystems steigern;
- die Gesundheitskompetenz der Patientinnen und Patienten fördern.
koordinierte Versorgung Aufgrund der demografischen Alterung wird es immer mehr Menschen mit chronischen Krankheiten und Mehrfacherkrankungen geben. Die Behandlungsmöglichkeiten werden aufgrund des medizinisch-technischen Fortschritts weiter zunehmen und schwerkranke Menschen werden künftig länger leben. Menschen mit chronischen Krankheiten und Mehrfacherkrankungen beanspruchen mehr Leistungen des Gesundheitswesens als die durchschnittliche Bevölkerung: Sie benötigen zum Beispiel mehr Medikamente, suchen öfter eine Ärztin auf, konsultieren mehr unterschiedliche Fachleute, werden häufiger hospitalisiert und rehospitalisiert. Werden diese Leistungen mangelhaft koordiniert, kommt es zu Qualitätseinbussen, zu unnötigen Behandlungen und zu überflüssigen Kosten. In einem Leitfaden zur integrierten Versorgung halten die Kantone deshalb fest, dass «bei diesen Menschen der Einsatz des EPD besonders hilfreich ist» (GDK 2019).
Mehrere Erkrankungen – ein EPD
Hannes Hofer hat zunehmend gesundheitliche Probleme: Er leidet an Übergewicht, hohem Blutdruck und Diabetes. Kurz nach seiner Pensionierung hatte er einen ersten Herzinfarkt. Sein Hausarzt und die Herzspezialistin sind froh, dass Hannes Hofer ein EPD hat. So sind sie immer auf dem gleichen Wissensstand. Aufgrund des Diabetes hat Hannes Hofer zusätzlich eine schlecht heilende Wunde am Fuss, die intensiv von der Spitex gepflegt werden muss. Der Mitarbeiter der Spitex fotografiert die Wunde regelmässig und stellt die Bilder ins EPD. Der Hausarzt kann so die Wundheilung überwachen, ohne dass jedes Mal eine Konsultation nötig ist.
«EPD im Einsatz» als Film: www.patientendossier.ch/clips
Bund und Kantone sowie weitere wichtige Akteure im Gesundheitswesen sind sich einig, dass die Prioritäten im Gesundheitssystem künftig verschoben werden müssen, von der Akutversorgung zu einer patientenzentrierten, wirksamen und nachhaltigen Betreuung chronisch Kranker und Mehrfacherkrankter. «Die ganze Versorgung muss sich stärker am Nutzen der gesamten Therapiekette statt nur am Nutzen der Einzelmassnahmen orientieren», heisst es zum Beispiel in der gesundheitspolitischen Strategie des Bundesrates 2020–2030 (Gesundheit2030). Dafür braucht es andere Formen der Zusammenarbeit und eine bessere Arbeitsteilung. Die Einführung des EPD ist eine der Massnahmen, um dieses Ziel zu erreichen. Denn eine zeitgemässe koordinierte Versorgung ist mit Fax-, Brief- und Mailversand nicht zu haben. Die Fachwelt ist sich einig, dass die digitale Vernetzung eine notwendige Voraussetzung für mehr Qualität, Patientensicherheit und Effizienz ist.
Interprofessionelle Zusammenarbeit Die Erkenntnis ist heute verbreitet, dass die Berufsleute im Gesundheitswesen in Zukunft besser zusammenarbeiten müssen. Mit der Zunahme von Menschen mit chronischen Krankheiten und Mehrfacherkrankungen werden die Krankheitsbilder immer komplexer. Gleichzeitig nimmt das spezifische medizinische oder pflegerische Fachwissen zu, es wird im fragmentierten Behandlungsprozess aber ungenügend zusammengefügt. Im Interesse der Behandlungsqualität muss deshalb mehr koordiniert und kommuniziert werden – über alle Fachbereiche und Berufsgruppen hinweg. Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat deshalb in einer Charta zur Zusammenarbeit der Fachleute im Gesundheitswesen unter anderem festgehalten, dass in Zukunft die Arbeitsmodelle so auszurichten sind, «dass sie eine integrierte Betreuung fördern und unterstützen» (SAMW 2014).
Die Abläufe und Arbeitsmodelle der Patientenversorgung werden im elektronischen Zeitalter anders sein als im analogen. Mit dem adäquaten Einsatz des EPD kann eine Information einer Vielzahl von Medizinern, Pharmazeuten, Pflegenden oder Therapeuten nützlich sein. Dies muss in Zukunft beim Verfassen von Berichten oder Befunden berücksichtigt werden.
Gesundheitskompetenz der Bevölkerung Gesundheitskompetente Menschen haben die Fähigkeit, im Alltag Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf ihre Gesundheit auswirken. Dabei ist die individuelle Kompetenz angesprochen, die eigene Gesundheit zu fördern, Krankheiten vorzubeugen oder zu bewältigen. Ernährung, Bewegung, Suchtverhalten oder Entscheidungen in Behandlungssituationen sind Stichworte dazu.
Gemäss einer Studie des Bundes hat die Schweizer Bevölkerung vor allem bei der Krankheitsprävention Schwierigkeiten, Informationen zu verstehen und zu beurteilen. In einem Vergleich mit acht europäischen Ländern schloss die Schweiz diesbezüglich unterdurchschnittlich ab (GFS Bern 2015).
Das digitale Umfeld gibt der Bevölkerung neue Möglichkeiten für ein gesundheitskompetentes Verhalten. Dazu muss aber die eine oder andere zusätzliche Voraussetzung gegeben sein:
- der Zugang zu einem Computer (Desktop, Laptop, Smartphone);
- der Zugang zum Internet und sichere Umgang mit Anwendungen (Webseiten, Programme, Apps);
- ein kritischer Umgang mit Informationsquellen im Internet (Einschätzen der Vertrauenswürdigkeit).
Mit dem EPD werden die Möglichkeiten der Bevölkerung für ein gesundheitskompetentes Verhalten erweitert. So werden Patienten die Dokumente rund um ihre Gesundheit über ein Zugangsportal einsehen können. Und sie entscheiden, welchen Gesundheitsfachpersonen sie welche Unterlagen zugänglich machen wollen. Patienten, die das EPD nutzen wollen, müssen sich im digitalen Umfeld bewegen können. Wer dies nicht will oder kann, ist davon jedoch nicht ausgeschlossen. Es ist möglich, eine Stellvertretung zu bezeichnen, welche die Patientenrechte vollständig wahrnehmen kann.
vor allem ein Kulturprojekt Wenn das digitale Dossier breiter verstanden wird als eine Dokumentenablage, dann wird die digitale Vernetzung die Zusammenarbeit der Gesundheitsfachpersonen und die Rolle ihrer Patienten nachhaltig verändern und verbessern. Vor diesem Hintergrund ist die Einführung des EPD zwar auch ein komplexes Informatikvorhaben – vor allem aber ist sie ein Kulturprojekt, weil sie einen anderen Umgang mit den Gesundheitsinformationen der Patienten ermöglicht. Ein Kulturwandel braucht Zeit – vor diesem Hintergrund wird sich das EPD vermutlich nicht sehr rasch verbreiten. Hinzu kommt, dass es schrittweise weiterentwickelt und verbessert wird. Am Anfang werden vor allem Unterlagen im PDF-Format ausgetauscht, aber je schneller sich die Systeme der Gesundheitsfachpersonen modernisieren, desto rascher lassen sich auch interaktive Formate in die Plattform einbinden. Damit kann beispielsweise eine Ärztin oder ein Apotheker die Übersicht der aktuellen Medikation direkt im EPD anpassen.
Je mehr Menschen ein EPD eröffnen und ihre Behandelnden auffordern, die wichtigsten Unterlagen im Dossier abzulegen, desto grösser ist der Nutzen des EPD. Insbesondere bei den frei praktizierenden Ärzten ist die Haltung gegenüber dem EPD jedoch ambivalent. Einerseits sehen sie den Nutzen, wenn wichtige Informationen rasch verfügbar sind. Andererseits befürchten sie einen Mehraufwand durch das Suchen und Ablegen der relevanten Dokumente. Dass möglichst viele Patienten und Gesundheitsfachpersonen mitmachen, ist aber ein wichtiger Erfolgsfaktor für das EPD. Ziel müsste es sein, dass alle Fachleute, die einen Patienten oder eine Patientin betreuen, jederzeit Zugriff auf die gleichen Informationen haben. Damit fliessen die Informationen in einer Behandlung besser und effizienter. Zwar diskutiert das Parlament bereits über ein Obligatorium für alle Gesundheitsfachpersonen. Doch auch ohne gesetzlichen Zwang planen gut 46 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in der Grundversorgung einen Anschluss ans EPD. Interessiert sind vor allem jüngere Ärzte, die in Gruppenpraxen arbeiten. Sie dokumentieren im Vergleich zu ihren älteren Kollegen bereits heute die Krankengeschichte grösstenteils elektronisch. Die Einführung des EPD könnte im Gesundheitswesen damit auch den Digitalisierungsschub bewirken, den es für eine zeitgemässe Gesundheitsversorgung dringend braucht.
- Literatur
- EPD – elektronisches Patientendossier (Website): www.patientendossier.ch (letzter Zugriff 26. Februar 2021).
- ehealthsuisse – Kompetenz- und Koordinationsstelle von Bund und Kantonen (Website): www.e-health-suisse.ch (letzter Zugriff 26. Februar 2021).
- Aargauer Zeitung, 10.11.2020.
- GFS Bern (2020): Swiss eHealth-Barometer 2020: Bericht zur Befragung der Gesundheitsfachpersonen; Bericht zur Bevölkerungsbefragung; [Bern: GFS Bern]: www.gfsbern.ch > Publikationen > 5.3.2020. Bundesrat (2019; Gesundheit2030): Die gesundheitspolitische Strategie des Bundesrates 2020–2030; [Bern: BAG]: www.bag.admin.ch > Strategie & Politik > Nationale Gesundheitsstrategien > eHealth > Links > InfoSocietyDays > Swiss eHealth Barometer Studienergebnisse 2020 > PDF.
- Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren GDK (GDK 2019): Impulse für die Integrierte Versorgung in den Kantonen – ein Leitfaden; [Bern: GDK]: www.gdk-cds.ch > Gesundheitsversorgung > Integrierte Versorgung > Dokumente > PDF.
- GFS Bern (2015): Bevölkerungsbefragung Erhebung Gesundheitskompetenz 2015; [Bern: GFS Bern]: www.bag.admin.ch > Strategie & Politik > Nationale Gesundheitspolitik > Gesundheitskompetenz > Dokumente > PDF.
- SR 816.1 Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier vom 19. Juni 2015 (EPDG): www.admin.ch > Bundesrecht > Systematische Rechtssammlung.
- SAMW (2014): Charta – Zusammenarbeit der Fachleute im Gesundheitswesen (2020 überarbeitet); [Basel: SAMW]: www.samw.ch > Publikationen > Empfehlungen > PDF.