Auf einen Blick
- Eine Studie hat Unterstützungsmassnahmen für das Wohnen zu Hause in drei europäischen Ländern untersucht und daraus Empfehlungen für die Optimierung des Massnahmenangebots in der Schweiz abgeleitet.
- Mehrere Regionen haben innovative Lösungen entwickelt – die Dezentralisierung birgt jedoch Herausforderungen.
- Eine Subjektfinanzierung mit persönlichen Budgets (flämisches/niederländisches Modell) wäre auch für die Schweiz denkbar.
Für viele Menschen mit Behinderungen ist es ein wichtiges Anliegen – mit einer passenden Unterstützung – im eigenen Zuhause leben zu können. Auch das internationale und das schweizerische Recht bewegen sich in diese Richtung. So verpflichtet Artikel 19 des UNO-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) die Vertragsstaaten, wirksame und geeignete Massnahmen zu ergreifen, damit Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen. Dabei muss der Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen gewährleistet sein, um ein Leben in der Gemeinschaft führen zu können. Die grösste Herausforderung stellt derzeit die Ausgestaltung der Unterstützungsleistungen für das Wohnen zu Hause dar.
In der Schweiz sieht das Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG) verschiedene Leistungen vor, die den Versicherten eine eigenverantwortliche und selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen. Die Hilflosenentschädigung und der Assistenzbeitrag sind beispielsweise spezifisch darauf ausgerichtet, dass Menschen mit Behinderungen durch die Unterstützung Dritter ein eigenständiges Leben führen können. Weitere Leistungen werden ergänzend durch Akteure auf Bundes-, Kantons- oder Gemeindeebene und durch private Träger erbracht.
Eine Studie im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) liefert einen Überblick über die Unterstützungspolitik für das Wohnen zu Hause in mit der Schweiz vergleichbaren Ländern (Veyre et al. 2023). Dabei wurde nach guten Praktiken gesucht, die sich für die Invalidenversicherung (IV) und die Kantone eignen. Ausgangsbasis für die Vergleichsanalyse waren rund 200 Dokumente und 24 Interviews mit Fachleuten des Behindertenwesens, privaten Verbänden sowie Vertreterinnen und Vertretern der öffentlichen Hand.
In einem ersten Arbeitsschritt wurden die in Belgien (Flandern), in den Niederlanden und in Schweden umgesetzten Unterstützungsmodelle für das Wohnen zu Hause verglichen. Diese Länder wurden unter anderem wegen eines dezentralen Systems, eines sozialstaatlichen Modells, des Beitritts zur BRK und der Unterstützungsstrategie für das Wohnen zu Hause gewählt. Der zweite Analyseteil fokussierte auf die Schweiz sowie auf die Massnahmen auf Bundesebene und die in den Kantonen Bern, St. Gallen, Wallis und Waadt umgesetzten Modelle. Diese Kantone verfügen über innovative Pilotprojekte und/oder einen klaren Rechtsrahmen für die Unterstützung des Wohnens zu Hause. Mit der Wahl dieser Kantone wurde zudem die sprachliche Repräsentativität gewährleistet. In einem dritten Arbeitsschritt wurden schliesslich gemeinsam mit zwei Fokusgruppen, in denen wichtige Akteure des schweizerischen Behindertenwesens vertreten waren, Empfehlungen formuliert.
In den meisten untersuchten Ländern überwiegen die institutionellen Wohnformen. Die Ausnahme bildet Schweden, das bereits vor der Ratifizierung der BRK eine klare und verbindliche Deinstitutionalisierungspolitik verfolgte, indem beispielsweise grosse Einrichtungen geschlossen wurden. Menschen mit Behinderungen, die nicht zu Hause wohnen können oder wollen, finden in Schweden Angebote an vier- bis fünfköpfigen Wohngruppen. Die Gesetze stimmen dabei mit den Anforderungen von Artikel 19 BRK überein, wie die Berichte zur Umsetzung der BRK zeigen.
Demgegenüber fordert die UNO für die Schweiz, Belgien und die Niederlande in ihren jüngsten Bemerkungen eine klare Deinstitutionalisierungsstrategie. Diese müsse sich auf einen konkreten nationalen Aktionsplan stützen und Zahlen dazu liefern, wie viele Personen mit Behinderungen noch in einem Heim untergebracht sind. In allen drei Ländern beurteilen Behindertenverbände die in Bezug auf Artikel 19 getroffenen Massnahmen als unzureichend.
In der Schweiz, in der belgischen Region Flandern und in den Niederlanden wird das institutionelle Angebot durch sogenannte alternative oder inklusive Wohnangebote ergänzt. Flandern und die Niederlande zeichnen sich beide dadurch aus, dass die Entwicklung von Alternativen zum institutionellen Wohnen weitgehend auf dem (oft ehrenamtlichen) Engagement von Angehörigen und Vereinen beruht. Für die Schweiz weist der Bericht zur Umsetzung der BRK auf eine ausgeprägte Diversifizierung der Angebote für betreutes Wohnen hin, die die Selbstständigkeit fördern. Die Behindertenverbände benennen jedoch einige Hemmnisse für die Entwicklung dieser Alternativen, allen voran das Bundesgesetz über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen (IFEG). Ihrer Ansicht nach sind die Kantone verpflichtet, jeder Person unabhängig von ihren finanziellen Mitteln einen Platz in einer Institution zu gewährleisten. Bei einem Heimaufenthalt sei die Kostendeckung somit gewährleistet. Dies sei aber nicht der Fall, wenn sich die Person für eine Privatwohnung entscheide.
In allen vier Ländern wird auf einen Mangel an barrierefreien, erschwinglichen Wohnungen hingewiesen. In Belgien zeigte eine bei Menschen mit Behinderungen durchgeführte Erhebung, dass diese auf dem Wohnungsmarkt häufig diskriminiert werden.
Schwierige Koordination
Schweden und die Niederlande sind dezentralisierte Einheitsstaaten. In beiden Ländern ist die Zentralregierung für die Ausrichtung der Behindertenpolitik zuständig, und nationale Rahmengesetze regeln die Unterstützung des Wohnens zu Hause. Für die Umsetzung der Unterstützungsmassnahmen sind jedoch zahlreiche kommunale Akteure verantwortlich. Diese Aufgabenverteilung führt zu Problemen bei der Umsetzung des Leistungsanspruchs.
In den föderalistischen Staaten Belgien und der Schweiz wiederum legen regionale beziehungsweise kantonale Instanzen die Strategie zur Unterstützung beim Wohnen zu Hause autonom fest. In beiden Ländern existieren vielfältige Modelle sowohl für die direkte Finanzierung von allgemeinen Diensten als auch für die Entwicklung von ambulanten Leistungen, die an Möglichkeiten der Subjektfinanzierung gekoppelt sind.
In der Schweiz gibt es kantonale Unterschiede beim Wohnangebot und bei den Finanzierungsarten. Um den Anforderungen der BRK zu entsprechen, setzen die Kantone beispielsweise auf unterschiedliche Strategien wie Gesetzesrevisionen oder Pilotprojekte, in denen sie neue Finanzierungsmodelle testen.
Persönliches Budget
Sowohl die Region Flandern als auch die Niederlande haben das Leistungsmodell des persönlichen Budgets entwickelt. Damit kann eine Person mit Behinderungen Dienstleistungen von verschiedenen Leistungserbringenden wählen, die zu Hause oder stationär erbracht werden. In beiden Ländern richtet sich die Leistung an ein breites Publikum, wobei nicht nach Art der Behinderung unterschieden wird.
In Flandern wird anhand eines individuellen Unterstützungsplans ermittelt, ob ein persönliches Budget gewährt werden kann und wie hoch dieses ausfällt. Anspruchsberechtigte Personen können dabei entscheiden, ob sie das Budget als Geldleistung oder als Gutschein beziehen möchten. Mit dem Gutscheinsystem kann ein Teil des Verwaltungsaufwands an eine staatliche Agentur übertragen werden.
In den Niederlanden haben Personen mit Unterstützungsbedarf im pflegerischen oder sozialen Bereich – unabhängig vom Alter und von der Art der Behinderung – Anspruch auf das persönliche Budget. Sowohl in den Niederlanden als auch in Flandern stösst die Leistung auf ein positives Echo. In Flandern sehen einige Fachpersonen positive Auswirkungen auf das institutionelle Angebot, das sich erweitert und entwickelt.
Allerdings stellt die dauerhafte und nachhaltige Finanzierung in beiden Ländern eine grosse Herausforderung dar. In Flandern reichen die staatlichen Mittel nicht aus, um auf alle Gesuche einzutreten, was zu langen Wartelisten führt. In den Niederlanden macht ein Teil der Anspruchsberechtigten die Leistung nicht geltend, weil sie befürchten, dass das persönliche Budget nicht ausreicht, um qualifizierten Anbietern einen attraktiven Lohn zu zahlen.
Persönliche Assistenzleistungen
Sowohl in der Schweiz als auch in Schweden gibt es individuelle Assistenzleistungen, die auf einem Arbeitgebermodell beruhen und es ermöglichen, zu Hause Assistenzpersonen anzustellen. Die Selbstbestimmung steht im Vordergrund dieser Leistung: Eine Person mit Behinderungen entscheidet selbst, wie die Hilfe organisiert und im Alltag geleistet wird. In Flandern und in den Niederlanden präsentiert sich die Lage für Menschen mit einem persönlichen Budget ähnlich: Auch sie können mit den erhaltenen Beiträgen persönliche Assistenzleistungen erhalten.
Aus einer Evaluation des Assistenzbeitrags in der Schweiz geht hervor, dass die meisten Bezügerinnen und Bezüger mit der Leistung zufrieden oder sehr zufrieden sind. Als Hauptgründe für die positive Einschätzung werden die Verbesserung der Lebensqualität und der Eigenständigkeit sowie die Entlastung der Angehörigen genannt.
Kritisiert werden in den analysierten Ländern vor allem vier Punkte. Die erste Kritik betrifft den Verwaltungsaufwand: Die Unterstützung selbst organisieren zu müssen, ist mit einem grossen administrativen Aufwand verbunden, was einige Betroffene überfordert. Zweitens wird die Höhe der Leistung als unzureichend erachtet. Die dritte Kritik bezieht sich auf den unklaren Rahmen in Bezug auf den Beruf der Assistenzperson. Und viertens wird darauf hingewiesen, dass die Qualität der erbrachten Leistungen nicht genügend kontrolliert wird.
Unterstützung durch Angehörige
Um zu Hause wohnen zu können, braucht es die Unterstützung von pflegenden Angehörigen und/oder von Fachverbänden. Diese Hilfe ist äusserst wichtig – ja sogar unentbehrlich. Pflegende Angehörige erbringen Unterstützungsleistungen in ganz unterschiedlicher Form: Sie beraten die Betroffenen, helfen ihnen bei der Verwaltung des persönlichen Budgets, begleiten sie bei der Bewältigung von alltäglichen Aufgaben oder organisieren die Unterstützung. In allen vier Ländern ist es möglich, Angehörige als persönliche Assistenzpersonen zu entschädigen. Diese Lösung geht in Richtung Selbstbestimmung, wie von der Politik gewünscht. Damit werden insbesondere die Bedürfnisse von Personen berücksichtigt, die externe Personen nur sehr schwer als Hilfeleistende akzeptieren würden.
In der Schweiz können Angehörige nicht über den Assistenzbeitrag entlöhnt werden. Dieser Punkt stellt jedoch ein politisches Anliegen dar (vgl. parlamentarische Initiative Lohr). Zudem wollen einige Kantone ihre Gesetzgebung anpassen, um die Entlöhnung von Angehörigen zu ermöglichen.
Aktionsplan für die Schweiz
Gestützt auf die Ergebnisse ihrer Studie empfehlen die Autorinnen insbesondere dem Bund, in Zusammenarbeit mit den Kantonen die Leitlinien für einen Aktionsplan zur Unterstützung beim Wohnen zu Hause zu erarbeiten. Zudem sollten die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten auf den verschiedenen Ebenen geklärt werden, um die Verantwortung für die Umsetzung der Unterstützung beim Wohnen zu Hause auf einer einzigen institutionellen Ebene anzusiedeln. Des Weiteren empfehlen sie, auf bundesrechtlicher Ebene Kriterien für die Finanzierung der Unterstützung beim Wohnen zu Hause aufzunehmen.
Weiter empfiehlt die Studie, ein Modell für eine Subjektfinanzierung in Form eines persönlichen Budgets zu entwicklen. Damit das Wohnen zu Hause effektiv eine Wahlmöglichkeit darstellt, müssen die Beiträge ausreichend sein. In den Kantonen St. Gallen und Bern befinden sich derzeit Entwürfe zur gesetzlichen Verankerung der Subjektfinanzierung in der Vernehmlassung oder Revision. Im Rahmen der Revision des kantonalen Gesetzes über die Rechte und die Inklusion von Menschen mit Behinderungen (GRIMB) fördert auch der Kanton Wallis die Entwicklung dieser Finanzierungsart.
Zudem empfiehlt die Studie, die von Organisationen angebotenen Unterstützungsleistungen auszubauen. Diese Leistungen sind für die Ermöglichung eines Lebens zu Hause unerlässlich. Dasselbe gilt für pflegende Angehörige.
Die Studie fordert die Kantone und die Gemeinden auf, Massnahmen zu ergreifen, um den Zugang zu barrierefreien, erschwinglichen Wohnungen zu fördern. Und schliesslich empfehlen die Autorinnen den zuständigen Stellen, Menschen mit Behinderungen bei der Erarbeitung von Leistungen miteinzubeziehen und ihre Zufriedenheit kontinuierlich zu evaluieren.
Literaturverzeichnis
Veyre, Aline; Lequet, Marie; Pestoni, Amélie; Kühr, Judith (2023). Unterstützung des Wohnens zu Hause: Vergleich internationaler Modelle. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Studie im Auftrag des BSV. Forschungsbericht Nr. 10/22.