«Buebetrickli» der Haftpflichtversicherungen bei Autounfall

Haftpflichtversicherungen profitieren bei Selbstunfällen mit Fahrzeugen vom Unwissen der Versicherten. Dies zeigt das Beispiel eines Autounfalls im Kanton Graubünden.
Thomas Bittel
  |  23. Februar 2023
    Recht und Politik
  • Invalidenversicherung
  • Unfallversicherung
Wer nach einem Selbstunfall haftet, ist oft nicht auf den ersten Blick ersichtlich. (Alamy)

Auf einen Blick

  • Bei Selbstunfällen mit Fahrzeugen ist für die Haftpflichtversicherung entscheidend, ob der Halter den Wagen gelenkt hat.
  • Materiell als Halter gilt, wer für die Betriebstauglichkeit des Fahrzeugs verantwortlich ist.
  • Unter Umständen hat auch die verunfallte Konkubinatspartnerin als Lenkerin Anspruch auf Geld der Haftpflichtversicherung.

Ein Autounfall im Unterengadin hat den IV-Regressdienst St. Gallen und den Bereich Regress des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) lange beschäftigt: Über 13 Jahre nach dem Unfallereignis im Jahre 2009, nach über 72 Monaten Verfahrensdauer, nach zurückgelegten 2846 Zugkilometern, fünf Zeugenbefragungen in Scuol, in Landquart und in St. Gallen, nach einer Gerichtshauptverhandlung im Engadin, einem Urteil der ersten und dann der zweiten zivilen Instanz des Kantons Graubünden, wurde der Fall unter den Parteien im Jahr 2022 endlich erledigungsreif – die Invalidenversicherung (IV) einigte sich mit der Haftpflichtversicherung parallel zum anhängig gemachten Gerichtsprozess vergleichsweise und generiert dadurch einen Nettoertrag von über einer halben Million Franken.

Haben Sie auch schon mit einem Auto einen Selbstunfall verursacht und dabei einen Personenschaden erlitten? Wir hoffen es natürlich nicht. Falls ja: Wussten Sie um Haftpflichtansprüche, die Ihnen bei Personenschadenfolgen zustehen? Nein? Damit dürften Sie sich in bester Gesellschaft mit einer qualifizierten Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern der Schweiz befinden.

Auch unserer Versicherten erging es nicht anders, als sie am 17. Februar 2009 mit dem Fiat Panda ihres Lebenspartners schwer verunglückte. Auf dem Weg zur Verabschiedung ihres Vorgesetzten kam die damals 42 Jahre alte Mutter dreier Kinder von der Strasse ab. Bei schlechter Witterung und vereister Strasse war ihr Fahrzeug auf der Strecke zwischen Sent und Scuol im Kanton Graubünden ins Schleudern geraten. Der von ihr gelenkte Fiat Panda prallte zuerst mit seiner rechten Seite in einen Baum und stürzte dann 40 Meter einen Abhang hinunter. Er überschlug sich dabei mehrfach, bis er schliesslich auf seinen Rädern zum Stillstand kam. Die angegurtete Lenkerin war nicht mehr ansprechbar und musste von Dritten aus ihrem «4×4» geborgen werden. Die Betreuung hielt an, bis die Ambulanz eintraf und sie zur Erstversorgung des schweren Schädel–Hirn-Traumas ins Spital überführen konnte.

Die Erinnerung der schwer verletzten Mutter setzte erst zehn Tage nach dem Ereignis wieder ein. An den Unfall vermag sie sich bis heute nicht zu erinnern. Sie sah sich gezwungen, in mühevoller Weise und unter grössten Anstrengungen alles neu zu erlernen. Die Einordnung der in der Vergangenheit liegenden, zeitlichen Dimensionen ist verblichen, und sie hat sich Tricks aneignen müssen, um die vergangenen Jahre und Ereignisse überhaupt einordnen zu können. Von den Unfallfolgen erholte sie sich nur langsam und mässig. Es verblieb im erwerblichen Bereich eine Arbeitskapazität von nur noch 30 Prozent. Diese setzt sie seither in einem angepassten, Struktur gebenden Kleinstpensum ein. Die obligatorische Unfallversicherung sprach Rentenleistungen zu, und auch die IV zog nach und leistet der Frau bei einem IV-Grad von 70 Prozent rückwirkend ab 2010 eine ganze IV-Rente.

Geschädigte irrt sich

Gegen die Haftpflichtversicherung des Fiat Panda hat die Versicherte keine Ansprüche geltend gemacht. Weshalb denn auch, sie war es ja, die den Unfall selber verursacht und die Herrschaft über das Fahrzeug verloren hatte. Und weshalb hätte sie denn eine teure Rechtsvertretung mandatieren sollen, wenn es ohnehin nichts zu holen gab? Just in dieser Einschätzung aber lag die Geschädigte falsch. Die AHV und die IV haben ihre Leistungen letztlich erfolgreich geltend machen können und den grössten Anteil auf dem Regressweg zurückerhalten.

Auch die Geschädigte hätte gegenüber der Haftpflichtversicherung Schadenersatzansprüche gehabt. Aber weshalb wäre dem so gewesen? So viel vorweg: Eine wesentliche Rolle spielt, wer für die Betriebstauglichkeit des Fahrzeuges verantwortlich ist.

Gegenüber der obligatorischen Motorfahrzeughaftpflichtversicherung können geschädigte Personen immer dann Ansprüche geltend machen, wenn sie selber nicht Halter des Fahrzeugs sind. Sind sie Halter, dann haben sie nur dann einen reduzierten Haftpflichtanspruch gegenüber der eigenen Haftpflichtversicherung, wenn eine andere, den Personenwagen lenkende Person ein Verschulden zu vertreten hat. Dieser Haftpflichtanspruch gilt auch dann, wenn ein Konkubinatspartner den Wagen lenkt, der formell im Fahrzeugausweis als «Halter» eingetragen ist – entscheidend ist, dass er nicht materiell als Halter betrachtet wird.

Weil die Geschädigte aber nicht um diese Möglichkeit wusste, hat sie gegenüber der Haftpflichtversicherung des Fahrzeuges auch nichts geltend gemacht. Dass die Haftpflichtversicherung nicht von sich aus auf die Geschädigte zugegangen ist, versteht sich von selber, zumal im vorliegenden Falle doch ein Gesamtschaden in der Grössenordnung von gut und gerne zwei bis drei Millionen auf dem Spiel stand.

«Mithalterschaft» als Vorwand

Auch der IV, die um die schweizerische Rechtslage weiss, zeigte die Haftpflichtversicherung über Jahre hinweg die kalte Schulter. Sie bestritt die Haftung und damit, von allem Anfang an, sämtliche Regressansprüche. Zu diesem Zwecke bediente sie sich eines in der Haftpflichtszene bestens bekannten «Buebetricklis»: Ohne Beweise dafür vorzulegen, brachte die Haftpflichtversicherung die von ihr behauptete «Mithalterschaft» der geschädigten Lenkerin ins Spiel. Sie führte in diesem Zusammenhange aus, dass nicht etwa der im Fahrzeugausweis formell eingetragene Lebenspartner, sondern die Lenkerin selber die materielle Halterin des im Februar 2009 in einem Totalschaden endenden Fiat Panda gewesen war. Die Lenkerin selber sei es gewesen, die nach Meinung der Haftpflichtversicherung über die Verwendung des Fahrzeuges habe bestimmen dürfen. Überdies sei das Fahrzeug wiederholt von ihr für den Arbeitsweg benutzt worden, weil dafür an deren Wohnort kaum öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung gestanden hätten. Für die sich aus der Betriebsgefahr des Fahrzeuges ergebenden Schadenfolgen habe demnach nicht die Halterhaftpflichtversicherung einzustehen.

Nur: Bei der Beurteilung einer Haftung nach Strassenverkehrsgesetz zählt in der Schweiz wie erwähnt nicht etwa diejenige Person als materielle Halterin des Unfallfahrzeuges, die im Fahrzeugausweis formell als solche eingetragen ist. Entscheidend für die Bestimmung der materiellen Haltereigenschaften ist vielmehr, wer die Verantwortlichkeit für die Betriebstauglichkeit des Fahrzeuges hat und wer im Wesentlichen darüber bestimmt, wer das Fahrzeug zu welchen Zeitpunkten verwenden darf. Da den selber lenkenden Haltern bei einem Unfall jeglicher Anspruch gegen die Halterhaftpflichtversicherung für den selber erlittenen Personenschaden versagt bleibt, haben die Haftpflichtversicherungen ganz offensichtlich ein naheliegendes Interesse daran, möglichst viele mithaltende Personen zu erschaffen.

Gerade im Anschluss an Selbstunfälle, an Schadenfälle innerhalb von Lebensgemeinschaften und im innerfamiliären Kontext mit Personenschadenfolgen trifft man solche Spielereien nicht selten an. Immer wieder stellen Haftpflichtversicherungen eine angebliche Mithalterschaft unbelegt in den Raum, um damit einer Haftung und den daraus abgeleiteten Schadenersatzfolgen zumindest auf einer initial argumentativen Ebene zu entgehen.

Leider verjährt

Die Zeugenbefragungen des Konkubinatspaares haben das von der IV skizzierte, eindeutige Bild bestätigt: Die verunglückte Lenkerin hatte erst auf Aufforderung ihres Lebenspartners ein paar wenige Jahre vor dem Unfall Auto fahren gelernt. Sie war weder im Privaten auf den Fiat Panda angewiesen, noch hat sie ihn für ihren Arbeitsweg gebraucht. Sie ist eine umweltbewusste Persönlichkeit, die für den Arbeitsweg stets und regelmässig den ÖV benützt. Und wenn sie im Rahmen eines Einsatzes, den sie für die sozialen Dienste der Gemeinde in ihrem Kleinstpensum leistet, tatsächlich einmal auf ein Fahrzeug angewiesen ist, dann fährt sie mit dem Postauto zur nächsten Mobility-Stelle, wo sie sich ein Auto für diesen Einsatz mietet.

Demgegenüber bestimmte und bestimmt ihr Lebenspartner weiterhin über die Verwendung des von ihm aus Bequemlichkeit mehrfach wöchentlich und rein privat verwendeten Fahrzeugs. Fazit: Weil eine wie auch immer begründete Mithalterschaft der 2009 verunfallten Lenkerin ausser Betracht fällt, wären ihr zweifelsohne Schadenersatzansprüche gegenüber der Halterhaftpflichtversicherung zugestanden. Zufolge längst eingetretener Verjährung lässt sich für sie aus dem seitens der AHV und IV vergleichsweise erzielten Erfolg des Jahres 2022 leider nichts mehr ableiten.

Bei einem Selbstunfall mit Personenschadenfolgen tut man folglich gut daran, unmittelbar im Anschluss an das Schadenereignis fachkundigen Rat beizuziehen. Diesen holt man sich am besten bei auf Haftpflicht- und Versicherungsrecht spezialisierten Fachanwältinnen und Fachanwälten.

Literaturverzeichnis

Regionalgericht Engiadina Bassa/Val Müstair, Urteil Nr. 115-2017-18 vom 1. Oktober 2020. Kantonsgericht von Graubünden, Urteil ZK2 21 36 vom 13. Juni 2022.

Fürsprecher, Regress AHV/IV, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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