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Die finanziellen Perspektiven der IV haben sich eingetrübt

In den nächsten fünf Jahren drohen der Invalidenversicherung hohe Umlagedefizite. Die mittelfristige finanzielle Stabilität der IV ist gefährdet.
Tobias Lehmann
  |  20. August 2025
    Forschung und Statistik
  • Invalidenversicherung
In den kommenden Jahren werden die Ausgaben der Invalidenversicherung die Einnahmen voraussichtlich übersteigen. (Shutterstock)

Auf einen Blick

  • Das Bundesamt für Sozialversicherungen bildet die finanzielle Entwicklung der Invalidenversicherung anhand von drei Szenarien ab.
  • In den nächsten Jahren steigen die Ausgaben voraussichtlich stärker als die Einnahmen – insbesondere wegen anhaltend hoher Neurentenzugänge.
  • Ohne Gegenmassnahmen drohen der IV ab 2025 jährlich Umlagedefizite in dreistelliger Millionenhöhe.

Im Jahr 2024 war das Umlageergebnis der Invalidenversicherung ausgeglichen: Einnahmen von 10,4 Milliarden Franken standen Ausgaben von 10,4 Milliarden Franken gegenüber. Gemäss den neusten Finanzperspektiven des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) von August 2025 droht dieses Gleichgewicht aus dem Lot zu geraten (BSV 2025).

Etwa 70 Prozent der IV-Ausgaben entfallen auf Renten und andere Geldleistungen, rund 20 Prozent auf medizinische Massnahmen sowie Massnahmen zur beruflichen Eingliederung und etwa 10 Prozent auf sonstige Aufwendungen. Angesichts dieser Ausgabenstruktur hängen die Gesamtausgaben der IV in besonderem Mass von der künftigen Zahl der Rentenbeziehenden ab.

Zentral ist hierbei die Entwicklung der Neurentenzugänge, also der Personen, die neu Anspruch auf eine IV-Rente erhalten. Vor dem Hintergrund der in den vergangenen zwei Jahrzehnten verstärkten Ausrichtung der IV auf die Eingliederung gewinnt auch die Kostenentwicklung bei den Eingliederungsmassnahmen an Bedeutung.

Die Einnahmen der IV stammen zu rund 60 Prozent aus Lohnbeiträgen und zu etwa 40 Prozent aus dem Bundesbeitrag. Letzterer ist an die Entwicklung der Mehrwertsteuer nicht an die Ausgaben der IV gekoppelt. Die künftige Einnahmenentwicklung hängt folglich stark von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ab – insbesondere vom Wachstum der Erwerbsbevölkerung und der Löhne.

G1: Ausgaben und Einnahmen der IV (2024)

Im Jahr 2024 standen sich Ausgaben von 10,4 Milliarden Franken (linke Seite) und Einnahmen von 10,4 Milliarden Franken (rechte Seite) gegenüber. Das Umlageergebnis betrug – 19 Millionen Franken. Quelle BSV.

Ausgaben hängen von Neurenten ab

Zur Projektion der zukünftigen Ausgaben der IV greift das BSV einerseits auf die in der jüngeren Vergangenheit beobachteten Entwicklungen der einzelnen Ausgabepositionen zurück. Andererseits stützt es sich auf die in den Bevölkerungsszenarien des BFS (BFS 2025) projizierte Entwicklung der Versichertenpopulation (Wohnbevölkerung und Grenzgänger).

Bei den Renten, der bedeutendsten Ausgabenposition der IV, liefert die jüngst beobachtete Anzahl an Neurentenzugängen einen Anhaltspunkt für die künftige Entwicklung. Auf Basis von Vergangenheitsdaten wird eine Neurentenquote berechnet – definiert als Verhältnis zwischen der Anzahl Neurenten und der Versichertenpopulation. Durch Kombination dieser Quote mit den Bevölkerungsszenarien des BFS lässt sich abschätzen, wie viele Neurenten in den kommenden Jahren zu erwarten sind.

Im Jahr 2023 war ein deutlicher Anstieg der Neurenten zu verzeichnen, der sich auch 2024 fortgesetzt hat. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass die Zahl der Neurenten weiterhin auf einem erhöhten Niveau verbleiben wird. Besonders auffällig ist der Anstieg bei Personen unter 30 Jahren. Damit ist nicht nur mit mehr Neurentenzugängen zu rechnen, sondern auch mit einer längeren durchschnittlichen Bezugsdauer.

Diese Entwicklung, in Kombination mit dem in den BFS-Szenarien projizierten Wachstum der Versichertenpopulation, führt zu einem markanten Anstieg der erwarteten Rentenausgaben. Die gleichen Mechanismen – das heisst ein demografisch bedingter Anstieg der Anspruchsberechtigten sowie eine intensivere Inanspruchnahme von Leistungen – wirken sich auch auf andere Leistungsbereiche der IV aus, wie etwa Hilflosenentschädigungen oder berufliche Eingliederungsmassnahmen. Insgesamt resultiert daraus ein deutlicher Anstieg der projizierten Gesamtausgaben der IV.

Einnahmen: Lohnbeiträge entscheidend

Zur Projektion der zukünftigen Einnahmen der IV aus Lohnbeiträgen stützen wir uns einerseits auf die vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO 2025) und der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV 2025) erstellten Prognosen zur Lohnentwicklung und andererseits auf die in den Bevölkerungsszenarien des BFS projizierte Entwicklung der Erwerbsbevölkerung.

Im Frühjahr 2025 hat das BFS seine Bevölkerungsszenarien aktualisiert und dabei die Erwartungen zum künftigen Wachstum der Erwerbsbevölkerung im Inland nach oben korrigiert. Es wird nun davon ausgegangen, dass in Zukunft mehr Personen in der Schweiz erwerbstätig sein werden, als bisher angenommen – was sich positiv auf die projizierten Einnahmen aus Lohnbeiträgen auswirkt. Gleichzeitig führen pessimistischere Wirtschaftsprognosen zu tieferem Lohnwachstum, was die Beitragseinnahmen dämpft. In der Gesamtbetrachtung überwiegt jedoch der positive Effekt des stärkeren Erwerbsbevölkerungswachstums leicht, sodass in den Finanzperspektiven der IV mittelfristig von höheren Einnahmen aus Lohnbeiträgen ausgegangen wird.

Die künftige Entwicklung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer – welche für die Berechnung des Bundesbeitrags an die IV relevant sind – wird von ähnlichen wirtschaftlichen Faktoren beeinflusst. Auch hier ergibt sich unter dem Strich ein leichter Anstieg der projizierten Einnahmen.

Perspektiven anhand von Szenarien

Die vorangehende Analyse der Einnahmen- und Ausgabenentwicklung basiert auf dem Referenzszenario. Auch wenn dieses als die plausibelste Entwicklung eingeschätzt wird, bestehen erhebliche Unsicherheiten – allein schon aufgrund der Vielzahl externer Annahmen, etwa zur demografischen Entwicklung. Hinzu kommen modellinterne Unsicherheiten: So könnte beispielsweise die Neurentenquote, welche auf Basis der jüngsten Vergangenheit geschätzt wurde, künftig steigen oder sinken.

Um diesen Unsicherheiten Rechnung zu tragen, werden die Finanzperspektiven seit 2021 in drei Szenarien (BSV 2025) veröffentlicht. In Bezug auf das Umlageergebnis lässt sich sagen: In den kommenden fünf Jahren ist gemäss dem Referenzszenario mit Defiziten in dreistelliger Millionenhöhe zu rechnen (siehe Grafik 2). Es ist davon auszugehen, dass die Umlageergebnisse – ohne Gegenmassnahmen – über längere Zeit negativ bleiben werden.

Infolgedessen dürfte der Bestand an flüssigen Mitteln und Anlagen mit grosser Wahrscheinlichkeit kontinuierlich abnehmen (siehe Grafik 3). Im tiefen Szenario wäre das Vermögen der IV, ohne Berücksichtigung der Schulden von 10,3 Milliarden Franken bei der AHV, bereits im Jahr 2031 vollständig aufgebraucht.

Dr. rer. pol., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Bereich Mathematik, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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